von Daniel Stahl

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12. Februar 2018

Mitte vergangenen Jahres machte das chilenische Nationalarchiv Akten über nationalsozialistische Spionagetätigkeit in Chile während des Zweiten Weltkriegs zugänglich. Die freigegebenen Dokumente, die auch online einsehbar sind, stammen aus dem Bestand der Policía de Investigaciones, einer Behörde, die zwischen 1941 und 1945 dafür zuständig war, in Zusammenarbeit mit dem FBI und anderen lateinamerikanischen Stellen NS-Aktivitäten auf dem Kontinent aufzudecken. Es ist nicht das erste Mal, dass ein lateinamerikanischer Staat Akten zum Thema Nationalsozialismus zugänglich macht. Auch Argentinien und Brasilien haben bereits umfangreiches Material veröffentlicht. Jede dieser Archivöffnungen verlief anders und die Umstände sagen viel darüber aus, wie die Geschichte des Nationalsozialismus mit der Geschichte des jeweiligen Landes verknüpft ist.

Am meisten Aufsehen erregte der Fall Argentinien – national wie international. Die Auseinandersetzung mit tatsächlichen und vermeintlichen NS-Verwicklungen hat die Geschichte des Landes während der gesamten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begleitet. Wie in allen lateinamerikanischen Staaten waren hier während des Zweiten Weltkriegs Spione des „Dritten Reiches“ am Werk, die Deutsche Botschaft und deutsche Kulturinstitutionen betrieben Propaganda. Politiker des linksliberalen Spektrums werteten diese Umtriebe als Beleg dafür, dass das autoritäre, rechte Regime verschiedener Militärs Sympathien für die Nationalsozialisten hegten.[1]

Vergleichbare Vorwürfe waren auch aus anderen Staaten zu hören, doch im Fall Argentiniens trat eine außenpolitische Komponente hinzu. In den USA fürchteten State Department und Geheimdienste, dass sich der Faschismus auf dem Kontinent ausbreiten und letztlich auch die USA bedrohen könnte. Deshalb setzte Washington die lateinamerikanischen Regierungen unter Druck, die Beziehungen zu den Achsenmächten abzubrechen. Diese Politik war nicht nur sicherheitspolitisch, sondern auch wirtschaftspolitisch motiviert, zielte sie doch darauf, den wirtschaftlichen Einfluss der USA auf dem Kontinent zu stärken. Bis auf Argentinien, das die eigene Souveränität gefährdet sah, kamen alle Regierungen den Forderungen der USA nach, was in Washington als Beleg für die Richtigkeit der Vorwürfe argentinischer Oppositionspolitiker gewertet wurde. Vor diesem Hintergrund und angesichts des sich abzeichnenden Sieges der Alliierten in Europa, begannen amerikanische Geheimdienste ab 1943 vor einer Flucht von NS-Funktionsträgern nach Argentinien zu warnen.[2]

Der populistisch auftretende Arbeits- und Kriegsminister Oberst Juan Perón, dessen Politik aus einem Mix aus Massenmobilisierung, Sozialmaßnahmen und Einschüchterung politischer Gegner bestand, galt dabei sowohl den argentinischen Oppositionellen als auch den Amerikanern als Vertreter eines argentinischen Faschismus – seine Wahl zum Präsidenten 1946 verstanden sie als Niederlage in einem Kampf, der in Europa gerade gewonnen worden war. Während Peróns gesamter Präsidentschaft versuchten seine Gegner ihn mit Verweisen auf seine Nähe zu Nationalsozialisten zu diskreditieren. Nach seinem Sturz 1955 setzten sie eine Untersuchungskommission ein, die nationalsozialistische Umtriebe in Argentinien aufdecken sollte.[3]

