von Marion Detjen

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4. Januar 2017

Vor zwei Jahren beging das Zentrum für Politische Schönheit anlässlich der 25-Jahr-Feier des Mauerfalls einen Tabubruch: Um die deutsche Öffentlichkeit, die damals der „Flüchtlingskrise“ noch nicht die Beachtung schenkte, die ihr seit dem Sommer letzten Jahres zuteilwurde, auf das Sterben an der Festung Europa aufmerksam zu machen, wurden in einer Nacht- und Nebelaktion Gedenkkreuze von Opfern des DDR-Mauerregimes in der Nähe des Deutschen Bundestages abmontiert und an die Außengrenze Spaniens gebracht, um sie dort mit „zukünftigen Toten“ des EU-Mauerregimes zu vereinigen. Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen Hausfriedensbruch, der Bundestagspräsident zieh die Theaterleute und Künstler*innen, die die Aktion verantworteten, des Zynismus, und die Gedenkstätte Berliner Mauer distanzierte sich von dem Aktualisierungsversuch mit ihrer ganzen erinnerungskulturellen und historischen Autorität.

Ein knappes Jahr später – nun mitten in der „Flüchtlingskrise“ – probierten die Münchener Kammerspiele eine andere Variante des Tabubruchs: Sie veranstalteten im Rahmen eines „Open Border Kongresses“ eine „Internationale Schlepper- und Schleusertagung“, auf der Journalist*innen, Rechtsanwält*innen, Aktivist*innen, ein Historiker und eine ehemalige Fluchthelferin heutige Schleuseraktivitäten mit der Fluchthilfe für DDR-Flüchtlinge nach dem Mauerbau und für Verfolgte des NS-Regimes im Dritten Reich in Verbindung brachten und eine Traditionslinie konstruierten. Wieder war die Aufregung groß, wieder wurde nach dem Strafrecht gerufen, wieder konnte nur das Label „Kunst“ die Aktion retten.

Der Skandal bestand in der Wahrnehmung ihrer Kritiker*innen beide Male darin, ein erinnerungspolitisch positiv aufgeladenes historisches Phänomen mit einem negativ aufgeladenen und zudem strafbewehrten Gegenwartsphänomen kurzzuschließen. Die DDR-Fluchthelfer*innen wurden 2012 mit Bundesverdienstkreuzen geehrt und haben sich in der Berliner Erinnerungslandschaft einen Platz als Widerstandskämpfer*innen gegen die DDR-Diktatur gesichert. Die Schleuser*innen unserer Tage hingegen sind nach dem Gesetz Verbrecher*innen. Ein nicht unerheblicher Teil der Aktivitäten unserer Sicherheitsbehörden richtet sich auf ihre Verfolgung.

Tatsächlich ist eine umstandslose Gleichsetzung von DDR-Fluchthelfer*innen und heutigen Schleuser*innen nicht zulässig, aus denselben Gründen, aus denen zum Beispiel auch die meisten Nazi-Vergleiche unzulässig sind: Die Ähnlichkeiten zwischen dem historischen Phänomen und dem Gegenwartsphänomen, die wir zu erkennen glauben, während wir um Standpunkte ringen, sind nämlich in aller Regel nur ein Produkt unseres Vor-Urteils. Das Vor-Urteil scannt bei der Suche nach Legitimierungen und Delegitimierungen nur die Oberflächen, isoliert die Erscheinungen, die ihm zupass kommen, und verwendet sie für seine Zwecke, ignoriert aber die Kontexte und Konstellationen, die die Erscheinungen an der Oberfläche überhaupt erst erzeugen und erklären können.

Doch ein Tabubruch wäre kein Tabubruch, wenn er einfach nur einen logischen Kurzschluss beginge. Tatsächlich hatten beide Aktionen eine solche Gleichsetzung überhaupt nicht vorgenommen, sondern diese uns nur wie eine Wurst vor die Nase gehalten; eine Wurst, nach der die mediale Öffentlichkeit begierig geschnappt hatte.

