von Jaroslav Šonka

  |  

1. Juli 2004

In diesem Beitrag verfolge ich das Ziel, die kanonisierte Erinnerung an den Wi­derstand gegen den Nationalsozialismus in Tschechien und Deutschland zu ver­gleichen. Ich möchte zeigen, dass die geographische Nähe beider Länder und eine dadurch bedingte Verflechtung ihrer Geschichte nicht automatisch das gegensei­tige Wissen und Verstehen fördern. Neben den klassischen Stereotypen wurde das Verhältnis beider Seiten von den kulturellen Überlebensinteressen der jeweiligen Nation bestimmt, die nicht selten in einen auf Dominanz und Abgrenzung ausge­richteten Nationalismus umgeschlugen. Eine oft selektive Kommunikation der Nachbarn und Partner ist das Ergebnis dieser historischen Entwicklung, selbst wenn dies in der heutigen Situation eines sich integrierenden Europas keinen Sinn mehr hat. Als Beispiel für das unterschiedlichen Verständnisses gleicher ge­schichtlicher Perioden möchte ich die Rolle des Exils und des Widerstandes in tschechischer und deutscher Sicht erläutern. Gewiss könnte eine intensivere Auf­klärung über diese Unterschiede die Möglichkeiten der Empathie zwischen Tsche­chen und Deutschen verstärken und so auch eine gemeinsame Beurteilung des Kriegsgeschehens, der Demokratie und Freiheit in Europa sowie der Vertreibung fördern. Auf dem Weg zu diesem Ziel liegt jedoch viel Arbeit im Bereich deskripti­ver Erforschung, aber auch auf dem Gebiet der pädagogischen, medialen und po­litischen Vermittlung des erworbenen Wissens vor uns.

 

Im stillen Protektorat

„Attentat auf Hitler. Wir erfahren davon im Laufe des Nachmittags. Das äußere Leben der Stadt geht unverändert weiter. Ich beobachte in deutschen wie in tschechischen Kreisen eine auffällige Zurückhaltung und gewinne den Eindruck, dass man sich geflissentlich bemüht, jedes Gespräch über das Attentat nach Möglichkeit zu vermeiden“, schrieb Wilhelm Dennler, ein hoher Beamter des Protektorats Böhmen und Mähren in seinen Erinnerungen. Und einen Tag später notierte er: „Erst jetzt höre ich, dass der gestrige Tag um ein Haar auch hier in Prag zu ähnlichen schwerwiegenden Ereignissen geführt hätte, wie sie sich in Berlin abgespielt haben.“[1] Die von ihm beschriebene Episode ist jedoch gegenüber dem Geschehen in Berlin eher eine Anekdote – zwei Personen leben ihre gegenseitige Antipathie aus. Auch im Protek­torat sollte die Macht durch die Wehrmacht übernommen werden. Es kam zunächst nur zu einer Verhaftung. Der bei Deutschen und Tschechen verhasste persönliche Referent des Staatsministers K. H. Frank, Dr. Giese, besuchte General Ferdinand Schaal, der ihn mit inne­rer Genugtuung einige Zeit fest hielt. Dann wurde er jedoch über das Scheitern des Attentats unterrichtet. Der mit Entschuldigungen freigelassene Beamte ließ bei Frank sofort Maßnah­men gegen den General ergreifen, womit der „20. Juli 1944 in Prag“ auf offizieller Ebene beendet war. Allerdings kam es in den nächsten Tagen auch zu Repressalien: Kommunisten und Sozialdemokraten wurden verhaftet, und K. H. Frank setzte einige konstruierte Ge­schichten in Umlauf, die zum Teil bis heute nicht richtig aufgearbeitet sind.[2]

Seltene Erinnerungen

Fünf Jahre später, im Abseits der kommunistisch gleichgeschalteten Tschechoslowakei, schrieb der ehemalige Botschafter Mastný in sauberer Handschrift seine Erinnerungen auf, in denen er sich auf seine Aussagen in einem der Nachkriegsprozesse bezieht, wo Mitarbeiter der Protektoratsverwaltung wegen des Verdachtes der Kollaboration angeklagt wurden. Er konnte damals kaum annehmen, dass diese Aufzeichnungen jemals gedruckt werden.[3] Mastný erwähnte dort seine Kontakte zu Deutschen, die er in seiner Zeit als Botschafter in Berlin in den Jahren 1938/39 hatte und die ihm nach 1945 als Kollaboration zur Last gelegt wurden: „[...] will ich hier noch, [...], drei Reichsdeutsche erwähnen, mit denen ich im Laufe beinahe der ganzen Okkupationszeit nicht nur einen schriftlichen, sondern auch persönlichen Kontakt während ihrer gelegentlichen Aufenthalte in Prag hatte. Es waren zwei mir aus Berlin sehr gut bekannte Freunde: Graf M. K. Trautmannsdorf und der Berliner Anwalt und Notar Dr. Münch und neben ihnen auch der mir durch Trautmannsdorf empfohlene Freund Dr. Zimmermann. Alle drei haben mich geheim über die Entwicklung der inneren Verhältnisse in Deutschland unterrichtet [...] Graf Trautmannsdorf [...] war an der Juli-Verschwörung gegen Hitler betei­ligt, über deren Vorbereitung ich von ihm unterrichtet wurde. Nach dem misslungenen Attentat meldete sich Trautmannsdorf nicht mehr und sein Schicksal ist mir nicht bekannt.“ Mastný starb 1954 und hat bis zu seinem Tod keine Möglichkeit gehabt, Genaueres über das Geschehen um seinen Freund (Trautmannsdorf starb 1965) in Erfahrung zu bringen. Nur über die Verhaftung und das Todesurteil eines weiteren Oppositionellen, Albrecht Haushofer, war Mastný informiert. Mit den ihm zur Verfügung stehenden Quellen im Lande konnte er kaum mehr wissen. Das Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 gehörte in der erneuerten Tschecho­slowakei nach dem Krieg nicht zu den Themen, die man hätte verfolgen (und öffentlich prä­sentieren) können oder wollen. Der Krieg war erst kurze Zeit vorbei, die Stimmung machte alle Bezüge zum Geschehen in Deutschland unmöglich. Es wurde lediglich über die Nürnber­ger Prozesse geschrieben.

