von Julia Radtke

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1. November 2010

Das zwanzigjährige Jubiläum des Mauerfalls bildet den Ausgangspunkt für das Buch „Fantasie und Arbeit – Biographische Zwiesprache“, veröffentlicht von den beiden Filmemacherinnen Iris Gusner und Helke Sander. Die ehemalige Defa-Regisseurin Iris Gusner hatte die Idee, ihre Biographie zu erzählen. Sie hatte erkannt „wie wenig meine heranwachsenden Enkelkinder über die Zeit vor der Wende wissen und dass die so plötzlich verschwundene DDR ihnen so fern ist wie die Napoleonischen Kriege und ungefähr genauso interessant“.[1] Zusammen mit ihrem Gegenpart, der in Westdeutschland lebenden Feministin Helke Sander stellen sie ihre beiden Lebensläufe, ihre Erfahrungen als allein erziehende Mütter und als Filmregisseurinnen in Episoden und Gesprächen nebeneinander und vergleichen. Welche Erlebnisse haben sie rückblickend geprägt? Welche Vorbilder haben sie beeinflusst? Wie haben sie das Leben in den zwei deutschen Staaten wahrgenommen? Wie haben sie den Fall der Mauer 1989 erlebt?

Dabei stellen beide fest: sie haben viel gemeinsam. Auf den ersten Blick mag diese Feststellung überraschen, scheinen doch die Gegensätze zwischen ihnen größer als ihre Gemeinsamkeiten. Iris Gusner lebte seit ihrer Kindheit in der Nähe von Leipzig, in der DDR. Sie trat bereits als Jugendliche in die SED ein und blieb Parteimitglied bis sie sich 1989 endgültig entschloss, die DDR zu verlassen. Helke Sander dagegen war in Remscheid aufgewachsen, gründete früh eine Familie mit dem finnischen Schriftsteller Markku Lahtela und zog nach Finnland. Nach der Scheidung ging sie mit ihrem Sohn nach West-Berlin, lebte in einer Kommune und war an der Studentenbewegung und aufkommenden Frauenbewegung mitbeteiligt.

Verbindend sind vor allem die  Idee der Gleichberechtigung und Emanzipation. Weibliche Vorbilder aus ihrer Jugendzeit inspirierten sie dazu, ihren eigenen Weg einzuschlagen. Für beide bedeutete dies: sie wollten Filmregisseurin werden, unabgängig sein und mit ihren Bildern Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen nehmen.

Wie schwer die Arbeit in einem weitgehend männlich besetzten Beruf sein konnte, manifestiert sich in vielerlei Erfahrungen: beide müssen um die Realisierung ihrer Filme kämpfen. Ihre Filmideen, die stark autobiographische Züge tragen, treffen immer wieder auf Verständnislosigkeit. Sie sind zerrissen zwischen zeitaufwendigen Recherchen und an unterschiedlichen Schauplätzen in Deutschland und Europa stattfindenden Dreharbeiten und der Fürsorge für ihre Kinder. Obwohl die Gleichberechtigung in der DDR rechtlich festgeschrieben war, erkannte Iris Gusner, dass „…ich als Frau in einer anderen Preisklasse boxte – ich brauchte meine Situation nur mit der meiner männlichen Kollegen zu vergleichen. In der Redaktion, in die man mich gesteckt hatte, gab es natürlich auch nur Männer.“[2]

Darüber hinaus merkte Iris Gusner, dass für filmische Experimente in der DDR nur in einem engen Rahmen Platz war. Ihr erster Spielfilm, den sie nach ihrem Studium an der Filmhochschule in Moskau verwirklichen konnte, wurde verboten. „Die Taube auf dem Dach“ (1973) konnte erst im September 2010 in die deutschen Kinos gelangen. Dabei ging es Iris Gusner als Defa-Regisseurin nicht darum, die DDR grundsätzlich zu kritisieren, doch wollte sie die Realität der DDR-Bürger Anfang der 1970er Jahre einfangen. Die Geschichte um die Dreiecksbeziehung zwischen der jungen Bauleiterin Linda, dem gealterten Bauarbeiter Böwe und dem idealistischen Studenten Daniel bleibt offen. Die sprunghafte Handlung, die leichte Jazz-Musik im Hintergrund, genauso wie die aufgeworfenen philosophischen Fragen lassen den Film einen melancholischen Blick auf die DDR Anfang der 1970er Jahre werfen und das Auseinanderklaffen von sozialistischer Utopie und Wirklichkeit im DDR-Alltag deutlich werden. Die Darstellung des Filmhelden, des Brigadiers Böwe, erregte den Widerspruch der SED-Funktionäre. Ausgerechnet der Arbeiterheld wird als  tragische Figur vorgeführt: ein alternder Idealist, der sein ganzes Leben lang für die Realisierung des Sozialismus gekämpft hat, dafür sein Zuhause mit Frau und Kind aufgegeben hat und nun unglücklich in die Bauleiterin Linda verliebt ist.