Die phänomenologischen Ähnlichkeiten der DDR-Fluchthilfe und der Fluchthilfe heutiger Tage sind überall zu finden: in den Bildern des skrupellosen und kriminellen Fluchthilfe-Bosses und des hilflosen Flüchtlings, der angeblich gar nicht weiß, was er tut, sondern von Fluchthelfer*innen verführt und gepresst wird, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen; in den Begriffen „Schleuser“, „Schlepper“, „Menschenhändler“, die schon in der DDR und in der Bonner Republik verwendet wurden, um unliebsame Akteure zu diskreditieren und diffamieren; in den strafrechtlichen Kriterien des Strafgesetzbuches der DDR von 1968 und des Nebenstrafrechts des Aufenthaltsrechts der wiedervereinigten Bundesrepublik, die beide nach privater und professioneller Fluchthilfe unterscheiden und die Kriterien der Gewerbs- und Bandenmäßigkeit, der angeblichen oder tatsächlichen Gefährdung der Flüchtlinge und des Waffenbesitzes einführen; in der lebensfremden Unterstellung, dass die doch in aller Regel losen, aus situativen Kontexten entstandenen Fluchthelfernetzwerke hierarchische und durchgeplante Organisationen seien, was den Verdacht weckt, dass die Behörden hier die Ideale ihres eigenen Funktionierens auf die Fluchthelfer*innen projizieren; etc. All diese Ähnlichkeiten, so auffällig sie sind, erklären nichts und helfen nicht, die Phänomene zu verstehen.

Es gibt aber andere Gemeinsamkeiten, die tatsächlich charakteristisch sind und sich für einen historischen Vergleich der DDR-Fluchthilfe und der Fluchthilfe unserer Tage eignen – Gemeinsamkeiten der Grundkonstellation: Immer sind da Menschen, die ihre Lebensumstände unerträglich genug finden, um ihnen entfliehen zu wollen und dafür ihre Heimat, ihre gewachsenen Beziehungen, ihren Besitz aufzugeben. Grenzen, die mit Sperranlagen befestigt sind, und die Kriminalisierung des Grenzübertritts sollen sie daran hindern. Da sie diese Hindernisse nicht alleine überwinden können, finden sich andere Menschen, die Möglichkeiten haben und einzusetzen bereit sind, die Lücken im System der Grenzabsperrung aufzuspüren und den Flüchtenden den Weg durch diese Lücken zu zeigen. Das Risiko, dass die Lücke schon geschlossen ist, mit schlimmen Konsequenzen für die Fliehenden – Verhaftung, Tod – nehmen die Beteiligten auf sich. Die durch die Grenzbefestigungen und Strafbewehrungen aufgebauten Hürden haben außerdem zur Folge, dass die Fluchthilfe in den seltensten Fällen singulär und isoliert erfolgen kann, also indem zum Beispiel einfach ein Stacheldraht gehoben oder ein Kofferraum geöffnet wird, sondern fast immer eine Vernetzung von mehreren Menschen und eine gewisse Vorbereitung und Organisation erforderlich sind. Je höher die Hindernisse, desto größer die Tendenz zur Professionalisierung. Um die Lücken aufzuspüren und zu nutzen, braucht es weiterhin fast immer einen Mix von legalen Handlungen unter Ausnutzung der gesetzlichen Spielräume und illegalen Handlungen, die klandestin erfolgen müssen. Dabei fallen die illegalen Handlungen – vor allem Urkundendelikte und Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung, neben der strafbewehrten Fluchthilfe selbst –, die für die Durchführung unbedingt nötig sind, nicht unter die Verbote des Dekalogs, sie fügen zwar der herrschenden Rechtsordnung, nicht aber konkreten anderen Menschen Schaden zu. Die öffentliche Meinung und die mediale Bewertung der Fluchthilfe-Aktivitäten ist dementsprechend volatil, und auch für die Rechtsprechung ist in hohem Maße interpretationsoffen und von Verhandlungen abhängig, ob und inwieweit Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe für die Straftaten gefunden werden können. 

