von Jens Brinkmann

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1. März 2012

Der Film „Revision“ dokumentiert eine beklemmende Spurensuche über Leben und Tod von Grigore Velcu und Eudache Calderar, zweier Roma-Flüchtlinge, die im Juni 1992 nahe der deutsch-polnischen Grenze erschossen wurden. In selbstreflexivem Umgang mit dem filmischen Medium und den Möglichkeiten und Grenzen historischer Rekonstruktion führt uns Regisseur Philip Scheffner zurück an den Tatort, sucht Zeugen und Angehörige auf, die von der deutschen Polizei und Justiz nie gehört wurden. Er legt Stimmen und Erinnerungsschichten frei, die auf einen historischen Kontext von brennenden Flüchtlingsheimen und Asyldebatten in den Jahren nach der deutschen Vereinigung ebenso verweisen wie auf Fremdenfeindlichkeit und europäische Flüchtlingspolitik der Gegenwart.

 

Ein statischer Blick auf das Dickicht eines Maisfelds. Das Dröhnen eines Mähdreschers, das sich dem Betrachter unaufhaltsam nähert. Dann der Schnitt der Maschine, Blattreste wirbeln durch die Luft, ein leerer Acker bleibt zurück. Ein auswechselbarer Ort irgendwo auf dem Lande, irgendwo in Deutschland, eröffnet den Film „Revision“ von Philip Scheffner. Das gewöhnliche Maisfeld entpuppt sich dabei als einer jener anonymen, ortlosen Orte, an denen, fernab unserer Aufmerksamkeit, europäische Flüchtlingsgeschichte geschrieben wird. „Nadrensee, Mecklenburg-Vorpommern. 29. Juni 1992. Zwei Erntearbeiter entdecken von ihrem Mähdrescher aus etwas im Getreide liegen. Beim näheren Hinsehen erkennen sie die Körper zweier Menschen. Sie fahren mit dem Mähdrescher Richtung Dorf, um Hilfe zu holen. Hinter ihnen steht das Feld in Flammen.“ Ende des Off-Tons. Die Untersuchungen ergeben, dass es sich bei den Toten um rumänische Staatsbürger handelt. Sie werden in den frühen Morgenstunden bei dem Versuch, die deutsch-polnische Grenze zu überschreiten, von Jägern erschossen. Die Jäger geben an, die Menschen mit Wildschweinen verwechselt zu haben.

Die Kamera setzt sich in Bewegung, schnell fährt sie durch das enge Dickicht eines Maisfelds, ein verwirrendes Kaleidoskop dunkler Grüntöne, schneidender Blätter, ohne den befreienden Blick auf Himmel und Horizont. Schnitt. Stille. Schwarze Leinwand. „Revision“ ist ein ungewöhnlicher, den Betrachter ebenso fesselnder wie anstrengender und quälender Dokumentarfilm, der sich einer linearen Erzählung entzieht, immer wieder innehält, von neuem beginnt, seine Perspektive und Narration hinterfragt. Welche Geschichte ist hier überhaupt zu erzählen, von wem und für wen, wo beginnt sie, wo endet sie.

 

Für die ermittelnden Polizisten und Staatsanwälte beginnt die Geschichte mit dem Auffinden der beiden Leichen und sie endet sieben Jahre später mit einem rechtskräftigen Urteil, in dem die Jäger freigesprochen werden, weil man die Herkunft des tödlichen Geschosses nicht einwandfrei einem der beiden Gewehre habe zuordnen können und auch die Sichtverhältnisse nicht zu klären gewesen seien. In einer dpa-Meldung heißt es damals lapidar: „Aus Rumänien ist niemand zur Urteilsverkündung angereist.“ In „Revision“ erfahren wir, dass die Angehörigen nie über den Prozess und den Urteilsspruch informiert wurden, weil sie, so der Sprecher der Staatsanwaltschaft Stralsund, juristisch gesehen „nichts damit zu tun“ gehabt hätten.