 

Sollen sie sich umbringen

Diese Stimmung des Desinteresses fing allerdings schon früher an. Ein Edvard Beneš nahe stehender Politiker, Prokop Drtina, kommentierte den Umsturzversuch in Deutschland unter dem Pseudonym Pavel Svatý aus London in der BBC am 23. Juli 1944 folgendermaßen: „Er­eignisse, die sich gerade jetzt in Deutschland abspielen, und deren Zeugen ihr zu Hause und wir hier im Ausland nur teilweise sind, weil Himmler und die Gestapo uns verwehren, dass wir alles in voller Wahrheit erfahren, was sie hinter ihrem blutigen Vorhang verstecken, diese Ereignisse bedeuten jedenfalls, und sei ihr weiterer Verlauf beliebig, dass das nazistische Deutschland gerade in das Stadium seiner Todeskrämpfe eingetreten ist. Diese Krämpfe kön­nen noch eine Weile dauern, können sich noch lang ziehen, aber können durch nichts als den Tod enden, weil es eben Todeskrämpfe sind.“[4]

 

Deutscher Wald in Prag

Es sollte mehr als 50 Jahre dauern, bis das Thema erneut aufgegriffen wurde und die Prager Historiographie mit neuen Entdeckungen aufwarten konnte. Alena Míšková beschrieb weitere Schicksale dieser Zeit in ihrer Untersuchung zur Geschichte der Prager Deutschen Universi­tät, deren Rektor Friedrich Klausing am 6. August 1944 Selbstmord beging. In einem Brief verabschiedete er sich von seinen drei Söhnen und empfahl einem von ihnen, Leutnant Fried­rich Karl Klausing, falls er noch eine Waffe habe, die letzte Kugel gegen sich selbst zu rich­ten. Friedrich Karl gehörte zu den Verschwörern. In merkwürdigem Kontrast dazu legte der scheidende Vater dem zweiten seiner Söhne die Pflege des deutschen Waldes und seiner Ideen ans Herz. Die Ideen seines bedeutenden Sohnes hat er demgegenüber nicht begreifen können.[5] Die Erwähnung dieser Episode ist jedoch noch kein Indiz für eine intensivere tschechische Beschäftigung mit dem Thema, und sie enthält natürlich keine umfassendere Würdigung der Ereignisse des Jahres 1944, die sich nur annähernd mit der deutschen Helden­verehrung messen ließe. Nach einer deutsch-tschechischen Konferenz im Jahr 1992 wurde der Vortrag von Dietmar Neutatz auf Tschechisch veröffentlicht[6], der in aller Kürze den national­konservativen Widerstand neben dem Kreisauer Kreis, dem Exil und anderen Gruppen dar­stellt. Kleinere Arbeiten zum Thema veröffentlichte auch Jan B. UhlíĜ.[7] Eine Monographie zu den tschechisch-deutschen Widerstandsbeziehungen fehlt indes, obwohl dieses Feld der Be­ziehungsgeschichte sicher für heutige deutsch-tschechische Kontakte von besonderer Bedeu­tung sein könnte.

 

Geteilte Geschichte

Was für Ursachen hat diese so unterschiedliche Perspektive auf die Ereignisse des 20. Juli 1944, bei der tschechische Politiker bis heute bei ihren Besuchen sorgfältig zwischen den Ge­denkstätten in Berlin unterscheiden – während Plötzensee akzeptabel ist, wird der Bend­lerblock gemieden? Um diese Frage zu beantworten, lohnt es sich, für die Zeit nach 1933 einige Schlüsselereignisse der tschechischen und deutschen Geschichte aufzuzeigen und diese gewissermaßen in einer synchronoptischen Perspektive zu behandeln. Dazu bedarf es weniger des aufwändigen Aktenstudiums als eines Blicks in den Kalender. Weiterhin muss dabei auf die vielen Interpretationen eingegangen werden, die, seien sie nun unmittelbar nach den Er­eignissen oder später zustande gekommen, erst nebeneinander gestellt werden müssen, um die richtigen Fragen für ein weitergehendes Quellenstudium formulieren zu können. Um es vorauszuschicken: In diesem Bereich deutscher und tschechischer Geschichte ist es äußerst schwer, überhaupt einen Berührungspunkt der Darstellungen zu finden. Warum? Der 20. Juli 1944 „passte“ von Anfang an nicht in das Denkmuster der tschechoslowakischen Exilregie­rung (und es soll hier nicht diskutiert werden, wie marginal das Attentat auf Hitler auch Winston Churchill erschien, der sich erst nach dem Krieg korrigierte). Der seit 1945 wach­sende Einfluss des Kommunismus, 1948 durch den erfolgreichen Putsch gekrönt, hat die Sicht auf den 20. Juli noch weiter vernebelt. Lange Zeit (seit 1972) war das einzige Standardwerk in tschechischer Sprache eine Übersetzung aus der Werkstatt der DDR-Historiker.[8] Über Kurt Finker und sein Buch ist lediglich anzumerken, dass solche Positionen im heutigen Tsche­chien nicht mehr als Beiträge zu einer notwendigen Diskussion über deutsch-tschechische Erinnerungskonflikte akzeptiert werden, sondern von der neuen Historikergeneration wegen ihrer kommunistischen Ausgangsbasis einfach vom Tisch gewischt werden. Die Wende ist in Prag radikaler als in den neuen Bundesländern, was nicht immer eine breite Perspektive för­dert. Aber auch die Nachkriegsentwicklung Westdeutschlands in der freien Welt ist keine Garantie für breite und zukunftsträchtige Geschichtsbilder – zumindest im Hinblick auf die unmittelbaren Nachbarn im Osten bleibt die Aufmerksamkeit sehr beschränkt. Wenn man zum Beispiel die Nachkriegsreden des Ministers für innerdeutsche Angelegenheiten Jakob Kaiser liest,[9] der auch zum Umfeld der Attentäter des 20. Juli 1944 gehörte, sieht man, welch bequemes Feindbild der Kommunismus für ihn abgab. Man konnte auf diese Weise undiffe­renziert alles ablehnen, was aus dem „Osten“ kam, ohne sich auf die Entwicklung in diesen Ländern im Detail einzulassen. Kaisers Positionen wirken in der deutschen Politik bis heute nach, obwohl sein Name der breiteren Öffentlichkeit fast nur noch im Zusammenhang mit dem gleichnamigen Parlamentsgebäude bekannt ist.

 

Zufluchtsort des deutschen Exils in Mitteleuropa

Um die Ursachen des „Aneinandervorbei“ zu erforschen, muss man tiefer in die Geschichte greifen. Die Tschechoslowakei der 1930er Jahre war trotz ihrer Fehler (die nur zum Teil in der Art und Weise des Umgangs mit einer schwierigen deutschen Volksgruppe bestanden) ein demokratischer Staat. Von den Deutschen, die im Reich durch die Machtergreifung Hitlers politisch verfolgt wurden und dabei in Lebensgefahr gerieten, fanden viele gerade hier eine Anlaufstelle. Die Richtung der Fluchtbewegungen spricht eine eindeutige Sprache. Erwähnt seien nur der vorübergehende Aufenthalt von Albert Einstein und die Einbürgerung der Fa­milien von Heinrich und Thomas Mann, die mit ihrem tschechoslowakischen Reisepass schließlich die ganze Welt bereisen konnten. Golo Mann, dieser sehr deutsche Historiker, hat sich mit diesem Pass sogar freiwillig in die tschechoslowakische Auslandsarmee gemeldet (er wurde jedoch aus gesundheitlichen Gründen ausgemustert). Der Adalbert-Stifter-Verein in München hat hierzu eine hervorragende Ausstellung und als Katalog verfügbare Dokumenta­tion unter dem Namen „Drehscheibe Prag“ zusammengestellt.[10]Von Brünn und von den vie­len deutschen Theatern in Teplitz-Schönau, Troppau, Reichenberg usw., die einen starken Zustrom von hervorragenden Schauspielern erfuhren, während drüben im Reich Goebbels gegen die „verjudeten Bühnen“ wetterte, ist dabei noch nicht einmal die Rede.

