von Annette Schuhmann

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1. März 2011

 

 

Im Frühsommer des Jahres 1991 begannen die jugoslawischen Kriege.

Die Folgen sind in den mittlerweile existierenden sieben Staaten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien in allen gesellschaftlichen Bereichen spürbar.[1]
Die Gründe für die exzessive Gewalt während der Kriege, das Ausmaß und die Formen der Gräueltaten wurden in der Tagespresse der 1990er Jahre kaum analysiert. Hilflos und paralysiert zunächst, später verfangen im weltpolitischen Kompromisshandeln standen die westeuropäischen Eliten dem Krieg gegenüber. Zeithistorische Analysen des Geschehens gab es indessen von Seiten der Osteuropa-Historiker und Historikerinnen recht früh. Erinnert sei hier nur an die Arbeiten von Holm Sundhaussen oder Marie-Janine Calic.[2]
In ihren Publikationen zu den Ursachen und Konfliktstrukturen des Jugoslawien-Krieges hat Marie-Janine Calic betont, dass die „ethnischen Säuberungen“ im Verlauf des Bosnien-Krieges im Kontext der Geschichte Jugoslawiens seit dem 19. Jahrhundert erklärbar sind.[3] Der Staat Jugoslawien ging im 19. Jahrhundert aus einer Vielzahl rechtlich, kulturell und sozialökonomisch extrem disparater Regionen hervor. Die Gebiete, die den ersten jugoslawischen Staat bildeten, unterschieden sich jedoch nicht nur hinsichtlich ihrer politischen, wirtschaftlichen und verwaltungsstrukturellen Verfassung – unklar war auch von Anbeginn, nach welchem Proporz die Völker des neuen Staatengebildes sich die Macht untereinander teilen sollten. Mit der Einführung einer zentralistischen Verfassung 1921 sicherten sich die serbischen Eliten eine Vorrangstellung innerhalb des Staates. Dies ermöglichte ihnen, so Holm Sundhaussen, eine „Dauermajorisierung“ der anderen Nationalitäten.[4] Die zentralisierte politische Struktur des Landes sollte Streitpunkt bleiben bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Erst der sich verschärfende Druck regionaler und nationaler Unabhängigkeitsbewegungen der Völker Jugoslawiens führte dazu, dass Partei und Staat eine Föderalisierung zuließen. In der Folge entwickelten sich regionale Machtzentren, die die Voraussetzung dafür boten, dass sich die Republiken wirtschaftlich und politisch immer weiter auseinanderentwickelten und schließlich 1989/90 den Staatsverband sprengten.
Alle Völker Jugoslawiens machten im Verlauf ihrer Geschichte in je unterschiedlicher Weise und Abfolge Erfahrungen als marginalisierte, deklassierte oder unterdrückte Ethnien im königlichen Jugoslawien oder als Opfer rassistischer Verfolgung und Vernichtung nach dem Überfall der Deutschen 1941. Vor allem diese Erfahrungen wurden in Vorbereitung und im Verlauf des Jugoslawien-Krieges zu Feindbildern ausgebaut, propagandistisch verstärkt und ausgenutzt. Diese Feindbilder waren schließlich Überzeichnungen von lang gepflegten Stereotypen. Die Vorstellung von der kulturellen und moralischen Überlegenheit des eigenen Volkes war unter allen drei Kriegsparteien verbreitet: So propagierten etwa die Serben den Mythos vom „auserwählten Volk“, suggerierte die von Alija Izetbegovic verfasste „Islamische Deklaration“ die Überlegenheit der islamischen Kultur gegenüber säkularen Ordnungsprinzipien, während die Kroaten sich selbst als die eigentlichen Repräsentanten mitteleuropäischer Kultur und Zivilisation stilisierten.[5] Zum Überlegenheitsgestus kam die Erzählung von Benachteiligung, Unterdrückung und Genozidbedrohung der einzelnen Gruppen hinzu – am stärksten verbreitet jedoch von den Serben.
Radovan Karadžic übertrug während seiner Amtszeit als Präsident der Republik Srpska das Feindbild der Osmanen auf die muslimischen Bosniaken und war neben Slobodan Miloševic einer der schärfsten Kriegstreiber der 1990er Jahre. Im Verlauf des Bosnien-Krieges wurden zwei Millionen Menschen vertrieben und ca. 250.000 getötet.

 

[1] Holm Sundhaussen, Der Zerfall Jugoslawiens und dessen Folgen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 32/2008, URL: http://www.bpb.de/publikationen/5DDGVJ.html.

[2] Marie-Janine Calic, Der Krieg in Bosnien-Hercegowina. Ursachen, Konfliktstrukturen, Internationale Lösungsversuche, Frankfurt/Main 1995; Holm Sundhaussen, Nation und Nationalstaat auf dem Balkan. Konzepte und Konsequenzen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Der Balkan. Eine europäische Krisenregion in Geschichte und Gegenwart, hg. von Jürgen Elvert, Stuttgart, 1997, S. 77-90.

[3] Marie-Janine Calic, Der erste „neue Krieg“? Staatszerfall und Radikalisierung der Gewalt im ehemaligen Jugoslawien, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 2(2005), Heft 1, S. 82ff.
http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Calic-1-2005

[4] Holm Sundhaussen, Geschichte Jugoslawiens 1918–1980, Stuttgart 1982, S. 50.

[5] Calic, 1995, S. 50ff. und 216f.