von Jürgen Danyel

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1. Januar 2004

Kein Ort nirgends? Dieses nach dem bekannten Buch von Christa Wolf gewählte Motto eignet sich gut, um die festgefahrene Situation der nun schon geraume Zeit andauernden Diskussion um ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ zu beschreiben. Im Sommer 2002 startete der SPD- Bundestagsabgeordnete Markus Meckel eine politische Initiative gegen das vom Bund der Vertriebenen (BdV) unter dem Vorsitz von Erika Steinbach bereits seit einiger Zeit betriebene Projekt1 eines nationalen Dokumentations- und Erinnerungszentrums der Vertriebenen in Berlin. Meckel brachte seinerzeit Breslau als möglichen Standort eines alternativ angelegten und europäisch ausgerichteten Zentrums ins Spiel. Nur ein solches europäisches Projekt könne den Nachbarn ihr Misstrauen nehmen, die alte Aufrechnungsmentalität durchbrechen und die unterschiedlichen Ursachen und Kontexte von Vertreibungen und Zwangsmigrationen differenziert darstellen.2 Adam Krzeminski und Adam Michnik bekräftigten für die polnische Seite diesen Vorschlag mit dem Argument, dass die Erinnerung an die Vertreibung „dort stattfinden müsse, wo die Taten geschahen“, denn „diese Katastrophen“ seien „untrennbarer Teil der Geschichte und der Identität des Landes wie auch der Menschen, die dort leben“.3

Obwohl in der sich anschließenden, hitzig geführten Debatte in der deutschen, polnischen und etwas später auch tschechischen Öffentlichkeit eine ganze Reihe von wichtigen Fragen aufgeworfen wurde, rückte die Standortfrage unverkennbar in den Mittelpunkt. Immer neue Namen wurden in den Ring geworfen, mit guten Argumenten ihrer jeweils prominenten Befürworter. Stadtoberhäupter und Lokalpolitiker bewarben sich öffentlich um ein solches Zentrum. Breslau, Görlitz, Potsdam, Aussig, Brüssel, Straßburg, Lausanne, Sarajevo – scheinbar endlos die Reihe möglicher Standorte. Mit jedem neuen Ort, der ins Spiel gebracht wurde und wird, zeigt sich jedoch eines: Dem Problem, in welcher Form an die Zwangsmigrationen im 20. Jahrhundert erinnert werden soll, ist nicht allein mit der Wahl eines bestimmten Standorts beizukommen. Nicht zuletzt deshalb, weil durch diese Logik der Debatte die Frage in den Hintergrund geriet, ob ein Zentrum – also ein zentraler Dokumentations- und Erinnerungsort – überhaupt die angemessene Form ist, mit der man die Komplexität des Phänomens der Zwangsmigrationen und ethnischen Säuberungen im 20. Jahrhundert angemessen darstellen und künftigen Besuchern vermitteln kann. Nüchtern besehen, wird man zu dem Schluss kommen, dass die Befürworter einer europäischen Lösung gewollt oder ungewollt der vom BdV vorgegebenen Denkrichtung „aufgesessen“ sind. Hinzu kommt, dass die Vertriebenorganisation glaubhaft den Eindruck vermitteln konnte, sie greife mit ihrer Idee eines in Berlin zu errichtenden Zentrums in erster Linie die erinnerungskulturellen Bedürfnisse der Vertriebenen selber auf und suche nicht etwa mit dem Projekt ihren schwindenden politischen Einfluss zu retten. Dies mag insofern stimmen, als viele Vertriebene bzw. deren Nachfolgegeneration eine symbolische Aufwertung und Anerkennung ihres persönlichen Schicksals, die mit einer solchen zentralen Lösung in Aussicht gestellt wäre, sicher wünschen und begrüßen werden. Geht man andererseits aber davon aus, dass die Erinnerungswelt der Betroffenen in erster Linie um die „alte Heimat“ kreist, die sowohl als imaginierte, in Erinnerungsstücken, Überlieferungen und Ritualen festgehaltene Größe wie auch als realer Zie-ort des so genannten „Heimattourismus“ existiert, dürfen daran durchaus Zweifel angemeldet werden. In der bisherigen Diskussion ist es den Kritikern des BDV-Projekts (zu denen sich auch der Autor dieses Beitrages rechnet), nicht gelungen, ihre Bedenken und Einwände so zu formulieren, dass die Frage nach Alternativen zu einem „Zentrum“ – sprich einem zentralen Erinnerungsort – auch von den Betroffenen als echtes Problem angenommen werden könnte. Deshalb blieb die vom BDV suggerierte Interessenhomogenität der Vertriebenen unangefochten.