Diese Situation war jedoch im September 1938 mit dem Münchner Abkommen vorbei. Es ist hier nicht der Ort, um die Problematik dieses Ereignisses zu analysieren, aber es muss fest­gehalten werden, dass die westlichen Schutzmächte der damaligen Tschechoslowakei – Frankreich und Großbritannien – einen ungleichen Tausch billigten (den sie jedoch bald widerriefen, das sei im voraus angemerkt): Für die Sudetendeutschen wurde eine völkische Vereinigung mit dem Reich auf Kosten ihrer demokratischen Rechte erreicht. Nachdem im Reich schon lange die Juden als Opfer ausgegrenzt waren und die österreichischen Demokra­ten nach dem „Anschluss“ hart angepackt wurden, waren die sudetendeutschen Demokraten die dritte Opfergruppe Hitlers. Es waren Zehntausende, die als Katholiken, Sozialdemokraten oder andere sofort verfolgt wurden oder Rettung in der verängstigten Rest-Tschechoslowakei suchten. Die stand jedoch damals schon als das nächste Opfer fest: Auch dort wurden bereits diskriminierende Maßnahmen gegen Juden diskutiert und eingeführt, auch dort lieferte man sudetendeutsche Sozialdemokraten an die Nazischergen aus.[11] Es gibt bewegende Berichte von Flüchtlingsschicksalen, die ungefähr erahnen lassen, welche Unsicherheit damals in Mit­teleuropa herrschte. Von dem langjährigen bayerischen SPD-Vorsitzenden Volkmar Gabert, geboren in Dreihunken bei Teplitz-Schönau, gibt es ein Foto, das ihn noch am 7. März 1939 als einen der vier Jungs der Ehrenwache vor dem Porträt von Masaryk zeigt (es war der Ge­burtstag des 1937 verstorbenen Gründerpräsidenten der Tschechoslowakei). Diese Aufnahme einer fast pathetischen Demonstration in einem Flüchtlingslager südlich von Prag hätte auch gut das letzte Bild von Gabert sein können, wäre die Gruppe sudetendeutscher Sozialdemo­kraten nicht am 15. März 1939, dem Tag der Besetzung der 2. Tschechoslowakischen Repu­blik, des Rumpfstaates von Hitlers Gnaden, in letzter Minute über Polen entkommen. 

 

Mit Hitler mitmachen?

Es ist interessant, die Ereignisse dieser Zeit in Beziehung zu den Biographien der späteren Verschwörer des 20. Juli zu setzen. Am 11. Oktober 1936 und ein weiteres Mal im Dezember haben die Emissäre Hitlers Graf Trautmannsdorf und Dr. Albrecht Haushofer Prag besucht. Es war der Auftakt von mehrwöchigen Verhandlungen, die einen Nichtangriffspakt mit Hit­lerdeutschland zum Ziel hatten. Die Tschechoslowakei sollte in einem geheimen Abkommen zusichern, dass sie die Verpflichtungen aus anderen Abkommen, vor allem aus denen mit Frankreich und England, wenn auch nicht widerrufe, so zumindest im Ernstfall nicht erfülle.[12] Diese Verhandlungen verliefen im Sande und sollen hier nur als Beleg dafür dienen, dass Hitlers Überlegungen in alle Richtungen gingen und 1936 keineswegs allein um die angeblich schwer unterdrückten Sudetendeutschen kreisten. Wie stabil ein solches Abkommen gewesen wäre, und ob Hitler ausgerechnet in diesem Fall Wort gehalten hätte, soll uns hier nicht be­schäftigen. Wichtig ist jedoch die Tatsache, dass die späteren Oppositionellen die Wendungen ihres Führers recht brav nachvollzogen, und zwar auch noch in der Zeit, in der ihnen spätes­tens angesichts der Nürnberger Gesetze der verbrecherische Charakter des Nazisystems hätte klar sein müssen. Diese diplomatische Episode ist nicht besonders bekannt geworden, dafür umso mehr das Münchner Abkommen Ende September 1938. Zu diesem Machwerk stand Carl Goerdeler noch lange, nachdem alle Signatare außer Deutschland ihre Unterschrift zu­rückgezogen hatten.

Nach dieser Entscheidung, die sich die tschechoslowakischen Repräsentanten (interessanter­weise waren es der bereits zitierte Botschafter Mastný und der weiter unten angesprochene Hubert Masařík) in München nur abholen durften, wurde das Sudetenland besetzt. Viele Sudetendeutsche jubelten, aber es waren beileibe nicht alle – die Gruppe der Opfer war groß und dieses Schicksal ereilte sie im Unterschied zu den Reichsdeutschen mit einem plötzlichen Schlag. Der Held des 20. Juli, Graf Stauffenberg, war am 4. Oktober 1938 persönlich am Einmarsch in das Sudetenland beteiligt. In einem Brief berichtet er darüber, dass er das Ein­kaufsfieber seiner Soldaten bremsen musste. Diese Zeilen zeigen, dass er zwei grundlegende Tatsachen mitbekommen hatte – die Sudetendeutschen lebten in geordneten Verhältnissen, in einem Land, das besser versorgt war als das Reich – und sie mussten nicht aus einer mate­riellen Not gerettet werden. Dieser Widerspruch zu Hitlers wütenden Schilderungen über die Zustände im Nachbarland beunruhigte Stauffenberg offenbar damals nicht. Aber auch später hat er nicht viel über den merkwürdigen Seitenwechsel der Sudetendeutschen von der (zwei­felsohne mit Fehlern behafteten) Demokratie zu einer brutalen völkischen Ideologie nachge­dacht. Ein anderer der späteren Verschwörer, Ulrich von Hassell, der sich damals schon in Opposition zum Regime  sah, verkündete im März 1939, der „Griff nach Prag“ sei „glänzend durchgeführt“.[13]