Das Verbot des Films Ende April 1973, nur wenige Wochen vor dem 9. Plenum des ZK der SED, beeinflusste Iris Gusner noch lange in ihrer Arbeit. Sie verblieb zwar im Stab der rund 40 angestellten Defa-Regisseure, doch fühlte sie sich in ihren Ausdrucksmöglichkeiten beschnitten: „Das Verbot meines ersten Films hatte meinen tastenden Versuch nach eigenem Ausdruck und Stil unterbrochen. Ich fiel nach seinem Verbot für Jahre zurück in konservative Erzählmuster. Erst später habe ich verstanden, dass das seine schlimmste Folge war. Zur Entwicklung einer eigenen Handschrift – und sie hängt unzertrennlich mit einem eigenen Thema zusammen – braucht es Mut und Selbstvertrauen.“[3]

Beide Frauen blieben unabhängig in ihrem Denken, ließen sich nicht völlig durch Ideologien vereinnahmen: Iris Gusner begann zunehmend, die intellektuelle Enge der DDR wahrzunehmen; die Anforderung an ihre Filme, einen „gesellschaftlichen Nutzen“ zu erbringen, empfand sie als Beschränkung. Helke Sander dagegen war zwar aktiv in der Studenten- und beginnenden Frauenbewegung der 1960er Jahre, stand der RAF jedoch kritisch gegenüber.

Ideologische Enge, beschnittene Identitätsvorstellungen, das Vermissen ästhetischer Schönheit nennt Iris Gusner als Gründe für den Wunsch vieler DDR-Bürger nach der Maueröffnung. Sie selbst hatte ein einjähriges Reisevisum beantragt und entschied sich im August 1989, nicht wieder in die DDR zurückzukehren. Die Ausreise von Künstlern und Intellektuellen über Reisevisa hatte sich nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 ausgeweitet. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war die mit der Ablösung Walter Ulbrichts durch Erich Honecker 1971 eingeläutete Phase der Liberalisierung der Kulturpolitik beendet. Daraufhin reiste eine Vielzahl von Schriftstellern aus der DDR aus, darunter Jurek Becker, Erich Loest oder Günter Kunert.[4]

Den Fall der Mauer am 9. November 1989 erlebten beide Frauen vor dem Fernseher in Westdeutschland. Während Iris Gusner bedauerte, bei den Demonstrationen im Herbst 1989 nicht dabei gewesen zu sein, träumte Helke Sander davon, nun einen vor Jahren erdachten Ausflug von Westberlinern, Westdeutschen, Iranern und Amerikanern in den Spreewald – der zuvor undenkbar gewesen war – zu verwirklichen.

„Fantasie und Arbeit – Biographische Zwiesprache“ lässt im bruchstückhaften Charakter einer Collage die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über die Erinnerungen zweier Frauen einer Generation deutlich werden. Gerade die Geschichte der Gleichberechtigung der Frau gelangt so in den Blick, genauso wie die gesellschaftliche Atmosphäre in den beiden deutschen Staaten in den 1960er und 1970er Jahren. Darüber hinaus gelingt ein Einblick in die deutsche Filmgeschichte: beide Regisseurinnen zeichnen die Entstehungsgeschichten ihrer Filme nach und machen deutlich, unter welchen Bedingungen und mit welcher Herangehensweise ihre Filme entstanden sind.

 


[1] Gusner, Iris/Sander, Helke, Fantasie und Arbeit – Biographische Zwiesprache, Marburg 2009, S. 9.

[2] Ebenda, S. 133.

[3] Ebenda, S. 168.

[4] Wolle, Stefan, Die heile Welt der Diktatur, Bonn 1999, S. 244.