Für Philip Scheffner ist das der Ausgangspunkt seiner filmischen Recherche: ein sich über Jahre dahinschleppender, mit einem irritierenden Freispruch endender Prozess; eine öffentliche Aufmerksamkeit, die sich in Randmeldungen über namenlose tote Flüchtlinge und ihre abwesenden Angehörigen erschöpft. Laut einer Statistik der NGO „Fortress Europe“ wurde in der europäischen Presse zwischen 1988 und August 2011 über mindestens 17.738 Menschen berichtet, die entlang der europäischen Grenzen starben.[1] „Ihr Tod macht sie in Form einer Nachricht zu einem Teil europäischer Geschichte – und entzieht ihnen gleichzeitig das Recht auf eine eigene Stimme in der Geschichtsschreibung. Sie erscheinen als stumme Zeugen eines europäischen Sicherheitsdiskurses, der sich vor allem um sich selbst dreht – und diese Toten billigend in Kauf nimmt“, sagt Scheffner. In seinem Film greift er die offenen Enden einer solchen Nachricht auf, unterzieht die Ermittlungen und den Prozess einer kritischen Revision und versucht jenen eine Stimme zu geben, deren Lebensgeschichten, Gefühle und Erinnerungen im juristischen Verfahren und in der Berichterstattung keine Rolle spielen.

Auf einem Sofa sitzt eine Frau, an ihrer Seite zwei junge Männer. Aufmerksam hören sie der Stimme einer Frau zu: „Er war ein guter Mann. Er hat gearbeitet und uns versorgt“. Danach habe sie ein „doppeltes Leben“ führen müssen, als Mutter und Vater zugleich. Die Frau ist die Witwe von Gregore Velcu, sie hört sich selbst beim Sprechen zu. Neben ihr sitzen ihre Söhne. Für die heute wieder in Rumänien lebenden Angehörigen von Grigore Velcu und Eudache Calderar beginnt die Geschichte mit den Erinnerungen an zwei lebendige Menschen, an den Ehemann oder den Vater, der dann nicht mehr zurückkam. Erinnerungen an ein ärmliches Leben in Rumänien, in dem im Revolutionsjahr 1989 die Feindseligkeiten gegenüber den Roma zunahmen und das man in der Hoffnung auf ein besseres Leben verlassen wollte. Die Angehörigen zeigen die Fotografien der Getöteten, unscharfe Porträts als junge Männer, angegilbte Hochzeitsbilder, die Väter im Kreis ihrer Familien, schließlich der verwesende Tote, von den deutschen Behörden nackt in einem Zinksarg zurückgesandt.

 

In Dokumentarfilmen werden Aussagen in der Regel störungsfrei präsentiert, die Interviewten sprechen direkt in die Kamera, dienen als Zeugen und Experten, liefern Belege, Beispiele und Emotionen im Dienste einer vom Regisseur kontrollierten filmischen Narration. Intransparent bleiben die gewählten Ausschnitte, das Verhältnis der Befragten zum Gesagten, unhinterfragt die Rollen von Fragesteller und Antwortenden. Einer solchen, in einer stimmigen Dramaturgie aufgehenden Präsentation, in der die Interviewten schlimmstenfalls zu Objekten einer ihnen aufgezwungenen Erzählung werden, setzt Scheffner ein selbstreflexives Verfahren entgegen: Der Film zeigt die Gesprächspartner, wie sie ihren eigenen Aussagen zuhören, sie korrigieren, ergänzen oder einfach nur zustimmend nicken. In diesem filmischen Zuhören und Bezeugen und in der Möglichkeit zur Revision verschieben sich die Machtverhältnisse. Die Befragten werden eher in eine Lage versetzt, die sonst Regisseuren und Cuttern vorbehalten ist. Die Angehörigen von Grigore Velcu und Eudache Calderar, deren Stimmen zuvor niemand hörte und die als Zeugen des Prozesses nicht interessierten, werden hier zu Subjekten des Films und Akteuren der Geschichte. Sie werden nicht einfach als Opfer vorgeführt, sondern in ihrer menschlichen Individualität sichtbar, auch und gerade da, wo ihre Erzählungen voneinander abweichen, wo der Schmerz individuelle Grenzen der Erinnerns setzt: „Brechen Sie die Filmaufnahmen hier ab“, bittet der Sohn von Grigore Velcu. „Jeder sollte für sich reden.“

Eine Stärke von „Revision“ liegt in dieser filmischen Reflexion des Machtverhältnisses von Sprechenden und Zuhörenden, der gesellschaftlichen Bedingungen von Zeugenschaft, Erzähl- und Deutungsmacht. Zugleich hinterfragt er aber auch die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit, eine wahre, authentische Geschichte zu rekonstruieren, wo Erinnerungen und Geschichten mit vielen Anfängen existieren. In einem Spannungsverhältnis dazu steht der andere, mit den Erzählungen der Angehörigen verwobene Erzählstrang des Films, eine im besten Sinne investigative Recherche über die Umstände des Todes der beiden Flüchtlinge, über Versäumnisse der Ermittler und einen an Justizverschleppung grenzenden Strafprozess.