Die Einheit Deutschlands (damals völkisch definiert) ist bis heute das, was als Idee immer wieder hervorgehoben wird – das Wort ist eine Art Mythos, unabhängig davon, um welche Art von Einheit es sich in der jeweiligen Verwendung des Begriffs handelt. Diese fragwürdige patriotische Weltsicht der konservativen Opposition, die bei von Hassell, Goerdeler und ande­ren biographisch vorgeprägt war und aus dem verengten Blick der damaligen Zeit resultierte, wird selbst heute noch von bestimmten politischen Träumern (die dennoch gefährlich sind) gepflegt. Paradoxerweise wird sie immer noch mit dem Gestus des Vorwurfs der inzwischen in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik dominierenden differenzierten Bewertung des 20. Juli 1944 entgegengestellt.[14] Es war jedoch schon damals, kurz nach dem „Anschluss“ Österreichs und des Sudetenlandes, eindeutig klar, dass es eine deutsche Einheit ohne die Gebrüder Mann war, ohne Wenzel Jaksch, ohne Stephan Heym und Albert Einstein. In den Darstellungen zur Geschichte des Kreisauer Kreises wird immer wieder der 9. November 1938, die „Reichskristallnacht“, als ein prägender Schock für die Widerständler erwähnt. Das war fünfeinhalb Wochen nach der Besetzung des Sudetenlandes, wo bereits viele Synagogen ausbrannten. Aber hat nicht der gerade ein Jahr früher aus dem Amt des Leipziger Oberbür­germeisters zurückgetretene Goerdeler (trotz seines mutigen Eintretens für das Leipziger Mendelssohn-Denkmal, dessen Beseitigung zu seinem Amtsverzicht führte) über die Aus­siedlung der Juden nach Madagaskar nachgedacht? Natürlich um sie zu schützen vor dem „Fremdsein“ in Europa. Man darf zwar an die damalige Zeit nicht einfach heutige Maßstäbe ansetzen, aber ein Vergleich der Sichtweisen zwischen damals und heute kann dennoch er­hellend sein: Heute sprechen wir von ethnischer Säuberung und Vertreibung. Gerechterweise muss man anmerken, dass sich die Auffassungen der damaligen Oppositionellen unterschied­lich entwickelten: Bezeichnend ist, dass Dietrich Bonhoeffer bereits 1941 im kleinen Kreis über das „Gebet für die Niederlage meiner Heimat“ diskutierte und im Konflikt zwischen Vaterlandsliebe und Humanität eine eindeutige Entscheidung traf. Und auch Moltke sah bald, dass die Erneuerung Deutschlands mit hoher Wahrscheinlichkeit nur durch eine militärische Niederlage Hitlers zu erreichen sein werde.

 

Exil als Vaterlandsverrat?

Ich möchte an dieser Stelle eine weitere Person erwähnen, weil vielfach argumentiert wird, dass man in den Jahren nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten die weitere Ent­wicklung nicht ausreichend antizipieren konnte. Sebastian Haffner hatte 1938 Deutschland verlassen und schrieb in London zunächst die viel später veröffentlichte „Geschichte eines Deutschen“, um schließlich 1939 ein größeres Werk zu verfassen, das 1940 erschien (Ger­many – Jekyll and Hyde). Gerade Haffner ist ein Beweis dafür, dass man bestimmte Ent­wicklungen damals sehr wohl voraussehen konnte. Die vor einigen Jahren geführte Debatte über eine vermeintliche Fälschung der „Geschichte eines Deutschen“, deren Echtheit jedoch nachgewiesen werden konnte, zeigt ganz klar: Viele Deutsche haben mit der Verblendung ihrer Väter bis heute ihre Probleme. Aber es ist nicht ein Problem der heutigen Generation, sondern eine Erscheinung, die länger zurückliegende Wurzeln hat und zum Teil auf persistie­renden Einstellungen beruht. Wie geht man mit der Politik des eigenen Landes um, wenn sie entgleist? Kann man eine gerechte deutsche Politik aus dem Exil betreiben? Was ist das, die deutsche „Treue“? Wieso fehlt in dem 1998 erschienenen „Lexikon des Widerstandes 1933– 1945“ Wenzel Jaksch?[15] Genauso wenig findet man Jaksch in den Standardwerken über Carl Goerdeler[16] und Ulrich von Hassell[17] – beide haben die „Vereinigung“ Deutschlands durch die Sudetenannexion begrüßt und an ihr festgehalten, aber die eigentliche Bevölkerung dieses Gebietes war für sie genauso unwichtig, wie der tschechoslowakische Nachbar – damals für manche eher Gegner, später, in der Opposition, potenzieller, aber nicht beanspruchter Verbün­deter. Diesen Nachbar und Verbündeten, oder zumindest seine Repräsentanten, fand man schließlich während des Krieges dort, wo man ihn aufgrund der eigenen politischen Einstel­lung nicht gut akzeptieren konnte – im Exil. Für die Protagonisten des 20. Juli, das zeigen deren Überlieferungen, war das Exil offenbar ein Unwort. Diese Sicht blieb auch in der Nachkriegszeit einflussreich, ob es nun um die Debatte über Thomas Mann ging oder um die „Herbert-Frahm-und-Exil-Story“, mit der Willy Brandt immer wieder auf eine besonders in­fame Weise geschmäht werden sollte.

 

Exil als Methode des Widerstandes

Das Exil spielt jedoch in der tschechischen Fassung der „Kriegsstory“ eine wichtige Rolle. So heißt bereits die wichtigste Sammlung von Dokumenten von Edvard Beneš „Sechs Jahre des Exils und des Zweiten Weltkriegs“. Bereits in einer Rede vom 24. Juli 1940 (nach der ersten Anerkennung der tschechoslowakischen Exilregierung – jedoch bevor er auch als Präsident anerkannt war) erklärt er die Ereignisse ab dem Treffen in München 1938 für erzwungen und daher ungültig. Und er sagt einen Satz, der schon die Position gegenüber den vier Jahre später folgenden Ereignissen vorgibt: „Es wäre einfach unsinnig und naiv zu glauben und zu denken, dass der Krieg nach den Wünschen der Deutschen enden kann.“[18] Diese im Exil geäußerten Worte stehen in einer eindeutigen Gegenposition zu allen Friedensplänen Goerdelers, die den explizit nicht erwähnten Anspruch enthalten, „zu Hause“ entstanden zu sein. Gleichzeitig brachte dieser Anspruch die international isolierte deutsche konservative Opposition in die wenig beneidenswerte Lage, über solche befremdlichen Möglichkeiten nachzudenken, wie diejenige, Heinrich Himmler gegen Hitler aufzubauen.