Der Peronismus blieb auch nach 1955 eine wichtige politische Kraft. Und die regelmäßig in Argentinien aufgespürten NS-Verbrecher sorgten dafür, dass die Nähe dieser Bewegung zu den Nationalsozialisten nicht in Vergessenheit geriet. Denn obwohl sich der Peronismus in vielen Punkten vom europäischen Faschismus unterschied, so war Peróns Fluchthilfe für die Nationalsozialisten nicht nur dem Wunsch geschuldet, vom technischen Knowhow der Deutschen zu profitieren, sondern auch seiner Sympathie für die NS-Ideologie.[4]

Als während der 1990er Jahre mit Carlos Menem ein Peronist die Präsidentschaft innehatte, wurde diese Vergangenheit zu einem Politikum ersten Ranges. Um die eigene Partei als geläutert darzustellen, machte Menem alle Akten über NS-Verbrecher in Argentinien zugänglich und setzte eine internationale Historikerkommission ein, die die NS-Flucht nach Südamerika genauer untersuchen sollte. Diese Maßnahmen stießen international auf große Resonanz. Die innenpolitische Debatte, ob damit der Suche nach der Wahrheit über die faschistischen Wurzeln des Peronismus Genüge getan war, hielt bis zum Ende der Präsidentschaft Menems an.[5]

Die Zugänglichmachung der eingangs erwähnten chilenischen Akten verlief hingegen völlig unspektakulär. Wer in den offiziellen Verlautbarungen nach den Hintergründen und Motiven dieser Entscheidung sucht, wird enttäuscht. Es drängt sich der Eindruck auf, als handele es sich um einen Zufallsfund. Eine Debatte wurde nicht angestoßen. Im Gegensatz zu Argentinien sind die nationalsozialistischen Aktivitäten während des Zweiten Weltkrieges in Chile nicht mit der Geschichte einer politischen Kraft verknüpft, die heute noch von Bedeutung wäre.

Zwar gab es auch in Chile Sympathien für die Nationalsozialisten, doch die Mitte-Links-Regierung ging effektiv gegen nationalsozialistische Umtriebe vor. Im Oktober 1942 gelang es der Policía de Investigaciones ein unter Beteiligung der deutschen Botschaft aktives Spionagenetz des „Dritten Reiches“ auszuheben – über die genauen Umstände geben die nun freigegebenen Akten ausführlich Auskunft. Daraufhin brach Chile 1943 die diplomatischen Beziehungen ab. Diese Maßnahmen wurden in Washington mit großer Befriedigung registriert. FBI-Direktor Edgar Hoover lobte die chilenische Polizei für ihren wichtigen Beitrag zur Sicherheit des Kontinents.[6] Dementsprechend fehlt den nun veröffentlichten Akten die Brisanz und jegliches politisches Skandalisierungspotential.

Wenn in den letzten Jahren in Chile über das Thema Nationalsozialismus diskutiert wurde, dann in Form einer Kritik an den Linken. Im Jahr 1972 hatte der sozialistische Präsident Salvador Allende dem Nazi-Jäger Simon Wiesenthal auf eine Anfrage beschieden, dass eine Auslieferung des NS-Verbrechers Walther Rauff kaum möglich sein werde. Allendes Antwort wurde unter Heranziehung seiner frühen Schriften als Beleg für seine ideologische Nähe zum Nationalsozialismus gewertet. Solche ohnehin sehr konstruierten Interpretationen blenden aus, dass Allende aufgrund der Rechtslage nicht in der Lage gewesen wäre, Wiesenthals Bitte um Auslieferung nachzukommen.[7]

Auch in Brasilien verfügt das Thema der NS-Verwicklungen kaum über Skandalisierungspotential. Während des Krieges schränkte die rechtspopulistische Regierung Getulio Vargas’ die Freiheiten der im Land lebenden Deutschen massiv ein – ein Vorgehen, das sich problemlos in seine nationalistische Politik fügte, gegenüber Washington aber als Beleg für den antifaschistischen Charakter seiner Regierung verkauft werden konnte. Brasilien entsandte eigene Truppen und als nach 1945 die Immigration aus Europa einsetzte, hielt sich seine Regierung penibel an alliierte Maßnahmen, die eine Flucht von NS-Größen verhindern sollten. Dass dennoch NS-Verbrecher nach Brasilien gelangten, kann nicht der Regierung Vargas zugeschrieben werden.[8]