Samuel Salzborn hat in einer Zwischenbilanz insofern zu Recht darauf verwiesen, dass der Debatte bisher eine „substanzielle inhaltliche Kontroverse“ über eben jene Zentrumsidee gefehlt habe: „Statt über konkurrierende Interpretationen von Flucht und Vertreibung der Deutschen sowie die NS-Vorgeschichte zu streiten und dabei zunächst offen zu lassen, ob ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ überhaupt nötig ist (was bei einer ergebnisorientierten Debatte gleichermaßen eine Entscheidung für wie gegen ein solches Zentrum bedeuten könnte) erscheint fast täglich in den Medien ein neuer Vorschlag für einen Ort der Platzierung eines solchen ́Zentrums ́“.4 Jeder dieser Vorschläge beinhaltet nach Salzborn „auch eine symbolische Codierung“, mit der „zugleich individuelle und kollektive Assoziationen aus dem Unbewussten abgerufen und mobilisiert, ohne dass diese politisch hinterfragt oder historisch reflektiert würden“.5

Zu Recht wird der mediale Charakter der Kontoverse, der es bislang an einer breiteren gesellschaftlichen Rückkoppelung fehlt, als ein Problem thematisiert. Ebenso gibt es gute Gründe, an den von der Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ und dem BdV in der Debatte vertretenen Positionen auch weiterhin Kritik zu üben. Eine Zwischenbilanz der Debatte sollte jedoch auch ein Anlass dafür sein, jene Positionen und Standpunkte, die von Politik, Öffentlichkeit und Historiographie als Alternative zum BdV-Projekt vorgetragen wurden, einer selbstkritischen Betrachtung zu unterziehen. Darin mag mancher eine Schwächung der „europäischen Alternative“ sehen – wie man jenes keineswegs homogene Bündel an Positionen und Vorschlägen, Aufrufen und öffentlichen Stellungnahmen der BdV-Kritiker kurz zusammenfassen könnte. Die Debatte kann jedoch nur neue Dynamik erlangen, wenn sie von falschen Alternativen wegkommt und so manches in der Hitze der Debatte benutzte Schlagwort wie etwa der Begriff „europäische Erinnerung“ genauer auf seinen konkreten Inhalt hin diskutiert wird.

Zunächst muss selbstkritisch eingeräumt werden, dass die Historiker die von der BDV-Initiative seit 1999 in Gang gesetzte Entwicklung lange Zeit schlichtweg unterschätzt haben. Erst relativ spät wurde mit hektischen Tagungs- und Netzwerkaktivitäten reagiert. Dies ist eigentlich umso trauriger, als die Historiographie besonders seit 1989 mit zahlreichen Projekten und Untersuchungen (teilweise in Kooperation mit den Nachbarländern) dafür gesorgt hat, dass das Thema „Flucht und Vertreibung“ längst kein Tabu mehr ist.6 Mit neuen Fragestelungen und methodischen Ansätzen konnte die traditionelle nationale Sicht auf das Thema erfolgreich zugunsten einer komparativen Perspektive auf die europäischen Zwangsmigrationen, deren Ursachen und Langzeitfolgen erfolgreich überwunden werden. Die berechtigte Kritik daran, dass diese Leistung im Vertriebenenmilieu kaum oder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurde, ist die eine Seite. Auf der anderen Seite haben es die Zeithistoriker aber weitestgehend versäumt, ihren wachsenden Einfluss in der Öffentlichkeit zu nutzen, um neue Formen der musealen Dokumentation und der öffentlichen Erinnerung an „Flucht und Vertreibung“ ins Gespräch zu bringen. Mit solchen Überlegungen zur erinnerungskulturellen Umsetzung der neu gewonnenen transnationalen Sicht auf das Phänomen der Zwangsmigrationen hätte bereits wesentlich früher eine konkrete Alternative zum BDV-Projekt entwickelt werden können. Der Umbau des Deutschen Historischen Museums in Berlin und die in diesem Zusammenhang anstehende Neugestaltung der Dauerausstellung zur deutschen Geschichte wären zum Beispiel ein geeigneter Anlass gewesen, um eine gemeinsame Initiative von Historikern und Museumsexperten zur Neukonzipierung des Themas „Flucht und Vertreibung“ in Gang zu setzen – zumal im DHM das Problem einer Musealisierung der europäischen Zwangsmigrationen seit längerem diskutiert wird.7 Diese Möglichkeit wurde verschenkt.