Es soll nicht heißen, dass die im Exil entwickelte Politik des tschechoslowakischen Wider­standes moralisch auf einem anderen Niveau stand; es soll nur der prinzipielle Unterschied der Denkweise hervorgehoben werden. Auch das Exil war nicht frei von Problemen. In die­sem Zusammenhang wäre etwa über das Verhältnis des tschechoslowakischen Exils und des Heimatwiderstandes zu reden. Aber das ist eine andere Geschichte. Die Konflikte zwischen den Exilgruppen wären ein weiteres Thema, sei es zwischen den Tschechen und Slowaken (Beneš–Osuský), den Tschechoslowaken und Polen oder den Tschechen und Sudetendeut­schen. Die Drehscheibe dieser konfliktreichen Beziehungen war London. Welche Konflikte die einzelnen Gruppen in London austrugen, ist vielfach aufgearbeitet worden. Aber interes­sant ist, wie viele Begegnungen „im Exil“ trotz vorhandener Möglichkeit nicht stattgefunden haben. Während die Polen, Tschechen und Slowaken in London ihre Positionen definierten und mit den Vertretern britischer Politik sprachen, während auch Wenzel Jaksch die wichtige Position eines demokratischen Sudetendeutschen und eines Gegners mancher tschechischer Intentionen einnahm, während Waldemar von Knoerringen gerade ankam, um seine noch ziemlich kommunistische Gruppe „Neu beginnen“ weiterzuführen, während all dies passierte, weilten im selben London (oft auch in der Schweiz und in Schweden) die Vertreter der späte­ren Opposition des Kreisauer Kreises. Sie sprachen mit den gleichen britischen Außenpoliti­kern, jedoch nicht mit den wichtigen Vertretern und Organisationen des Exils der kleineren Länder.[19] Auch während des Aufenthalts von Heinrich Brüning in London im gleichen Jahr wird von keinen Kontakten zu diesen Gruppen offensichtlicher Opposition gegen Hitler be­richtet. Selbst Carl Goerdeler reist in dieser Zeit viel – ebenfalls ohne einen Gedanken an Kontakte mit Tschechen, Polen, oder selbst mit Sudetendeutschen zu verschwenden. Wenzel Jaksch war damals in London und hätte sicher jedem Interessierten erklären können, dass nicht wenige Sudetendeutsche nach der Sudetenkrise zusammen mit deutschen Flüchtlingen und mit den Juden Österreichs zu den ersten Opfern der Arrondierung Deutschlands nach völ­kischen Prinzipien wurden.
Die deutschen Besucher Londons suchten jedoch gezielt nur bestimmte Adressen auf. Indem sie ausschließlich Kontakt zu Regierungskreisen der westlichen Mächte suchte, handelte die deutsche konservative Opposition in einer merkwürdigen Parallelität zum Vorgehen der NS­Führung,[20] die sogar so weit ging, den Krieg im Osten und im Westen nach verschiedenen moralischen Maßstäben zu führen. Hierzu muss man allerdings ehrlich anmerken, dass für viele Beteiligte des militärischen Widerstandes gerade dieser Unterschied in der Kriegsfüh­rung zu einem wichtigen Impuls für ihre Entscheidung zur Opposition gegen das NS-Regime wurde.

 

Es fehlt Jaksch

Es wurde bereits erwähnt, dass in vielen Darstellungen des deutschen Widerstandes Wenzel Jaksch fehlt. Es ist aber keineswegs so, dass er im Reich eine unbekannte Figur gewesen wäre. Die sudetendeutsche Sozialdemokratie war nicht nur eine wichtige Partei aus der Erb­masse der Österreichischen Sozialdemokratie, sondern auch die Anlaufadresse der reichsdeut­schen Sozialdemokraten nach 1933. Jaksch pflegte vielfältige Kontakte zu den Deutschen aus dem Reich. Hubert Masařík, damals im tschechoslowakischen Außenministerium tätig, be­richtet sogar von einer heute recht skurril anmutenden Episode, in der Jaksch zusammen mit Otto Strasser im Sommer des Jahres 1938 in Prag die tschechische Politik vor einer zu nach­giebigen Haltung gegenüber Hitler warnen wollte.[21] Jaksch ging jedoch bald darauf ins Exil, während der Zeitzeuge Masařík durch einen Zufall in Prag bleibt und am Anfang in der Pro­tektoratsregierung mitarbeitet, wobei er am Widerstand um General Eliáš beteiligt ist. 

 

Studentenprotest

In Prag ging es in den ersten Monaten der Protektoratsregierung bald nicht mehr so ruhig zu, wie in den Tagen der Besetzung im März 1939. Schon nach einem halben Jahr, beginnend mit dem 28. Oktober 1939 – es war das Datum des tschechoslowakischen Staatsfeiertages – kam es in Prag zu größeren Demonstrationen, die von der Polizei mit Waffengewalt unterdrückt wurden. Die Nervosität auf beiden Seiten war natürlich durch den Kriegsanfang beeinflusst, der logischerweise von Besatzern und Besetzten sehr unterschiedlich gesehen wurde. Ge­fühlsmäßig war für die Tschechen schon das Münchner Abkommen eine Art Kriegsanfang. Der Student Jan Opletal starb an seinen bei den Unruhen erlittenen Verletzungen. Er wurde am 17. November bestattet, was wiederum zum Anlass von Protesten wurde. An diesem Tag kam es zu umfangreicheren Repressalien im gesamten Protektorat. Geiseln wurden erschossen und Hunderte Studenten wurden nach Sachsenhausen abtransportiert. Auf tschechischer Seite breitete sich das Gefühl der Wut aus – mit entsprechenden Konsequenzen für das Verhältnis zu den Deutschen allgemein. Teile der Bevölkerung glitten jedoch in das Gefühl passiver Verzweiflung ab, wobei sich die entstehende scharf antideutsche Einstellung während der erzwungenen Untätigkeit aufstaute – mit fatalen Konsequenzen für die Zeit nach 1945.

 

Ersehnter Kriegsanfang

Das Exil war demgegenüber politisch aktiver. Eduard Táborský, Sekretär des tschechoslowa­kischen Präsidenten in seiner Exilzeit, berichtet in seinem Tagebuch zeitlich sehr genau über die Stimmungslage des tschechoslowakischen Exils.[22] In seinen Notizen zum 1. September 1939 beschreibt er die Debatten unter den Exil-Tschechen in London. „Der Präsident war sichtbar erregt. Obwohl wir es von Tag zu Tag erwartet haben, bewegt es einen, wenn es wirklich kommt [...]. Der Anfang der Befreiung ist gekommen. Wie lange wird es dauern? Wir einigen uns, dass es nicht so lange dauern kann wie der vorangegangene Krieg.“ Edvard Beneš war schon seit dem 19. Juli aus den USA in London zurück und arbeitete an seiner Konzeption der Erneuerung der Tschechoslowakei. Noch ein Jahr musste er warten, bis die Briten seine Exilregierung anerkannten, und noch länger dauerte es, bis er als Präsident ak­zeptiert wurde – mit der vom tschechoslowakischen Exil (mit einigen Ausnahmen – wie z.B. Osuský) durchgesetzten Begründung, dass sein Rücktritt am 5. Oktober 1938 erzwungen war. 

Der Krieg war für Beneš und im Verständnis der Mehrheit des tschechoslowakischen Exils der Weg zur Freiheit. Ähnlich äußert sich Robert Bruce Lockhart,[23] der auch die Wandel der britischen Position hin zur Anerkennung einer Exilrepräsentanz der Tschechen und schließ­lich zur Annullierung des Münchner Abkommens beschreibt. Er hebt auch hervor, wie nach einer Initiative von Anthony Eden der „provisorische Status“ der Exilregierung aufgehoben wurde. Jan Masaryk habe damals mit Blick auf diesen Status die Opfer unter den schon einige Zeit im Krieg mitkämpfenden tschechischen Fliegern in einer sarkastischen Bemerkung als „provisorische Tote“ bezeichnet. Diese „provisorischen Toten“ der Luftschlacht um England belegen noch einmal die eindeutige Orientierung der Tschechen und vieler Slowaken auf den Krieg – nicht weil sie prinzipielle Kriegsbefürworter gewesen wären, sondern weil der Sieg über Deutschland unter den gegebenen Umständen die einzige Möglichkeit der Wiederher­stellung der Tschechoslowakei war.

