von Melanie Huchler

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1. Juni 2014

Am 10. Juni 1944 ermordete die dritte Kompanie der zweiten SS-Panzerdivision „Das Reich“ 642 Kinder, Frauen und Männer in Oradour-sur-Glane und brannte den kleinen Ort in der Résistance-Region Limousin vollständig nieder. Die wenigen Überlebenden und die Angehörigen der Opfer hielten seither die Erinnerung an das Grauen wach, nicht zuletzt um Geschichtsrevisionisten, die das Massaker an der Zivilbevölkerung zu einer gerechtfertigten Partisanenbekämpfung uminterpretierten, zu widersprechen. Doch nicht nur die Betroffenen hatten das Bedürfnis an das weitgehend ungeahndete Verbrechen zu erinnern. Zum „Märtyrerdorf“ erhoben, wurde der Ort ein erinnerungspolitischer Topos. Dabei ging es sowohl in Frankreich als auch in Deutschland schon früh um „mehr als Oradour“.[1] Besonders die Beteiligung elsässischer Zwangsrekruten am Massaker wirkt sich als Erinnerungskonflikt aus, obgleich sie bis heute in Fernsehdokumentationen und politischen Statements immer wieder zu kurz kommt.

Bereits 1948 rief die Hamburger Jugendzeitschrift Benjamin dazu auf Oradour wiederaufbauen zu helfen. Gemeinsam mit den Ruinen des Dorfes sollten „bei jungen Franzosen die geistigen Trümmer ab[ge]tragen“ werden.[2] Im Dienste der Völkerverständigung wollte man so einen „bescheidenen Teil dort wiedergutmachen, wo Deutsche schuldig wurden“.[3] Der gut gemeinte, aber angesichts der Dimension des Verbrechens naive Plan scheiterte schließlich an der Ablehnung der Opfer. Stattdessen wurden die Ruinen von der französischen Regierung als „stumme Zeugen“ konserviert und der Ort nicht weit entfernt neu aufgebaut. Das Verbrechen wurde so „unter dem Zement der Erinnerung“ präsent gehalten.[4]
Während Oradour in Deutschland lange nur einzelne, meist zivilgesellschaftliche Initiativen hervorrief, wurde der Ort in Frankreich schnell zu einem Politikum. So versuchte unter anderem Résistance-Führer Charles de Gaulle die Erinnerung an das grausame Massaker als ein Mittel der nationalen Integration zu nutzen. Schließlich war der Résistance-Mythos längst nicht für alle Franzosen anschlussfähig. „Oradour […] wird eine Art Symbol für das Opfer des Vaterlands bleiben. Lasst uns zusammen bleiben, um die Erinnerung daran zu erhalten und so etwas nie wieder zu erleben“, so der Chef der Übergangsregierung 1945.[5] In Frankreich kennt heute fast jedes Kind den village martyr, der erst seit 1999 durch ein von Historikern betreutes Gedenkzentrum ergänzt wird.

Die Vermittlung nationaler und lokaler Erinnerungen war gleichwohl nicht unproblematisch. Spätestens seit dem Prozess von Bordeaux 1953 zeigte sich ein grundsätzlicher Konflikt in der französischen Vergangenheitsbewältigung, befanden sich doch unter den 21 (der geschätzt 200 SS-Soldaten) vor Gericht 14 Elsässer. Bis auf einen verstanden sich diese als Zwangsrekrutierte und beriefen sich darauf, selbst Opfer eines Kriegsverbrechens geworden zu sein. In Straßburg folgte auf die Verurteilung der Elsässer eine Welle des Protests und der Trauer: Das Gefallenendenkmal wurde mit einem schwarzen Schleier versehen, Bürgermeister protestierten, die Fahnen wehten in der ganzen Region auf Halbmast. Schließlich blieb nichts anderes übrig als die Elsässer zu amnestieren, aus Sorge vor einem Revival der elsässischen Autonomiebewegung.

Der geringe Erfolg des Prozesses bedeutete für die Opferfamilien von Oradour ein zweites Martyrium. Bis in die 1970er Jahre kam es wegen der Amnestien zu einer Isolierung der Erinnerungsgemeinschaft innerhalb Frankreichs. Staatliche Vertreter wurden von den Gedenkveranstaltungen ausgeschlossen. Das Misstrauen zwischen den Regionen Limousin und Elsass hielt sich noch länger. Elsässische Veteranenverbände zogen 2012 gegen den Überlebenden Robert Hébras vor Gericht. Dieser hatte in seinem Zeitzeugenbericht den Status der am Massaker beteiligten Elsässer als Zwangsrekrutierte infrage gestellt.
In der Bundesrepublik konnten währenddessen höhere Verantwortliche letztlich unbehelligt weiterleben und sich eine neue Existenz aufbauen. Auch in der DDR kam es erst 1983 zu einem politisch motivierten Prozess gegen den ehemaligen SS-Obersturmführer Heinz Barth, obwohl die Akten bereits früher bekannt waren. Noch 2010 wurden durch wiederentdeckte Stasi-Dokumente die Ermittlungen gegen 6 weitere mittlerweile weit über 80-jährige mutmaßliche Täter wieder aufgenommen.

Als am 4. September 2013 Joachim Gauck als erstes deutsches Staatsoberhaupt in Oradour empfangen wurde, schien mit der Annahme einer offiziellen Versöhnungsgeste durch die Hinterbliebenen eine historische Zäsur erreicht. Gemeinsam sangen die Partner des couple franco-allemand ein Loblied auf ihre Freundschaft im vereinten Europa. Auch der Straßburger Bürgermeister war anwesend. Der Anspruch auf absolute Einzigartigkeit, den die „Märtyrerfamilien“ von Oradour lange vertraten, wurde nun zugunsten einer Integration ins gesamteuropäische Erinnerungsnarrativ aufgegeben. So ordnete Präsident Hollande das Massaker von Oradour in die Geschichte der beiden Weltkriege, des Holocaust und der europäischen Integration ein.
Mit geschärftem Blick erscheint der Gauck-Besuch von 2013 jedoch deutlich weniger harmonisch. Während der Besuch in beiden Ländern große Zustimmung erfuhr, regte sich im Grenzland Enttäuschung. Mit den Worten, er sei sich „auch der intensiven Debatte in Frankreich bewusst, die um die Frage der Zwangsrekrutierung von Elsässern kreist, die an dem Massaker teilgenommen hatten“, hatte Gauck die Besonderheit des Falls Oradour nur kurz angerissen. War das Problem nur ein Problem nationaler Erinnerungsnarrative in Frankreich, das für Deutschland im vereinten Europa nicht mehr bestand? Vieles spricht dafür, dass das Kapitel Oradour im Roman der deutsch-französischen Freundschaft auch 70 Jahre nach dem Verbrechen noch nicht abgeschlossen ist.[6]

 

 

 

 

[1] Echo der Woche, 07.02.1948
[2] Der Spiegel, 17.01.1948
[3] Benjamin, November 1947
[4] Le Populaire du Centre, 10.06.1947
[5] Le Populaire du Centre. 05.03.1945
[6] Dank an Anne Kwaschik für die freundliche Unterstützung und die anregenden Diskussionen zum Thema.