von Martina Weibel

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1. Februar 2012

Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin übernahm im Jahr 2010, im Rahmen ihrer Jahrestagung in Potsdam, die Verantwortung für die Medizinverbrechen, die von Kinderärzten im Nationalsozialismus begangen wurden, und bat die Opfer und ihre Angehörigen um Verzeihung.

Die Jahrestagung wurde begleitet von einer großen Gedenkveranstaltung, bei der die DGKJ dem teilnehmenden Fachpublikum erstmals die Ausstellung „Im Gedenken der Kinder. Die Kinderärzte und die Verbrechen an Kindern in der NS-Zeit“ präsentierte.

Unter Einbeziehung und mit Hilfe regionaler Einzelforschungen wird diese Ausstellung nun, neu und zweisprachig konzipiert von der historischen Kommission der DGKJ unter der Leitung des Medizinhistorikers Thomas Beddies, in der Stiftung Topographie des Terrors in Berlin einem großen, internationalen Publikum vorgestellt.

Eigentlich möchte man vor dem Eingangsbild der Ausstellung stehen bleiben. Es zeigt Kinder, denkbar unperfekte Kinder, eines lächelt, eines ängstigt sich, eines lebt in einer ganz anderen Welt. Man möchte nicht weitergehen, weil man weiß, dass man sich der Auslöschung dieser Kinder nähert. Sie verschwanden hinter monströsen, medizinischen Diagnosen, Experimenten, Erfassungen und Gutachten.

Und dann geht man doch einen Schritt weiter in die Ausstellung hinein und mit jedem Schritt tiefer in die tödliche Maschinerie, in die diese Kinder geraten sind. Nähert sich einem sezierenden kalten Blick, der aus ihnen Menschenmaterial machte: Halbnackte kleine Körper, leere Augen, den Kopf von einer Hand, die ins Bild ragt, starr festgehalten. Als schwachsinnig, bildungsunfähig, idiotisch diagnostiziert, auf einen wissenschaftlichen Gegenstand reduziert.

Man möchte wieder zurück - und der Blick fällt auf ein Porträtfoto des kleinen Günther E. mit seinen etwas zu großen Ohren, seinem fusseligen Pullover und seinem schüchternen Gesichtchen. Das ist ein Kind, ein kleines Individuum.

Der 10 jährige Günther E. erhielt die Diagnose „schwachsinnig mit erblicher Belastung“, „bildungs- und beschulungsunfähig“. Er wurde am 21. Mai 1940 unter der Tarnbezeichnung „in eine andere Anstalt verlegt“ in der Gaskammer des städtischen Zuchthauses Brandenburg ermordet. Er ist eines von über 4000 Kinderopfern der Gasmordaktion „T4“. Eines von über 10.000 minderjährigen Opfern der nationalsozialistischen Krankenmorde.

Eine große Zwischenwand durchschneidet die Ausstellung wie eine Grenze hinter der die Kinder endgültig verschwinden und wirkt zugleich wie ein Übergang ins Reich der Täter: Die Konkretisierung der Verbrechen, die Namen, die Orte, machen diesen Teil der Ausstellung zum Erfrieren kalt.

Dokumentiert wird der Ablauf einer sich radikalisierenden, klinischen Vernichtung, an der sich renommierte Mediziner nicht nur beteiligten, sondern die sie initiativ vorantrieben. Mediziner, die sich, gestützt auf einen administrativen Apparat, in Kooperation mit Gesundheits- und Jugendämtern, einer Dichotomie des Heilens und Vernichtens verschrieben.

Man wird hineingezogen in die sterile Arbeitsatmosphäre einer entgrenzten Medizin, in deren Mittelpunkt nicht das Wohl des Kindes, sondern der Dienst am „erbgesunden, rassereinen Volkskörper“ stand. In die monströse Normalität der regen Korrespondenz zwischen Ärzten und Wissenschaftlern, zwischen Universitätskliniken und „Kinderfachabteilungen“ über die Förderung der „Nützlichen“ und die Tötung und medizinische Verwertung der „Unbrauchbaren“. In einen Berufsalltag, der sich selbstimmunisiert gegen das erzeugte Leid vor die Realität des Quälens und Mordens schiebt:

Aus dem Verhungern und Verwahrlosen lassen wurde eine Gewichtskurve – steil nach unten abfallend. Aus der quälenden Infizierung mit TBC Erregern kriegswichtige Forschung, die im detailliert beschriebenen Krankheitsverlauf das Fieber, die Entzündungen, den Tod festhält. Aus der Tötung durch Medikamente eine Therapie mit hochdosiertem Luminal, bei der das künstlich eingeleitete Sterben der Säuglinge und Kinder als genuiner Teil ihrer Krankheitsgeschichte vermerkt wurde: „Das Kind sieht verfallen aus. Schläft dauernd.“ Luminal ist ein Barbiturat.