Diese Wiederherstellung begann in der Tat im Exil, und zwar nicht nur auf dem Papier. Die Arbeit des tschechoslowakischen Exils spielte sich in einer spezifischen Situation ab: Ins Exil zu gehen, war eine individuelle Entscheidung, die den Betroffenen in vielen Fällen das Leben rettete und für deren Gelingen Glück eine große Rolle spielen konnte. Im Exil angekommen, bekamen die Emigranten eine Exilregierung, die Einberufungsbefehle erteilte und eine eigene Rechtsprechung ausübte. Die Staatsverwaltung und die Armee nahmen Kredite auf und konnten so ihre Angehörigen bezahlen. Die Widerständler befanden sich somit gleichzeitig in der Rolle von Bürgern eines Staates. Die Weigerung von Wenzel Jaksch, sudetendeutsche Sozialdemokraten in die tschechoslowakische Exilarmee zu schicken, konnte daher nach dem Widerruf des Münchner Abkommens als eine Treulosigkeit gegenüber dem eigenen Land ausgelegt werden.

Zeitgleich mit der Anerkennung der tschechoslowakischen Exilregierung legten die Londoner Außenpolitiker ihre Kontakte zum deutschen Widerstand ad acta. Die aus den entsprechenden Akten von Gregor Schöllgen zitierte Bezeichnung der nationalkonservativen Opposition ge­gen Hitler als „Reichswehr-Royalist-Goerdeler-Clique“ ist bezeichnend für diese Zeit.[24] Die Royalisten überwogen übrigens keineswegs in dieser Bewegung; es ist jedoch bekannt, dass die Widerständler versuchten, Verbindungen zu einigen Vertretern des Hauses Hohenzollern aufzunehmen, allerdings ohne Erfolg. Verständnis dafür war kaum zu erwarten. Interessant ist jedoch, dass ein anderer Vertreter des Adels, Otto von Habsburg, in diesem Zusammenhang nicht in Erwägung gezogen wurde – vielleicht deshalb, weil er sich im Exil befand. Aber auch er selbst, der die damalige Situation aufmerksam verfolgte, sieht bis heute die Grenzen im Denken der nationalkonservativen Opposition.[25]

 

General Eliáš

War es „zu Hause“ im Protektorat anders, hätte es zwischen dem Widerstand in beiden Län­dern eine Verbindung geben können? Zum Ministerpräsidenten der Protektoratsregierung un­ter dem Präsidenten Hácha wurde General Eliáš berufen. Er hatte diese Aufgabe nur ungern übernommen, aber einmal im Amt, versuchte er die nationale Gemeinschaft zu retten, deren Gleichschaltung nach Befehlen aus dem Reich zu behindern und ein Überleben der Tschechen in dem sich abzeichnenden Krieg zu sichern. Dazu wirkte er auch illegal, indem er Kontakte mit dem Londoner Exil unterhielt, Nachrichten über den Zustand in der Heimat übermittelte und im Dialog mit Edvard Beneš über die Aktivitäten der Protektoratsregierung stand. Als Reinhard Heydrich nach Prag kam, wurde diese Art von Widerstand in der Regierung schnell unmöglich. Eliáš wurde am 28. September 1941verhaftet, ab dem 1. Oktober stand er vor Ge­richt und später (zusammen mit dem Minister seiner Regierung JiĜí Havelka) erfolgte seine Hinrichtung. Der bereits zitierte Hubert Masařík gehörte zu dieser Gruppe. Er hat überlebt und berichtet darüber in seinen Erinnerungen.[26] Eliáš habe noch versucht, den Rest der Opposition zu schützen, indem er sich selbst belastete. Die Selbstverständlichkeit, mit der diese Gruppe ihren Widerstand rechtfertigte (Eliáš sagte vor dem Gericht offen, er habe des­halb den Deutschen keine Meldung über seine Kontakte mit Beneš erstattet, da er seine Landsleute der Repression nicht ausliefern wollte) wartet noch auf eine angemessene Würdi­gung durch die Tschechen. Eliáš wurde am 19. Juni 1942 hingerichtet, als ein weiteres Ereig­nis zu einer Verschärfung der Verfolgungsmaßnahmen im Protektorat führte.

 

Das Attentat auf Heydrich

Am 27. Mai 1942 um 10.30 Uhr verübten in Prag zwei 1941 aus London abgesandte Wider­ständler einen Anschlag auf Reinhard Heydrich, bei dem dieser tödlich verletzt wurde. Auf das Attentat folgte eine Welle der Repression, die unter anderem in der Liquidation der Dörfer Lidice und Ležáky gipfelte. In unserem Zusammenhang ist von Interesse, wie tschechische und deutsche Historiker dieses Ereignis bewerten. Die Standpunkte schwanken zwischen ei­ner Ablehnung des Attentats wegen seiner Konsequenzen, die durch die Verschärfung der Lage einen weiteren tschechischen Widerstand fast unmöglich machten,[27] einer leicht herablassenden Position mancher deutscher Historiker und der positiven Würdigung des Ereignisses als Teil des offiziellen tschechischen Erinnerungskanons des Widerstandes. Die damit verbundenen Rituale der öffentlichen Erinnerungen weisen durchaus Ähnlichkeiten zu den offiziellen Feierlichkeiten zum 20. Juli in Deutschland auf.

 

Das Ende von Mussolini

Die Ereignisse am 25. Juli 1943 in Italien zeigten der Welt, dass es möglich war, die mit Deutschland verbündete Diktatur Mussolinis in der gegebenen Kriegssituation zu überwinden und die Kriegshandlungen sofort zu beenden. Dieser Vorgang wurde im Protektorat und im tschechoslowakischen Exil aufmerksam registriert. Die Tatsache, dass sie vornehmlich aus strategischen Gründen das noch unfreie Stück Italiens besetzten, hat die Sympathien gegen­über den Deutschen nicht gerade erhöht. Der Krieg ging dennoch fast zwei Jahre weiter. Es war die Zeit, in der die ungarischen Juden noch hätten gerettet werden können, als der Auf­stand im Warschauer Ghetto unterdrückt wurde, als in Theresienstadt noch Musik gespielt wurde und die missbrauchte Stadt am 23. Juni 1944 eine perfide Propagandakulisse für die Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes abgeben musste. Während nach dem Besuch be­reits wieder Transporte nach Auschwitz starteten, gab am 19. Juli (!) in Berlin der stellvertre­tende Chef des Presseamtes eine Pressekonferenz, die der Schönfärberei der Situation in The­resienstadt diente. Am 30. Juni 1944 kommentierte der Theresienstädter Häftling Willy Mahler in seinem Tagebuch einen Goebbels-Artikel aus der Zeitschrift „Das Reich“ wie folgt: „Im Artikel von Dr. Goebbels sieht man die grenzenlose deutsche Verzweiflung über die heutigen Verhältnisse und über die Kriegsentwicklung.“[28] Waren also alle Deutschen verzweifelt, und die Attentäter unterschieden sich von ihnen nur in der Art und Weise, wie sie mit dieser Verzweiflung umgingen? Das ist natürlich nur eine rhetorische Frage, genauso wie der Hinweis, dass eine Beendigung des Krieges schon 1943, zusammen mit Italien, die Zer­störung der deutschen Städte verhindert hätte. Damals wäre ein Gespräch zwischen den Geg­nern Deutschlands und Goerdeler möglich gewesen, ähnlich wie auch in Italien mit Badoglio gesprochen wurde. Bald darauf hat sich die Situation jedoch geändert. Mit Hitler-Deutschland war jenseits der bedingungslosen Kapitulation kein Verhandlungsergebnis mehr möglich. Die Prämisse, auf der Edvard Beneš Konzeption für die Wiederherstellung der Tschechoslowakei basierte, setzte sich allgemein durch.

