von Florian Krug

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1. Dezember 2009

Im Jugendgefängnis von Tscheljabinsk sitzen etwa 120 Kinder und Jugendliche im Alter von elf bis 16 Jahren ein. Das Spektrum der Straftaten reicht von Mundraub über Einbruch, Raub und Körperverletzung bis hin zu mehrfachem Mord. Alexandra Westmeier, die selbst aus Tscheljabinsk stammt, musste vier Jahre auf die Drehgenehmigung warten, danach konnte sie nach eigener Aussage ohne Kontrolle von Seiten des Gefängnispersonals drehen. Entstanden ist eine ergreifende 85-minütige Dokumentation, die unter anderem 2007 auf dem Internationalen Filmfestival in Locarno mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet wurde. 

„Allein in vier Wänden“ ist die Bezeichnung einer Tätowierung, die von einigen der jugendlichen, zum Teil sogar kindlichen Straftäter getragen und zu Beginn des Films stolz präsentiert wird. Andere Tätowierungen bedeuten „Erster Knastaufenthalt“, „Tränen der Mutter“ oder „Ich werde nie vor den Bullen in die Knie gehen“. Es folgt ein Zusammenschnitt von Aussagen einzelner Jungen zu den Hintergründen ihrer Verurteilung. Damit ist der Zuschauer von Anfang an mitten in der Handlung. Diese erste Begegnung mit den Protagonisten ist der einzige Teil des Films, bei dem man Gefängnis-Jargon hört. Wenn die Jugendlichen im weiteren Verlauf den Gefängnisalltag, ihre Interessen, ihre Wünsche und immer mehr Einzelheiten zu ihren Straftaten schildern, so tun sie dies mit verstörend nüchternen und klaren Worten, eben mit den Worten von „normalen“ Jugendlichen. 

Alexandra Westmeier lässt die jugendlichen Straftäter selbst sprechen. Die Kamera begleitet die Jungen in ihrem Gefängnisalltag, beim Wecken und Bettenmachen, beim Frühsport, im Unterricht, bei der Arbeit in den Werkstätten und auf dem Gelände, beim Essen und beim Sport. Regelmäßiges Essen, anständige Kleidung, geregelter Tagesablauf: In den Interviews wird die Strafanstalt immer wieder als Zufluchtsort beschrieben, an dem die Kinder vor der Welt und ihrem Leben „draußen“ geschützt sind. 

Hauptprotagonist des Films ist der 14-jährige Tolja (Anatolij), ein ruhiger, sehr reflektiert wirkender Junge, der im Alter von 13 Jahren in betrunkenem Zustand einen Mord begangen hat. Als er dies das erste Mal in einem Nebensatz erwähnt, ist es schwer, die Information mit seinem Kindergesicht in Einklang zu bringen. Aber die Interviews mit der Mutter des Opfers  und mit dem zwei Jahre älteren Mittäter lassen keine Zweifel an der Tat. Die bisweilen sehr grausamen Details hinterlassen bei allen Befragten und beim Zuschauer ein Gefühl der Hilflosigkeit. Laut Toljas Aussagen werden die Mörder auch im Gefängnis geschnitten, und er ist sich darüber im Klaren, dass er sich durch den Mord aus der zivilen Gesellschaft ausgeschlossen hat. Hier wird mit aller Dringlichkeit die Frage aufgeworfen, wie und ob ein solcher junger Mensch überhaupt wieder in die Gesellschaft integriert werden kann. Die Antwort der Mutter des Opfers dazu ist vernichtend: „Man muss es töten, ein solches Kind!“

Der Film stellt die Kriminalität als Flucht aus einem zerrütteten familiären Umfeld beziehungsweise als dessen Konsequenz dar. Ergänzende Interviews mit den Eltern einiger Jugendlicher beleuchten diese Hintergründe. Die Gespräche wurden dort aufgezeichnet, wo die Kinder aufgewachsen sind, in verwahrlosten Gehöften oder trostlosen Vorstädten von Tscheljabinsk. Der Kommentar von Toljas Vater „Ich habe mich bemüht, ihn nicht zu schlagen… moralisch habe ich mich bemüht“ steht für die Hilflosigkeit und Überforderung der Eltern. Entsprechend fällt die Schilderung von einem der jungen Straftäter aus: Eine seiner Schwestern wurde von Jugendlichen ermordet, seine Mutter sitzt im Gefängnis gegenüber, der Bruder ist seit einiger Zeit ebenfalls hinter Gittern („Ich weiß nicht wofür“), eine andere Schwester seit kurzem auch („Wir warten eben, bis sie wieder rauskommt, genauso wie sie auf uns gewartet hat.“). Die Berichte der Jugendlichen über ihre Familien und deren ausweglose Situation sind oft nüchterne, lakonische Aufzählungen. Die Untertitelung kann diesen Ton im Deutschen allerdings nicht äquivalent wiedergeben. 

Die Dokumentation liefert für einen Osteuropawissenschaftler keine fundamental neuen Erkenntnisse: weder über die soziale Situation in weiten Teilen des Landes, noch über die Kinder- und Jugendkriminalität und ihre Hintergründe in Russland. Die Stärke des Films liegt darin, dass er sich, bei aller Objektivität, auf die Seite der jungen Täter stellt und sehr eindringlich illustriert, dass Straftaten in soziale Kontexte eingebettet sind. Die Schuld der jungen Menschen wird nicht relativiert, die Darstellung ist differenziert.  In Russland ist der Film noch nicht zu sehen. Die wenigen Vorab-Kritiken allerdings loben vor allem das Fehlen von Schwarz-Weiß-Malerei.  Die Regisseurin Alexandra Westmeier hat keine Antworten. Sie lässt Fragen, die sich dem Zuschauer unmittelbar stellen, unbeantwortet. Abgesehen von einer kurzen Bemerkung Koljas werden Konflikte im Gefängnis selbst nicht thematisiert. Die befragten Jungen äußern sich auffallend positiv über die Versorgung, die Freunde, die sie gefunden hätten, und über Unterricht und Ausbildung. Das wenige Gefängnispersonal, das gezeigt wird, ist vor der Kamera freundlich. Der Film endet jedoch mit der Einblendung, dass 91 % der Jungen rückfällig werden. Man muss sich daher fragen, ob das Leben im Gefängnis tatsächlich so harmonisch ist, wie der Film dies vermittelt, oder ob die Kinder sich an die Situation anpassen und in den Interviews eben das sagen, was von ihnen erwartet wird. 

„Allein in vier Wänden“ ist eine berührende und eindringliche Dokumentation über den Gefängnisalltag von Kindern und Jugendlichen in Russland. Die Regisseurin lässt die Aussagen der Protagonisten unkommentiert. Wie man mit den schockierenden Tatsachen umgeht, bleibt jedem Zuschauer selbst überlassen. Antworten werden nicht gegeben oder höchstens angedeutet. Die Fragen, die sich die Zuschauer nach Ansicht des Filmes stellen werden, werden sehr unterschiedlich ausfallen. Aus dieser Spannung gewinnt der Film seine Intensität.

 

Kinostart in Deutschland: 26. November 2009

Siehe dazu außerdem den Beitrag auf filmportal.de