Als in den 1990er Jahren die Debatten über die peronistischen Verwicklungen im Nachbarland für Furore sorgten, forderten die jüdischen Gemeinden in Brasilien ebenfalls eine Untersuchungskommission. Die Regierung kam dieser Forderung nach. Zudem wurden die Akten der berüchtigten Polizeieinheit DEOPS, die sowohl für die Kommunisten- als auch Faschistenbekämpfung zuständig gewesen war, HistorikerInnen zugänglich gemacht. Allein – die Ergebnisse förderten nichts zutage, was politisch brisant gewesen wäre.[9] Insofern bekräftigen das Beispiel Brasilien und die Reaktionen auf die jüngsten Aktenfunde in Chile den Befund: In keinem anderen lateinamerikanischen Land spielte die NS-Thematik eine so wichtige Rolle für die Innenpolitik wie in Argentinien.

 
Mehr dazu: Daniel Stahl, Täterschutz und Strafverfolgung. Staatliche Akten in den Gerichtsverfahren gegen südamerikanische Militärs, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 10 (2013), S. 140-147. 
 
 

[1] Olaf Gaudig, Peter Veit: Hakenkreuz über Südamerika. Ideologie, Politik, Militär. Berlin 2004; Jorge Nállim: Del antifascismo al antiperonismo: „Argentina Libre”, „…Antinazi” y el surgimiento del antiperonismo político e intelectual, in: Marcela García Sebastiani (Hg.): Fascismo y antifascismo. Peronismo y antiperonismo. Conflictos políticos e ideológicos en la Argentina (1930-1955). Madrid/Frankfurt a.M. 2006, S. 77-105.
[2] Ronald Newton: The „Nazi Menace“ in Argentina, 1931-1947. Stanford 1992.
[3] Callum MacDonald: The Braden Campaign and Anglo-American Relations in Argentina, 1945-1946, in: Guido Di Tella, Cameron D. Watt (Hg.): Argentina between the Great Powers. Oxford 1989, 1939-1946, S. 137-157; Daniel Stahl: Nazi-Jagd. Südamerikas Diktaturen und die Ahndung von NS-Verbrechen. Göttingen 2013, S. 58-82.
[4] Zur Bedeutung des technischen Knowhows siehe Holger Meding: Flucht vor Nürnberg? Deutsche und österreichische Einwanderung in Argentinien 1945-1955. Köln/Weimar/Wien 1992. Zur Rolle der Ideologie siehe Stahl: Nazi-Jagd, S. 35-58.
[5] Stahl: Nazi-Jagd, S. 319-363.
[6] Siehe die veröffentlichten Akten. Zum Kontext siehe Olaf Gaudig, Peter Veit: „... und morgen die ganze Welt!“ Der Nationalsozialismus in Chile 1932-1943, in ZfG 42 (1994), S. 507-524.
[7] Dieses Argument findet sich besonders markant bei Victor Farías: Salvador Allende. Contra los judíos, los homosexuales y otros „degenerados“. Barcelona 2005.
[8] Ruth Stanley: Rüstungsmodernisierung durch Wissenschaftsmigration? Deutsche Rüstungsfachleute in Argentinien und Brasilien, 1947-1963. Frankfurt a.M. 1999.
[9] Siehe u.a. Maria Luiza Tucci Carneiro (Hg.): Inventário DEOPS Módulo I: Alemanha. São Paolo 1997; „Zwei Schatzkisten und das Tagebuch eines 1983 verstorbenen Deutschen beschäftigen derzeit die Behörden in São Paulo“.