Eine weitere, in der Grundkonstellation begründete Konstante ist das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Flüchtendem und Fluchthelfer*innen, das aufgrund der Kriminalisierung rechtlich-institutionell nicht abgesichert ist und deshalb besondere Ansprüche an die Dispositionen und Motivationen der Fluchthelfer*innen stellt. Die Arbeit erfolgt jenseits des konventionellen und geregelten Miteinanders, das sonst Machthierarchien strukturiert und Abhängige schützt. Die Flüchtenden sind, zumindest im Augenblick des Grenzübertritts, aber oft auch schon vorher und manchmal sogar nachher, vollständig in der Hand der Helfenden. Es entsteht situativ die Versuchung, den unter Umständen entschuldbaren Verstößen gegen die abstrakte Rechtsordnung nicht entschuldbare Verstöße gegen die konkreten Rechte der von ihnen Abhängigen (durch Betrug, Ausbeutung, Freiheitsberaubung, Körperverletzung, Vergewaltigung etc.) an die Seite zu stellen. Die Fluchthilfe birgt eine Tendenz zum Verbrechertum in sich – aber ebenso eine Tendenz zur selbstlosen Heiligkeit, insofern nämlich diejenigen, die die moralische Verantwortung, die das Abhängigkeitsverhältnis ihnen auferlegt, auf sich nehmen, dazu getrieben werden, ihre Eigeninteressen gänzlich aufzugeben und sich für ihre Schützlinge aufzuopfern.

Gleichermaßen ist aufgrund dieser Grundkonstellation der Weg der Fluchthelfer*innen in eine Entgrenzung und Marginalisierung seiner eigenen Lebensumstände vorgezeichnet, wenn er nicht rechtzeitig den Ausstieg schafft. Unabhängig von der Motivation, und auch, wenn die Fluchthilfe ihren Anfang in der Mitte der Gesellschaft nimmt, stößt die Erfahrung, dass der Staat und die herrschende Rechtsordnung Hilfeleistungen für Menschen in Not verunmöglichen und kriminalisieren, eine Entwicklung an, die gesellschaftlich, psychisch und politisch ins Abseits drängt. Die Rechtsordnung, die zu den Verstößen nötigt, delegitimiert sich selbst; ein Radikalisierungsprozess findet statt; auch bei einer unpolitischer Ausgangssituation, wenn etwa zunächst nur der Wunsch nach Familienzusammenführung da ist, wie bei Harry Seidel[1], oder eine Bereicherungsabsicht, wie bei Kay Mierendorff.[2]

Und nun zu den Unterschieden: Der Hauptunterschied zwischen der DDR-Fluchthilfe und der Fluchthilfe heute liegt in der Staatsangehörigkeit der Flüchtenden. Aus nationalstaatszentrischer Sicht stellt die Fluchthilfe für DDR-Bewohner*innen wie auch die Rettung von Verfolgten aus NS-Deutschland eine legitime Ausschleusung von Deutschen dar, während die Fluchthilfe heutiger Zeit aus dieser Sicht die illegitime Einschleusung von Ausländern betreibt. DDR-Bürger*innen waren Deutsche im Sinne des Grundgesetzes und nahmen bei der „Übersiedlung“ in die Bundesrepublik ihr Grundrecht auf Freizügigkeit nach Art. 11 GG wahr. Solange am Staatsangehörigkeitsrecht nicht gerüttelt wurde, konnte Fluchthilfe in der Bundesrepublik nicht verboten werden, selbst wenn sie politisch missliebig war und rein gewerblich betrieben wurde. Hier zeigte sich die Inklusivität, die Nationalstaatlichkeit auch hat: Der DDR-Bevölkerung wurden Alternativen und Freiheitsgewinne geboten. Die Nationalstaatlichkeit ist aber vor allem auch exklusiv gegenüber den sogenannten Ausländer*innen und ignoriert dabei häufig transnationale Realitäten. Diese Exklusivität wurde von Berthold Brecht bereits vor 75 Jahren beklagt, in einer früheren Krise der Flüchtlingspolitik („Was ist der Mensch ohne einen Pass, ohne einen Pass? Der edelste Teil eines Menschen ist der Pass, wenn er gut ist.“), aus der sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR eigentlich versucht hatten zu lernen, indem sie sich in ihren 1949 verabschiedeten Verfassungen mit einem Grundrecht auf politisches Asyl zu einer humanitären Transnationalität hin öffneten. Das Asylgrundrecht relativierte den Unterschied deutsch/nicht-deutsch, den die verengte nationalstaatliche Perspektive kategorisch setzt, und milderte das Inhumane ihrer Staatsgrenze. Dass das Asylrecht von Beginn an und bis heute über weite Strecken als Asylverhinderungsrecht praktiziert wurde und wird und ohne die Genfer Flüchtlingskonvention für die allermeisten Flüchtlinge wertlos wäre, macht die grundsätzliche Relativierung des Nationalstaats nicht rückgängig. Man kann deshalb die These wagen, dass es gar nicht die Flüchtlingszahlen sind, die die immer wieder laut werdenden Forderungen nach der gänzlichen Abschaffung des Art. 16 GG motivieren, sondern die Öffnung der Verfassung zur Transnationalität, die er bei aller Einschränkung leistet.