Von Neuem kehrt der Film an den Tatort zurück, ein Getreidefeld in Mecklenburg-Vorpommern, Schengenland, nahe der deutsch-polnischen Grenze, im Juni 1992 EU-Außengrenze. Hier versammelt der Regisseur die Bauern, die damals die leblosen Körper fanden, die Feuerwehrleute, die noch vor der Polizei am brennenden Feld eintrafen. Eine Ortsbesichtigung fand im Prozess nicht statt. Als Zeugen seien sie nie befragt worden, sagen die Anwesenden. „Damals wuchs hier Wintergerste“, erinnert sich ein Bauer. So hoch sei die gewesen, sagt er und hält die Hand unterhalb der Hüfte. Warum das Feld nach den Schüssen brannte, sei nie geklärt worden. Erst mehrere Tage später habe die Polizei die Spuren gesichert. Dass viele Flüchtlinge diese Gegend beim illegalen Grenzübertritt querten, sei allgemein bekannt gewesen; immer wieder hätten Grenzpolizisten flüchtende Menschen aufgegriffen. Viele Jäger seien hier deshalb nicht mehr auf Jagd gegangen, „schon wegen der Grenzbeamten, die die Felder nach Illegalen absuchten“. Einen ortsansässigen pensionierten Polizisten, der in den Morgenstunden des 29. Juni 1992 mit zwei Jagdtouristen aus Westdeutschland an dieser Stelle auf Wild lauerte, hat das nicht abgehalten. Nach den Schüssen verlassen die Jäger den Tatort, ohne Hilfe zu holen oder die Polizei zu informieren. Die Jagdtouristen kehren am folgenden Tag nach Frankfurt am Main zurück. Ihre gebuchte Jagdwoche, die sie in den Vortagen auch zu einem Ausflug nach Polen führte, wäre ohnehin zu Ende gewesen. Tage später werden sie festgenommen und nach kurzen Befragungen wieder auf freien Fuß gesetzt.

Auf der Leinwand ist Nacht. Langsam gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit, langsam beginnt das Morgengrauen. Die Kamera zoomt auf ein Feld, auf einen durch einen Pfahl markierten Punkt, korrigiert Sichtweite und -schärfe. Die Hintergrundstimmen von Kameramann und Regisseur verraten, das ist die festgestellte Brennweite des Fernrohrs, der Blick der Jäger 19 Jahre später, nur noch wenige Minuten bis zu dem Zeitpunkt, der nach meteorologischen und astronomischen Berechnungen den damaligen Sichtverhältnissen entspricht. Als Zuschauer stellen wir uns ein knapp hüfthohes Gerstenfeld anstelle des Maisfelds vor, versuchen die rot blinkenden Windräder am Horizont zu ignorieren. Unweigerlich entstehen Fragen nach den Grenzen dieser Rekonstruktion, nach dem Beweischarakter der Simulation. Und doch ist es, als wir den fraglichen Zeitpunkt erreichen, kaum vorstellbar, dass eine Gruppe von etwa 20 Flüchtlingen nicht als solche wahrgenommen wurde. Ein Gutachten kam zu demselben Schluss: eine Verwechselung von Menschen und Wildschweinen sei bei den Sichtverhältnissen zum Tatzeitpunkt so gut wie auszuschließen.

Als ein Jahr nach den tödlichen Schüssen der Prozess beginnt, sind die anderen Flüchtlinge, die damals mit Grigore Velcu und Eudache Calderar das Feld querten, nicht mehr in Deutschland. Sie wurden in den Monaten zuvor abgeschoben. Ihre Zeugenaussagen spielen vor Gericht keine Rolle. Philip Scheffner sucht einen von ihnen in Rumänien auf. Er schildert, wie die Gruppe der Flüchtlinge die Grenze querte und durch das Feld kroch. Als sie die Schüsse hörten, seien sie mit erhobenen Händen aufgesprungen und hätten laut gerufen. Er werde den Anblick der von den Schrotgeschossen Getroffenen nie vergessen, das viele aus den Köpfen schießende Blut, das Röcheln einer der beiden, der noch gelebt habe. Dann sei ein Wagen weggefahren, der am Feldrand stand, sagt er mit zittriger Stimme, der er wie das Filmpublikum lauscht. Ein ärztlicher Gutachter hatte im Obduktionsbericht festgestellt, dass einer der beiden Männer noch längere Zeit, womöglich mehrere Stunden gelebt habe. Nachdrücklich mit dem Kopf nickend bekräftigt der Arzt seine Aussage vor der Kamera. Von der bestätigenden Zeugenaussage des abgeschobenen Rumänen habe er nichts gewusst; das hätte seiner Untersuchung ein anderes Gewicht gegeben. Im Gerichtsverfahren spielte dieser Befund keine Rolle; wegen unterlassener Hilfeleistung wurde nie ermittelt.