 

Teheran, 1. Dezember 1943

Die Konferenzen in Casablanca, Teheran und Jalta führten zu zwei wichtigen Veränderungen, die von den Tschechen in der Heimat und im Exil positiv bewertet wurden. Einerseits erhielt die Forderung der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands Vorrang. Auf der anderen Seite wuchsen die Exilregierungen Polens, der Tschechoslowakei und anderer in die Rolle von Verbündeten hinein. Tschechoslowakische Truppen kämpften praktisch an allen Fronten des Krieges. Ein Friedensschluss mit Konzessionen gegenüber Deutschland war insofern nicht mehr denkbar. Die Tschechen im Land und im Exil hielten die deutsche Vorstellung (wieder kam sie sowohl bei den Nazis als auch beim Widerstand vor), man könne im Westen Frieden schließen und gleichzeitig weiter gegen die Sowjets zu kämpfen, für schlichtweg lächerlich. Damit verkannten die Tschechen möglicherweise absichtlich die realen Möglichkeiten. Aus den bereits zitierten Memoiren lässt sich belegen, dass die Exilregierung zwar ihren Sitz in London gewählt hatte, aber das Vertrauen in die Westmächte nach München 1938 nicht be­sonders groß war. Die befürchtete Möglichkeit eines Separatfriedens verstärkte die Bindung an Moskau, selbst wenn die meisten in London aktiven Politiker darüber keineswegs begeis­tert waren. Dennoch wuchs in dieser Atmosphäre der Einfluss des kommunistischen Exils in Moskau auf die tschechoslowakische Politik und damit auch automatisch die Rolle der Sow­jetunion in diesem Bereich. Einen Teilfrieden konnte die Umgebung von Präsident Beneš lediglich fürchten, aber keinesfalls in Erwägung ziehen.

 

Die Landung in der Normandie

Spätestens als am 6. Juni 1944 die Verbündeten in der Normandie landeten, bestand die – wenn auch geringe – Chance für einen „italienischen Augenblick“ in Deutschland. Heute nennt man es ein „historisches Fenster“. Dies verstanden auch die Attentäter so, über deren Planungen und Bemühungen inzwischen umfangreiche Literatur vorliegt. Wie sah zu dieser Zeit die tschechische Perspektive aus? Etwa zeitgleich gab Beneš in London dem Journalisten Compton Mackenzie mehrere ausführliche Interviews. Zum Zustand der deutschen Gesell­schaft sagte er: „Ich gebe zu, dass ich nicht an die Idee der Umerziehung der Deutschen glaube. Wenn die Deutschen schließlich geschlagen werden, werden sie sich selbst sehr be­dauern, und niemand von ihnen wird wohl gleich wieder in den Krieg ziehen, aber der Ge­danke der rassischen Überlegenheit ist einem jeden Deutschen derart verwurzelt, dass einige Generationen geboren werden und sterben müssen, bis man diese Auffassung ausmerzt, und solange dieser Glaube an die Überlegenheit der deutschen Rasse lebt, werden die Deutschen über einen neuen Krieg nachdenken, damit sie diese Überlegenheit beweisen. Uns Tschechen ist es klar, dass wir mit den Deutschen nicht zusammen leben können.“[29] Angesichts der gan­zen Vorgeschichte, die zu solchen Formulierungen führte, sollte man da ein entgegenkom­mendes Aufmerken nach dem 20. Juli 1944 erwarten können? Das war nicht mehr der Präsi­dent, der sich noch in den 1930er Jahren für das Schicksal der deutschen Emigranten inte­ressierte, der sich mit der Erhöhung der Beamtenquote unter den Sudetendeutschen von 16 auf 22 % befasst hatte und noch am Anfang des Jahres 1938 für den Verein für das Deutsche Theater in Prag spendete.[30] Der Zug in Richtung eines Neuanfangs ohne die Deutschen und in Richtung Rache war schon vor dem 20. Juli 1944 abgefahren.

Dennoch auch Sympathien

Nur einige Tschechen, die in ihrer persönlichen Entwicklung umfangreiche Kenntnisse über Deutschland gesammelt haben, dachten anders. Der Diplomat Hubert Masařík, dessen Erinne­rungen an die Jahre 1938–1939 eine wichtige Quelle darstellen, befand sich damals nach einer Verhaftung durch die Nazis und der nachfolgenden Freilassung bereits im Abseits. Er lebte auf dem Lande und schließlich „versteckt“ als Mitarbeiter einer Firma in Berlin. Immerhin befand er sich damit weit weg vom Protektorat. Er dachte auch noch nach dem Krieg über seine Kontakte zu Grafen Westarp nach, der mit ihm über den Widerstand gesprochen hatte. Es handelte sich um eines der wenigen Zeugnisse über eine selbstverständliche Zusammenar­beit eines Tschechen und eines Deutschen im Widerstand lange vor dem 20. Juli.[31] Die Epi­sode ist noch nicht komplett aufgeklärt und in keinem Werk zum deutschen Widerstand auf­geführt. Es handelt sich um Theodor von Westarp, der seinen tschechischen Partner mit einer Berliner Kennkarte ausstattete und es ihm damit ermöglichte, zwischen dem Protektorat und Berlin hin und her zu reisen, und der für ihn Helfer aus dem Kreis der tschechischen Zwangs­arbeiter suchte. Wegen der etwas besseren Versorgungslage im Protektorat (womit keines­wegs das häufig vorgebrachte Stereotyp gemeint ist, es sei den Tschechen „doch ganz gut“ im Protektorat gegangen) bat Westarp Masařík um Hilfe bei der Versorgung von Flüchtlingen, die er im Keller seiner Villa versteckte (deren Identität ist bisher unbekannt; auch die Familie Westarp konnte hierzu keine Unterlagen finden). Masařík äußert sich auch allgemein über seine Kontakte zu Vertretern der deutschen Opposition gegen Hitler: „Ich muss sagen, dass jeder solcher Kontakt ein psychologisches Abenteuer war, aber im Prinzip immer ein ange­nehmes Erlebnis. Warum? Ich und meine Freunde, wir wussten, dass diese Widerstandsbewe­gung sich nicht auf Massen stützte, dass es eine Bewegung einer kleinen Gruppe von Intel­lektuellen und Offizieren war. Die Bewegung nutzte einige Gelegenheiten zur Beseitigung von Hitler aus und ihre größte Tat, das Attentat im Juli 1944 endete ohne Erfolg. Es war uns auch bekannt, dass die Mehrheit der Mitglieder dieser Gruppe rechtsgerichtet war, und dass alle deutsche Nationalisten waren, was auch aus dem Programm eines ihrer Anführer, Carl Goerdeler, hervorgeht. Und dennoch waren diese Kontakte für einen Tschechen angenehm.
Der Grund war naheliegend: Nach dem näheren Kennenlernen haben wir gefunden, dass uns die Achtung vor den höchsten Werten der europäischen Zivilisation verbindet, ein Respekt vor dem Gesetz, Ablehnung und das Gefühl der Angewidertseins – bei diesen Deutschen verbunden mit dem Gefühl der Beschämung – angesichts der nazistischen Verbrechen, ange­sichts der Negation der letzten Spuren der Menschlichkeit bei den nazistischen Anführern und bei der bestialisch mordenden Gestapo.“[32]

 

Demokratie oder Patriotismus?