Ein weiterer Unterschied zwischen der Fluchthilfe in der DDR und der Fluchthilfe heute ist das unterschiedliche Maß an Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit bei der Kriminalisierung und Verfolgung. Einen Schießbefehl gibt es an den europäischen Außengrenzen – noch – nicht, und es sind auch noch keine staatlich organisierten Mordanschläge auf Fluchthelfer*innen oder Entführungsversuche bekannt geworden, wie das die DDR bis in die 80er Jahre hinein praktiziert hat. Die Haftstrafen in der Bundesrepublik sind wesentlich milder als in der DDR und werden – noch – nicht mit Staatsfeindlichkeit politisch begründet (Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren, sobald drei Personen oder mehr involviert sind; und bis zu zehn Jahren bei gewerbsmäßigen „Banden“; in der DDR hingegen zwischen einem und fünf Jahren auch für den rein privat und spontan agierenden Alleintäter; und bis zu 15 Jahren für „staatsfeindlichen Menschenhandel“). Allerdings scheinen sich die bis vor kurzem noch existierenden rechtsstaatlichen Absicherungen des Dublin-Systems mehr und mehr aufzulösen. Es werden nun Flüchtlinge in angeblich „sichere Drittstaaten“ und Herkunftsstaaten zurückgeschickt, die eindeutig nicht sicher sind. Die Garantien des Rechtsstaats auf körperliche Unversehrtheit und eine halbwegs menschenwürdige Behandlung sind inzwischen europaweit in höchstem Maße gefährdet.

Schließlich ist vor allem auch die Größenordnung, die schiere Anzahl der Flüchtlinge, die von den Fluchthelfer*innen geschleust werden wollen, und das Ausmaß des Leidens und Sterbens heute eine ganz andere als nach dem Mauerbau. Das DDR-Grenzregime hat in den Jahrzehnten seines Bestehens wahrscheinlich um die 1000 Menschenleben gekostet. So viele Menschen sterben heute im Mittelmeer in einem einzigen Quartal. Während die in die DDR hinein operierenden Fluchthilfeorganisationen immer nur höchstens eine Handvoll Flüchtender als eine „Fuhre“ zu transportieren hatten und jeden einzelnen Fall gesondert behandeln konnten, werden heute Hunderte gleichzeitig losgeschickt. Die Massenhaftigkeit der Flucht und die genozidalen Ausmaße der Verbrechen, die sie auslösen, wirken sich natürlich auf die Arbeitsweisen und Strukturen der Fluchthilfenetzwerke aus. Es wird für die Fluchthelfer*innen immer schwieriger, in den Flüchtenden überhaupt noch einzelne Menschen wahrzunehmen; die der Fluchthilfe innewohnende Tendenz zum Verbrechertum wird ins Massenhafte getrieben, wie auch bei den zahllosen Retter*innen und Helfer*innen, die im Mittelmeer und an den Küsten Fluchthilfe leisten, die Tendenz zur Selbstaufopferung ins Massenhafte getrieben wird.