Die vierjährige Ilse war eines der Kinder, die durch Luminal in der „Kinderfachabteilung“ einer privaten Hamburger Kinderklinik getötet wurden. Ihr Leiter, der Pädiater Wilhelm Bayer, hatte den - medizinischen Rat suchenden - Eltern angeboten, ihr Kind zu „behandeln“. Dass sich hinter der professionell klingenden Bezeichnung „Kinderfachbteilung“ eine Tötungsabteilung verbarg, wussten die Eltern nicht. In Hamburg befanden sich zwei von rund 30 „Kinderfachabteilungen“, deren Hauptzweck die Beobachtung und Tötung derjenigen Kinder war, die von Gutachtern des „Reichsausschusses“ als „lebensunwert“ ausgewählt worden waren. In diesen „Kinderfachabteilungen“ wurden mindestens 5000 Kinder getötet. Ilse überlebte in der Hamburger Kinderklinik einen Monat.

In Briefauszügen dokumentiert die Ausstellung Reaktionen der an den Rand gedrängten Eltern. Manche wussten oder ahnten, was die Verlegung oder Einweisung ihres Kindes in eine „Kinderfachabteilung“ bedeutete. Viele jedoch wurden bewusst getäuscht. Sie glaubten, wie Ilses Eltern, ihre Kinder erhielten eine zwar gefährliche, jedoch hilfreiche Therapie.

Mit Sorgerechtsentzug bedroht, heillos überfordert mit der Versorgung eines behinderten Kindes, das in der nationalsozialistischen Gesellschaft zum offensichtlichen Makel, zum Stigma wurde, wurden die Eltern von den ärztlichen Vertrauenspersonen, an die sich wandten, im Stich gelassen. In dieser Welt war kein Platz für ihre Ängste, ihre Liebe oder ihre Probleme.

Den Vertauensmissbrauch an Kindern und Eltern setzten nicht wenige der von der Justiz nahezu unbehelligten Kinderärzte auch nach 1945 fort. Unter Leugnung jeder individuellen Schuld sagte der ehemalige Leiter der Universitätskinderklinik Leipzig und einer der Gutachter der „Kindereuthanasie“, Dr. Werner Catel, 1964 in einem Spiegel-Interview: „Schmerzempfindung setzt Bewußtsein voraus, das idiotischen Kindern fehlt“.

In der Mitte der Ausstellung hängen Zeichnungen aus der Psychiatrie der Charité, auf denen Kinder ihre unmittelbaren Ängste vor dem Krieg malten: brennende Panzer, U-Boote, feuerspuckende Flak. Darüber prangt in großen Buchstaben ein IQ-Test, ein Diktat, das die „Bildungsfähigkeit“ messen sollte und ebenfalls den Krieg zum Thema hatte: ein heroisches, führergläubiges, ideologisches Pamphlet. Ein Dokument ‚idiotischer Bewusstlosigkeit, dem jede Schmerzempfindung fehlt‘.

Man möchte sich diesem Täterblick entziehen. Und bleibt zurück mit dem Wunsch sich von den Kindern zu verabschieden, um sie zu trauern.

 

„Im Gedenken der Kinder. Die Kinderärzte und die Verbrechen an Kindern in der NS-Zeit“

Gastausstellung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) bis zum 20. Mai 2012 in der Stiftung Topographie des Terrors;  www.topographie.de

Niederkirchnerstraße 8; 10963 Berlin. Öffnungszeiten: täglich 10 bis 20 Uhr; Eintritt frei.

Die nächsten Stationen der Ausstellung sind die Universitätskinderklinik in Leipzig, ab dem 3. September das Medizinhistorische Museum in Hamburg-Eppendorf und ab dem 22. November das Museum im Zeughaus in Vechta.

„Im Gedenken der Kinder - Die Kinderärzte und die Verbrechen an Kindern in der NS-Zeit / In memory of the children - Pediatricians and crimes against children in the Nazi period“Dokumentation zur Ausstellung (deutsch/englisch), hg. von Thomas Beddies im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), Berlin 2012, 118 S., ISBN 978-3-00-036957-512,-- €

Kindermord und „Kinderfachabteilungen“  im Nationalsozialismus

Hg. Lutz Kaelber, Raimond Reiter, Peter Lang Wissenschaftsverlag, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-631-61828-8

Gedenkort-T4.eu informiert über die nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde an 300.000 Menschen mit einer geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung in Deutschland und Europa und unterstützt die Bemühungen um ein angemessenes Gedenken und einen Ort der Information in der Tiergartenstraße 4 in Berlin.