Auch auf diesem Feld ging die Initiative vom BdV und der Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ aus, die frühzeitig einen Auftrag zur Erarbeitung einer detaillierten Konzeption für das „Zentrum gegen Vertreibung“ vergeben hatte.8 Letztere konnte von den Vertretern des Verbandes auf verschiedenen Diskussionsveranstaltungen präsentiert werden, ohne dass die Befürworter einer europäischen Variante dem mehr als die üblichen Bedenken entgegensetzen konnten. Sicherlich ist das von Markus Meckel in diesem Zusammenhang wiederholt vorgetragene Argument nicht ohne Plausibilität, für ein europäisches Zentrum könne noch kein detailliertes Konzept vorliegen, da dieses erst gemeinsam mit den Nachbarländern entwickelt werden müsse. Indirekt ist es aber ein deutliches Indiz dafür, dass die Kritiker des BDV und der Zentrums-Stiftung lange Zeit nur auf dessen Positionen reagiert haben, anstatt offensiv ein eigenes Konzept zu entwickeln und umzusetzen. Die Kritik am BDV-Konzept trug lange Zeit die Züge einer bloßen Verhinderungsstrategie. Im Zuge der dringend notwendigen Erarbeitung eines alternativen Konzepts für eine europäische Lösung wird sich zeigen, dass der wünschenswerte transnationale Ansatz eine Menge von Tücken im Detail enthält und insbesondere dessen museale und erinnerungskulturelle Umsetzung nicht einfach sein wird.

Als einer der ersten hat Karl Schlögel, ein bekanntermaßen ausgewiesener Kritiker der BDV-Initiative, darauf aufmerksam gemacht, dass das gut gemeinte Plädoyer für ein europäisch ausgerichtetes Zentrum in Breslau dem Gegenstand, an den es erinnern soll, eigentlich nicht angemessen ist: „Es gibt keinen einzelnen Ort, der von Hause aus dazu privilegiert wäre, repräsentativ für das europäische Vertreibungsgeschehen im Ganzen zu stehen – weder Breslau noch Berlin, noch irgendein anderer Ort. Es wäre eine vollständige Überforderung, wenn es sich ein einzelnes Zentrum vornähme, eine angemessene, gerechte Darstellung zu geben, in der sich auch alle anderen wiedererkennen. (...) Vertreibungen waren ad nationem gerichtet, sie richteten sich nicht gegen „den“ Europäer, sondern gegen Deutsche oder Polen, gegen Ungarn oder Juden. (...) Das Wissen um die Vertreibungserfahrung kann am besten an den Orten des Geschehens wieder angeeignet werden, also in den Herkunfts- und den Ankunftsgebieten, in der Alten Heimat und der Neuen Heimat. Dort fand die Entwurzelung, die schmerzliche Auflösung der Lebenswelten konkret statt, auf dieser Ebene spielte sich auch der Prozess des Sesshaftwerdens, der Heimatfindung, des Aufbaus einer neuen Lebenswelt ab.“9