 

Als über ein Jahr nach dem Tod der Flüchtlinge vor dem Landgericht Stralsund der Prozess gegen die angeklagten Jäger beginnt, fehlt ein Gutachten, das die Herkunft der Geschosse einem der beiden Gewehre zuordnet. Das Gericht vertagt den Prozess. Es dauert über drei Jahre, bis das Gutachten endlich vorliegt, ohne eindeutigen Befund. Der Freispruch mangels Beweisen wird später vom Oberlandesgericht Rostock bestätigt. Nach insgesamt drei Verhandlungstagen in sieben Jahren ist der Fall des gewaltsamen Todes von Grigore Velcu und Eudache Calderar juristisch abgeschlossen.

Ortswechsel. Die Witwe Grigore Velcus erinnert sich, wie die Familie 1989 nach Deutschland kam. Sie lebte in einem Asylbewerberheim in Gelbensande, Kreis Rostock. Die Stimmung der Deutschen sei eher feindselig gewesen, aber man habe sich trotzdem wohlgefühlt. Genau beschreibt sie die Straßen und Häuser in Gelbensande, die Lage des Flüchtlingsheims. Wir sehen Fotografien aus der Gegenwart, kaum Übereinstimmungen, an der Stelle des abgerissenen Heims stehen heute Einfamilienhäuser. Sie sehen aus wie überall in Deutschland, fehlerfreier Anstrich, akkurate Vorgärten, schützende Hecken. Durch menschenleere Straßen führt uns die Kamera auf den Dorffriedhof, ganz hinten am Waldrand sehen wir Spuren einer aufgelösten Grabstelle. Als Grigore Velcus Mutter starb, wurde sie hier begraben. Der Dorfpfarrer berichtet, wie das Grab seinerzeit immer wieder geschändet wurde. Nachdenklich hört er seiner Aussage zu und ergänzt, schließlich habe er wenigstens das Grabkreuz gerettet und in der Kirche aufgestellt. In seinen Händen hält er die Gemeindechronik, in die er Fotografien der verwüsteten Grabstelle eingeklebt hat. Im Juni 1992 reist Grigore Velcu ohne Erlaubnis nach Rumänien, um die nötigen Papiere für eine Überstellung des Leichnams seiner Mutter zu besorgen, der in Deutschland keine Totenruhe vergönnt ist. Bei seiner Rückkehr nach Gelbensande wird er beim illegalen Grenzübertritt von zwei Jägern erschossen.

Andere Flüchtlinge, die am 29. Juni 1992 mit Grigore Velcu und Eudache Calderar die Grenze überqueren, kommen in den Folgetagen in die überfüllte „Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber“ (ZAst) nach Rostock-Lichtenhagen, wo die Behörden auch eine Gruppe von Roma unter menschenunwürdigen Bedingungen auf einem Wiesengrundstück notdürftig unterbringen. Keine zwei Monate später, zwischen dem 22. und 25. August 1992, werden sie Opfer mehrtägiger fremdenfeindlicher Ausschreitungen. Unter einer Beifall klatschenden, „Ausländer raus“ und „Aufhängen“ rufenden, unüberschaubaren Menge von Schaulustigen greifen mehrere hundert Jugendliche die Flüchtlinge mit Steinen und Molotowcocktails an; die überforderte Polizei zieht sich zeitweilig vollständig zurück, überlässt das Geschehen dem gewalttätigen Mob, die ZAst wird evakuiert und wie auch das Asylbewerberheim in Gelbensande kurz darauf für immer geschlossen. Scheffner besucht einige der Roma-Flüchtlinge, die damals in Rostock waren, lässt sie von ihrer Angst in diesen Tagen berichten. Wir sehen und hören die Menschen, die damals auf einem Foto festgehalten wurden: Es zeigt eine junge Mutter mit ihren Kindern vor der evakuierten Flüchtlingsunterkunft, ihre Habseligkeiten in der Einkaufstüte eines deutschen Supermarkts mit der Aufschrift: „Hier können sie einpacken.“

 