Was können wir aus dem Vergleich nun lernen? Wenn man die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der DDR-Fluchthilfe und der Schleusungen unserer Tage ergebnisoffen und vorurteilslos unter die Lupe nimmt, zeichnen sich neue Fragen ab, mit denen ein historischer Mehrwert erarbeitet werden könnte: Zum Beispiel wäre es aufschlussreich, die Politisierung der Verfolgung der Fluchthilfe in der DDR und die Abwesenheit dieser Politisierung bei der Verfolgung von „Schleusern“ in der Bundesrepublik einmal nicht ideologisch zu erklären, sondern mit dem unterschiedlichen Selbstbewusstsein der nationalstaatlichen Konzeptionen der Bundesrepublik und der DDR. Oder man könnte die Geschichte der Fluchthilfe als besonders schmutzigen Teil einer allgemeinen Geschichte der Transportdienstleistungen erzählen, bei denen Kunden immer weniger Mitsprache erhalten, oder einer noch allgemeineren Geschichte der Dienstleistung an Wehrlosen: Denn nicht nur Flüchtlinge werden heute massenhaft und entindividualisiert und mit Gefahr für Leib und Leben abgefertigt, bei Schleusungen ebenso wie in den Flüchtlingscamps. Den Kranken und Alten in den Pflegeeinrichtungen droht eine ähnliche Entindividualisierung auf ihrem letzten Weg. Auch wäre interessant, Kriminalisierungsprozesse von Flucht und Fluchthilfe im Zusammenhang mit Delegitimierungsprozessen von Staatlichkeit zu betrachten und auf das Phänomen des Terrorismus zu beziehen: Sowohl in der DDR als auch in unserer westlichen Staatenwelt gibt es Überlappungen zwischen der Terrorismusbekämpfung und der Schleusungsbekämpfung, die historisch zu verstehen wir noch weit entfernt sind.

Als Historiker*innen haben wir die Aufgabe, die Vergangenheit vor den Bedürfnissen der Gegenwart in Schutz zu nehmen. Die Mauertoten mit den Toten im Mittelmeer einfach gleichzusetzen, bringt für ein Verständnis der mörderischen Geschichte, in die wir uns durch die Etablierung des Dublin-Systems haben verwickeln lassen, genauso wenig wie für ein Verständnis der mörderischen Geschichte des DDR-Grenzregimes, die hinter uns liegt. Die Aktionen des Zentrums für politische Schönheit, die „Internationale Schlepper- und Schleusertagung“ und ähnliche Initiativen auf den Feldern der Kunst und des Aktivismus sind keine historischen Seminare und können uns die Arbeit des Historisierens nicht abnehmen. Sie dürfen Thesen und Gedanken ausprobieren und dabei Risiken eingehen, die die Geschichtswissenschaft nicht eingehen darf, von denen sie sich aber anregen lassen sollte. Wenn Kunst und Aktivismus unzulässige Gleichsetzungen vornehmen, dann hat ihnen die Geschichtswissenschaft zu widersprechen. Wenn sie dies allerdings nicht tut, obwohl es ihr vom politischen Gegner vorgeworfen wird, dann ist es vielleicht genau umgekehrt, wie wir vermuten, und die Geschichtswissenschaft muss die Vergangenheit nicht vor ihnen, sondern im Gegenteil vor den Kritiker*innen in Schutz nehmen. 

Mit dem „Diebstahl“ der Mauertoten-Kreuze und ihrer Zusammenführung mit Geflüchteten an den Außengrenzen Europas hat das Zentrum für Politische Schönheit keinerlei Aussage über Mauertote oder heutige Flüchtlinge getroffen, außer der, dass die einen tot und die anderen vielleicht auch bald tot sind. Die Aktion stellt vielmehr eine gedenkpolitische Forderung auf: Der Opferstatus, den die Mauertoten in der deutschen, staatlich finanzierten und institutionalisierten Gedenkkultur zugewiesen bekommen haben, wird ironisch auch für die Opfer der europäischen Abschottung reklamiert. Ironisch insofern, weil es natürlich nicht darum gehen kann, für die an Leib und Leben bedrohten Flüchtlinge schon einmal vorsorglich Gedenkkreuze anzufertigen, sondern ihr Tod besser ganz vermieden werden sollte. Kurzgeschlossen werden also nicht die Mauertoten und die heutigen Flüchtlinge, sondern die hegemoniale Gedenkkultur, die so bequem ist, weil die untergegangene DDR niemandem mehr weh tun kann, und die Gleichgültigkeit und Hilflosigkeit gegenüber dem Leiden der Flüchtlinge. Der das Mauergedenken beherrschende Viktimisierungsdiskurs zeigt seine problematische, herrschaftsstabilisierende Seite in dem Selbstwiderspruch, die Opfer an den Außengrenzen Europas zu ignorieren.