Im Grunde genommen stünde ein wie auch immer geartetes europäisches Zentrum vor der schier unlösbaren Aufgabe, die ungeheure Komplexität der europäischen Zwangsmigrationen nicht nur differenziert darzustellen, sondern dies auch noch in einer Form zu tun, bei der sich die betroffenen Individuen mit ihren Lebensgeschichten wiederfinden. Christoph Kleßmann und der Autor dieses Beitrags regten deshalb in einer Wortmeldung zur Debatte an, das „Zentrum“ eher als eine Art europäischen Koordinations- und Begegnungsort zu verstehen, mit dem konkrete Erinnerungsprojekte in den ehemaligen Vertreibungsregionen, also vor Ort, gefördert bzw. deren Erfahrungen anderen zugänglich gemacht werden.10 Es könnte auch ein Ort sein, an dem Historiker aus den verschiedenen Ländern zusammen kommen, um neue Forschungsergebnisse auf diesem Feld zu diskutieren oder gemeinsam neue Projekte zu entwickeln. Die Frage war, ob nicht eine Wanderausstellung, die selbst „unterwegs ist, wie die Flüchtlinge und Vertriebenen“ und die Initiativen und Projekte vor Ort einbinden könnte, eher eine Lösung für das geschilderte Problem bieten könnte.11

Genau besehen, ist die Debatte an einem Punkt angekommen, der ähnlich auch in einer bestimmten Phase der Diskussion um das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ auf der Tagesordnung stand: Damals gab es viele Stimmen, die dafür plädierten, doch eher die vielen bereits vorhandenen Mahnmale, Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen zu stärken, als ein neues gigantisches Mahnmal mit Dokumentationszentrum zu errichten. Der Bezug der jetzigen Debatte zu den Auseinandersetzungen um das zentrale Holocaust-Mahnmal ist jedoch auch noch in einer anderen Richtung interessant. Es ist in letzter Zeit an verschiedener Stelle über den neuen nationalen Opferdiskurs der Deutschen diskutiert worden, mit dem die Themen Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung, Massenvergewaltigungen und Kriegsgefangenschaft in einem bisher nicht gekannten Maße in das Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt sind.12 Die Selbstverständlichkeit, mit der Erika Steinbach und andere Vertreter des BdV für die Erinnerung an die deutschen Opfer von Flucht und Vertreibung einen erinnerungspolitischen Rang einklagen, der bisher nur den Opfern des NS-Regimes zugestanden wurde, kennzeichnet in der Tat eine bemerkenswerte Zäsur.13 Um die Mitte Berlins als Erinnerungsraum konkurrierten zunächst die verschiedenen Opfergruppen des NS-Regimes – eine Entwicklung, die die Dimensionierung des Holocaust-Mahnmals wie ein Katalysator beschleunigt hat. Inzwischen melden die Vertriebenen als deutsche Opfer solche Ansprüche an und bedienen sich dabei ähnlicher Argumente wie die NS-Opfer. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass andere Opfergruppen dieser erinnerungspolitischen Strategie folgen werden, wenn sie bei den Vertriebenen funktionieren sollte. Der berühmte worst case wäre ein riesiger Park sich gegenseitig kommentierender und relativierender Mahnmale in der Mitte Berlins, der unfreiwillig zur Karikatur des zerrissenen Selbstbildes des Deutschen würde. Diese Entwicklung bedarf der stärkeren Reflexion und kritischen Begleitung durch die Zeitgeschichte und die Zeithistoriker. Auch dies ist eine Botschaft der Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen.

Die Historiker, insbesondere deren jüngere Generation, haben seit 1989 dazu beigetragen, dass das Thema Flucht und Vertreibung längst kein Tabubereich der Forschung mehr ist. Eine solche Enttabuisierung wäre auch für den Umgang der Zeitgeschichtsforschung mit den Vertriebenen als in sich durchaus differenzierter Gruppe wünschenswert. Noch immer scheint zumindest für die Zunft in ihrer Breite zu gelten, was Peter Becher bereits vor einigen Jahren über den Schwierigkeiten der Linken (ein zugegebenermaßen inzwischen unscharf gewordener Begriff) formuliert hat: Viele Linke hätten eine ausgesprochen diffuse Vorstellung von den Vertriebenen. Diese würden für sie zu einer „unstrukturierten Masse, die von chauvinistischen Funktionären geführt wird, sozusagen von Mussolinis und Francos im Taschenformat“.14 Sich mit der fachlichen Diskussion auch im Fall von Flucht und Vertreibung wieder stärker in Beziehung zur Erfahrungs- und Erlebniswelt der Betroffenen zu setzen, könnte ein durchaus produktives Unterfangen sein und könnte vielleicht den Alleinvertretungsanspruch der Vertriebenenverbände in Sachen Erinnerung aufbrechen helfen. Dass dies funktionieren kann, hat sich auf dem Feld der Debatte um eine angemessene Erinnerung an die sowjetischen Internierungslager gezeigt, wo etwa in den Gedenkstätten Buchenwald und Sachsenhausen museale Lösungen gefunden wurden, die inzwischen auch von den überlebenden Opfern der Internierungslager und ihren Verbänden akzeptiert werden und trotzdem keine Relativierung der NS-Verbrechen in den Konzentrationslagern zulassen.