„Der Progrom von Rostock-Lichtenhagen zog eine Welle von Angriffen und Brandanschlägen gegen Ausländer und Asylbewerber nach sich (…) Dabei geriet mehr und mehr eine Gruppe in den Mittelpunkt, die bei den Deutschen wie in anderen Ländern seit jeher das besondere Objekt von Aggressionen darstellte – die ‚Zigeuner‘, vor allem Roma aus Rumänien“, schreibt Ulrich Herbert in seiner Geschichte der deutschen Ausländerpolitik, in der er auch auf den Kontext einer „Asylkampagne der frühen 90er Jahre“ verweist, „die in einer denkbar zugespitzten Umbruchsituation ein klares Feindbild bot und durch die sich ständig überbietende Tonlage einen Enthemmungsprozess in Gang setzte“.[2] Auch auf Rostock-Lichtenhagen reagierten viele Medien und Politiker lediglich mit dem Ruf nach einer Einschränkung des Asylrechts im Grundgesetz. Noch im Dezember desselben Jahres einigten sich christlich-liberale Koalition und SPD auf den sog. „Asylkompromiss“, einer „faktischen Abschaffung des Asylgrundrechts“, wie Philip Scheffner in „Revision“ sagt. Die Bundesrepublik schloss kurz darauf Rückübernahmeabkommen mit vermeintlich sicheren Herkunfts- und Transitstaaten. Auch mit Rumänien gelang eine entsprechende Übereinkunft, in deren Folge jene Roma-Flüchtlinge, die im Juni 1992 Zeugen des Todes von Grigore Velcu und Eudache Calderar waren, noch vor dem Prozessauftakt abgeschoben wurden. In jedem Fall war der „Asylkompromiss“ die Geburtsstunde eines deutschen Exportschlagers, der sog. Drittstaatenregelung, die die Flüchtlinge heute in den Randstaaten des erweiterten EU-Schengenraums belässt, wenn sie denn die EU-Außengrenze überhaupt überwinden. Mit Hilfe der „Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen“, kurz FRONTEX, heißen die ortlosen Orte europäischer Flüchtlingsgeschichte heute nicht mehr Nadrensee oder Gelbensande, sondern liegen am Evros im griechisch-türkischen Grenzgebiet oder irgendwo auf dem Mittelmeer zwischen Libyen und Lampedusa. Grigore Velcu und Eudache Calderar aber wären heute Bürger der Europäischen Union.

In „Revision“ sehen wir auch die Vertreter der ermittelnden Behörden sowie den Anwalt eines der Jäger, wenn sie ihren Aussagen zuhören, sie bestätigen oder korrigieren. Nur selten weicht Scheffner von diesem Verfahren ab: Im Gespräch mit dem Anwalt stellt er die Frage, ob sein Mandant jemals Kontakt zu den Angehörigen der Erschossenen gesucht habe oder zumindest den Wunsch danach habe. Nein, davon wisse er nichts, sehen wir den Anwalt sagen. Er könne sich auch nicht vorstellen, warum sein Mandant mit den Hinterbliebenen Kontakt hätte aufnehmen sollen. Er habe sich absolut korrekt verhalten, sogar sofort nach dem Vorfall seine Haftpflichtversicherung über den Schaden informiert. Auf die irritierte Nachfrage des Regisseurs hin, sehen wir den Anwalt in aller Ruhe erklären, dass mögliche Schadensersatzansprüche natürlich auch unabhängig vom strafrechtlichen Verfahren bestanden hätten, wenn sie denn von den Betroffenen geltend gemacht worden wären. Nein, seines Wissens sei das heute nicht mehr möglich, denn nach den damaligen Verjährungsfristen seien die Ansprüche nach drei Jahren verjährt gewesen. Um die Mundwinkel des Anwalts sehen wir ein kleines Schmunzeln über die List deutscher Rechtsgrundsätze.

Auf dem Getreidefeld stehen heute Windräder, die sich gemächlich drehen. Eine friedliche Landschaft vor weitem Horizont irgendwo in Deutschland. Manchmal ist es windstill und die Räder verharren bewegungslos. Schnitt. Dann beginnen sie wieder zu surren, werfen ihre langen Schatten. Im Abendlicht wirken sie manchmal wie Fallbeile.

 

 

Der Film „Revision“ kommt voraussichtlich im Spätsommer 2012 in die Kinos.

Siehe dazu außerdem den Beitrag auf filmportal.de


[1] Die Information wird im Film für den Zeitraum bis August 2009 gegeben (14.687 Menschen). Im vorliegenden Rezensionstext die aktualisierte Angabe nach:http://fortresseurope.blogspot.com/2006/02/immigranten-die-europischen-grenzen_15.html

[2] Herbert,Ulrich: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge. München 2001, S. 315, 308.

Bilder in der Reihenfolge ihres Erscheinens im Text: Nr. 1) Pressebild 5, Nr. 2) Pressebild 1, Nr. 3) Pressebild 7, Nr. 4) Pressebild 3