Das Programm der „Internationalen Schlepper- und Schleusertagung“ ging noch weiter. Dort wurde in der Tat auch historisch gearbeitet. Der Schweizer Historiker Stefan Keller stellte seine Forschungen zu einem Polizeikommandanten vor, der Ende der 30er Jahre in großer Zahl Jüd*innen aus Deutschland den illegalen Grenzübertritt in die Schweiz ermöglichte, 1939 aus dem Polizeidienst entlassen und Anfang der 90er Jahre rehabilitiert wurde, und nach dem heute sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland Schulen, Straßen und Plätze benannt sind. Die historisch völlig korrekte Aussage war, dass die Bewertung von Schleusungen einem starken Wandel ausgesetzt ist und diese von der illegalen Handlung zum humanitären Widerstand umgedeutet werden können. Diese historische Erkenntnis wurde jedoch nicht einfach stehen gelassen, sondern für eine subversive Strategie verwendet. Als „wichtigstes Tagungsziel“ gaben die Veranstalter nämlich eine „Image-Aufwertung sowie die damit einhergehende Neubewertung der Dienstleistungen Schleppen und Schleusen“ an. Mit dieser ironischen Formulierung aus dem Marketing-Sprech ließ sich die Fundamentalkritik an der europäischen Flüchtlingspolitik und dem Dublin-System um eine Fundamentalkritik am Kapitalismus erweitern: Die Flüchtlinge haben zwingende Gründe zu fliehen; Gründe, die politisch verursacht sind, im Kapitalismus aber nicht interessieren. Statt sich mit den Fluchtgründen auseinander zu setzen und ihnen politisch zu begegnen, wird im Kapitalismus die Not der Flüchtlinge als eine Nachfrage verstanden, die nur durch das Angebot von bezahlter Dienstleistung befriedigt werden kann. So gleichgültig dem Kapitalismus die Fluchtgründe sind, so wankelmütig geht er auch bei der Bewertung der Dienstleistung vor, die der Not Abhilfe zu schaffen verspricht. Mal werden Fluchthelfer*innen als Held*innen verehrt, mal als Menschenhändler*innen diffamiert. Die schlechte Reputation und die Kriminalisierung der Dienstleistung des Schleusens heutzutage sei, so das Programm der Tagung, letztlich ein Image-Problem, das mit einem besseren Marketing und einer besseren Öffentlichkeitsarbeit behoben werden könne. Die Veranstaltung unternahm also eine paradoxe Intervention: Sie verteidigte das gewerbliche Schleuserwesen, obwohl sie eigentlich seine Gewinninteressen und natürlich auch seine skrupellosen, gewalttätigen und betrügerischen Methoden ablehnt, weil es in unserer Welt, so wie sie eben ist, unvermeidlich erscheint, und weil es jetzt nur darum gehen kann, im Interesse der Flüchtlinge durch Entkriminalisierung wenigstens die Transparenz des Schleuserwesens zu erhöhen und durch mehr Konkurrenz ihre Preise zu verringern.

Um ernsthaft auf diese ironische Provokation zu antworten, sollte sich die Geschichtswissenschaft von dem Glatteis des historischen Vergleichs der Phänomene von Fluchthilfe, auf das sie von den Künstler*innen und Aktivist*innen so listig gelockt wurde, vorsichtig wieder herunter bewegen. Sie sollte einerseits diese Kunstaktionen vor der hegemonialen Politik und Gedenkkultur in Schutz nehmen; und sie sollte andererseits darangehen, im Rahmen einer transnationalen Migrationsgeschichte zu historisieren, warum die Menschen heute fliehen und warum ihnen dabei geholfen wird. Das ist das eigentliche Forschungsfeld, das beackert werden muss, auch wenn uns dafür, bei den Sprachen angefangen, noch zahlreiche Kompetenzen fehlen.

 

[1] Der 1938 geborene Harry Seidel war nach dem Mauerbau 1961 Fluchthelfer und an mehreren Tunnelbauten beteiligt. Im November 1962 entdeckte die Staatssicherheit einen seiner Tunnel und verhaftete Seidel während einer Fluchthilfeaktion. Er wurde 1962 in einem Schauprozess zu lebenslanger Haft verurteilt, vier Jahre später jedoch von der Bundesregierung frei gekauft. Dazu: Detjen, Marion: Die Mauer überwinden. Harry Seidel. In: Karl Wilhelm Fricke, Peter Steinbach, Johannes Tuchel: Opposition und Widerstand in der DDR: politische Lebensbilder. C.H. Beck, München 2002.

[2] Vgl. Detjen, Marion: Ein Loch in der Mauer. Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961-1989, München 2005.