Insgesamt lässt sich noch eine ganze Reihe von Fragen formulieren, die aus der Sicht der zeithistorischen Forschung im Kontext der Debatte aufgegriffen und diskutiert werden sollten. Kaum reflektiert wurden bislang die Zäsuren und Wandlungen der kollektiven Erinnerung an Flucht und Vertreibung, die sich seit 1989 in den neuen Bundesländern vollzogen haben. In der ostdeutschen Gesellschaft bestand nach Jahren des verordneten Schweigens über das Thema „Flucht und Vertreibung“ ein weit verbreitetes Bedürfnis, sich mit dem Thema öffentlich auseinanderzusetzen. Offen ist in diesem Zusammenhang, ob es nicht eine Alternative zu einem bloßen Transfer der Organisationsstrukturen und Erinnerungsrituale aus dem westdeutschen Milieu der Vertriebenverbände in die neuen Bundesländer gegeben hätte – zumal in Teilen der ostdeutschen Bürgerbewegung eine beachtliche Sensibilisierung für das Thema und seine Rolle im Dialog mit den polnischen und tschechischen Nachbarn vorhanden war. Vielleicht wurde hier eine Chance versäumt, das Bedürfnis nach Erinnerung und die Verständigung mit den Nachbarn auf neue Weise miteinander zu verbinden.
Aufzuarbeiten wäre auch jene Zurückhaltung, die sich Historiographie und Öffentlichkeit in den siebziger und achtziger Jahren im Westen bei dem Thema „Flucht und Vertreibung“ auferlegt haben. Diese Form der „political correctness“ hat schließlich dazu geführt, dass das Thema bis auf wenige Ausnahmen den Vertriebenverbänden und der in ihrem Umfeld angesiedelten Geschichtsschreibung über die ehemaligen Ostgebiete überlassen wurde. Aus jener Zeit rührt auch die sich hartnäckig behauptende falsche Alternative, nach der sich die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen und die Erinnerung an Flucht und Vertreibung gegenseitig ausschließen müssen.

Das Nachdenken über das Thema sollte sich auch nicht allein auf das unmittelbare Geschehen der Zwangsmigrationen und seine direkten Folgen beschränken. Die Regionen Europas, aus denen Menschen flüchten mussten bzw. aus denen sie gewaltsam vertrieben wurden, haben eine Geschichte nach der Vertreibung. Diese Geschichte ist noch kaum erforscht. Die dort heute lebenden Menschen müssen aktiv in ein solches europäisches Erinnerungsprojekt einbezogen werden. Nur so können diese Regionen ihre verlorene Geschichte zurückerobern. Schließlich bleibt festzuhalten, dass die Erinnerung an Flucht und Vertreibung für alle beteiligten Seiten ein schmerzhafter und konfliktreicher Vorgang bleiben wird – auch bei den nicht mehr direkt betroffenen nachfolgenden Generationen. Diesen Konfliktstoff kann man nicht wie im diplomatischen Protokoll durch Sprachregelungen und Höflichkeiten entschärfen, wie es manch oberflächliche Rede von „Versöhnung“ im Bereich der Politik suggeriert. Aufgabe der letzteren ist es vielmehr, dass die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und ihren Nachbarländern so tragfähig sind, dass sie einen offenen Umgang mit dieser schmerzhaften Geschichte aushalten.

Die Debatte um ein europäisches Erinnerungsprojekt bedarf also der Fortführung. Sie sollte sich dabei jedoch von falschen Alternativen lösen und die Maßstäbe für ihre Ziele aus sich selbst heraus gewinnen, anstatt sie sich von anderen vorgeben zu lassen.

 

Zitierempfehlung:

Jürgen Danyel, Deutscher Opferdiskurs und europäische Erinnerung. Die Debatte um das „Zentrum gegen Vertreibungen“, in: Zeitgeschichte-online, Thema: Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung, hrsg. von Jürgen Danyel, Januar 2004,
URL: http://www.zeitgeschichte-online.de/md=Debatte-Vertreibung-Danyel

 

1 Träger des vom BDV geforderten Zentrums in Berlin ist die im September 2000 gegründete gemeinnützige Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ mit Sitz in Wiesbaden, die gemeinsam von der BdV-Vorsitzenden Erika Steinbach und dem SPD-Politiker Peter Glotz geleitet wird. Weitergehende Informationen zu dem Projekt sowie zu dem von der Stiftung berufenen wissenschaftlichen Beirat liefert die offizielle Website der Stiftung unter der URL: http://www.z-g-v.de.
2 Vgl. dazu Markus Meckel, Ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ in Breslau?!, in: Rzeczpospolita v. 07.03.2002. Deutscher Originaltext des Artikels unter der URL: http://www.markus-meckel.de/doc/3_poli/polen/02-03-07zentrum_vertreibung....
3 Adam Krzeminski/Adam Michnik, Wo die Geschichte europäisch wird. Das Zentrum gegen Vertreibungen gehört nach Breslau, in: Die ZEIT v. 20.06.2002.
4 Vgl. Samuel Salzborn, Geschichtspolitik in den Medien: Die Kontroverse über ein „Zentrum gegen Vertreibungen“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), S. 1129.
5 Vgl. Ebd.
6 Siehe dazu die Hinweise bei Dieter Bingen/Wáodzimierz Borodziej/Stefan Troebst (Hrsg.), Vertreibungen europäisch erinnern? Historische Erfahrungen – Vergangenheitspolitik – Zukunftskonzeptionen (Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts, Bd. 18), Wiesbaden 2003; Jürgen Danyel/Philipp Ther (Hrsg.), Flucht und Vertreibung in europäischer Perspektive, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG), 51 (2003), H. 1.
7 Siehe dazu Monika Flacke/Ulrike Schmiegelt, Mythen der Nationen. Kampf der Erinnerungen. Über die Schwierigkeit der Musealisierung europäischer Zwangsmigrationen, in: Danyel/Ther (Hrsg.), Flucht und Vertreibung in europäischer Perspektive (Anm. 6), S. 54-58.
8 Siehe die Ausstellungskonzeption unter URL: http://www.z-g-v.de/zentrumberlin/dauerausstellung.htm
9 Vgl. Karl Schlögel, Die Düsternis in neuem Licht. Die Geschichte der Vertreibung passt nicht in ein Zentrum. Die Erinnerung muß gelebt werden, in: Die ZEIT v. 24. 7.2003.
10 Vgl. Jürgen Danyel/Christoph Klessmann, Unterwegs wie die Flüchtlinge und Vertriebenen. Zur Debatte über ein europäisches Zentrum gegen Vertreibungen, in: Danyel/Ther (Hrsg.), Fluch und Vertreibung in europäischer Perspektive, S. 34.
11 Siehe dazu auch Stefan Troebst, Unterwegs in Europa. Wissenschaftler plädieren dafür, die Vertreibungen europäisch zu erforschen und erinnern, in: Freitag, v. 30.01.2004, S. 6.
12 Siehe dazu Nicolas Berg, Eine deutsche Sehnsucht. Die Entlastungsstrategie ist nicht neu: Seit 1945 gibt es den versuch, neben die Verbrechen der Nazis die Leiden des deutschen Volkes zu stellen, in: Die ZEIT v. 06.11.2003, S. 38.
13 In eine ähnliche Richtung weist der von der Fraktion der CDU/CSU in den Bundestag eingebrachte Antrag „Förderung von Gedenkstätten zur Diktaturgeschichte in Deutschland – Gesamtkonzept für ein würdiges Gedenken aller Opfer der beiden deutschen Diktaturen“, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Drucksache 15/1874, URL:
http://dip.bundestag.de/btd/15/018/1501874.pdf.
14 Vgl. Peter Becher, Die deutsche Linke und die Vertriebenen, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 47 (2003), S. 649-653.