Der 20. Juli 1944 war ein bedeutendes Ereignis, das gezeigt hatte, wie mutig und entschieden seine Protagonisten die Tat planten und auch nach ihrem Scheitern zu der wohlüberlegten Absicht standen. Die der Tat vorangegangenen elf Jahre haben jedoch den Blick auf Deutschland von außen stark verwandelt. Die Tschechen haben die konkreten Ereignisse um den 20. Juli 1944 dementsprechend kaum wahrgenommen. Dies ist die eine Seite. Aber auch dem deutschen konservativen Widerstand muss hier vorgeworfen werden, dass sein Bild der Kriegssituation und seine Vorstellungen über mögliche Partner einige Jahre hinter der Realität herhinkten. Das, was erreicht werden sollte, war eigentlich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr erreichbar, selbst nach einem erfolgreichen Attentat. Wenn etwa Wolfgang Venohr den Patriotismus von Goerdeler hervorhebt,[33] äußert er natürlich nicht die Unwahrheit, aber er verkennt gleichzeitig die Tatsache, dass dieser Patriotismus 12 Jahre totalitäre Diktatur, 11 Jahre Konzentrationslager, 9 Jahre Nürnberger Gesetze, 7 Jahre außenpolitische Aggression, 5 Jahre Krieg und Massenmord vergehen ließ, ohne zu handeln (dass es vorher schon Attentats-versuche gab, ändert daran nichts). Venohr verkennt auch den anderen und von ihm unge­nannten Patriotismus der Deutschen, der im Exil eines Sebastian Haffner bestand. Der Patrio­tismus Goerdelers, von Hassells, Stauffenbergs im bereits fast geschlagenen Deutschland war unter den gegebenen Bedingungen nur Haffners Dr. Jekyll. Unter der Naziherrschaft, die von Haffner als Mr. Hyde paraphrasiert wurde, überlebte der bekanntlich immer schwächere Dr. Jekyll nicht. Und diese Vision wurde – es muss hier wiederholt werden – schon 1939 nieder­geschrieben.

 

Mitteleuropa?

Zum Schluss möchte ich noch „kurz“ die letzten 200 Jahre behandeln. Kann in der durch­schnittlich informierten Öffentlichkeit beider Länder auf der Basis des Schulwissens über­haupt ein Gefühl der Empathie aufkommen? War in der Kriegszeit, ist heute bei der Mehrheit der Bevölkerung auf beiden Seiten eine Basis vorhanden, die stark abgrenzend definierten „Wir“-Gruppen als etwas Gemeinsames zu betrachten? Im Jena des beginnenden 19. Jahr­hunderts, beim Treffen auf der Wartburg waren noch Tschechen und Slowaken beteiligt. Ein Beispiel für alle – Kollár. Aber schon den Begriff „Befreiungskriege“ konnten die damaligen Gäste der deutschen Universitäten nicht guten Gewissens übernehmen. Einerseits ersehnten sich viele von ihnen die Freiheiten der Französischen Revolution auch für ihre Heimatländer; andererseits haben sie richtig gesehen, dass ein Wiedererstarken Preußens und die Vereini­gung Deutschlands für sie nichts Gutes bedeuten. Bis heute sind im Kanon der jeweiligen Geschichtserzählungen diese Unterschiede klar sichtbar. Die Stabilisierung Preußens bedeutet für die Tschechen (und auch für viele Sudetendeutsche) den Verlust eines Kronlandes – selbst wenn es in der weit zurückliegenden Vergangenheit geschah und schon um 1800 keine reale Bedeutung mehr hatte. Schlesien wurde Maria Theresia gewaltsam entrissen und die preußisch-österreichischen Kriege haben ihren Niederschlag in vielen auch heute noch gesun­genen Volksliedern gefunden.

Zum Vergleich: Problematisch ist auch der Blick aus Polen. Noch aus Hambach 1832 sind Bilder überliefert, auf denen polnische Flaggen wehen. Die gescheiterte polnische Erhebung stieß in Deutschland noch auf viel Sympathie. Die heutigen Debatten sind hingegen eher kontrovers und von wenig gegenseitigem Wissen belastet.

Aber zurück zum deutsch-tschechischen Verhältnis: 1848 kam es innerhalb weniger Wochen zu einer Spaltung der bis dahin harmonisch verbundenen Böhmen beiderlei Zunge. Wie konnte die gefeierte Paulskirche die Tschechen anziehen, wenn sie plötzlich nicht mehr das Königreich Böhmen im Heiligen Römischen Reich waren, sondern eine zu schützende Min­derheit in einem Staatswesen mit dem Attribut „deutscher Nation“? Die Reichsgründung in Versailles 1871 bedeutete für Tschechen dann vollends eine Entsolidarisierung mit Reichs­deutschland – wo war die Demokratie, die Weltoffenheit, der Aufbruch, die den tschechischen Nachbarn hätten anziehen können? Von den Deutschen lernen bedeutete, einen ähnlich dump­fen Nationalismus einzuführen (und teilweise ist dies auch gelungen). Wenn schließlich bei der Ausgliederung der historischen Länder Böhmens, Mährens und Österreichisch-Schlesiens 1918 mancherorts in den deutsch besiedelten Gebieten des Landes die Rede von „gewaltsa­mer Annexion“ war, ist das Vertrauen der Tschechen in die politischen Konzeptionen der deutsch sprechenden Nachbarn vollends geschwunden. Hier, bei den Böhmischen Kronlän­dern, kam es doch in den letzten 1000 Jahren nur einmal – im Gefolge der schon erwähnten preußischen Aggression nach Schlesien – dazu, dass die Grenzen verschoben wurden. Es entstand vor und nach 1918 allmählich eine fatale Neigung tschechischer Politik, symmet­risch und ausgewogen gegenüber Deutschland zu stehen (diese Einstellung ist auch heute noch prominent vertreten). Der Versailler Frieden ist damals zum Bestandteil des Grün­dungsmythos der Tschechoslowakei geworden. Schon damals sahen tschechische Protago­nisten, dass sie von den deutschen Unterhändlern nicht ganz ernst genommen werden. Hier, im Bemühen um die Revision des Versailler Friedens (der, das soll hier nicht bestritten wer­den, natürlich keineswegs friedensstiftend war), setzte Carl Goerdeler an. Die heutige Annä­herung muss über dieses verminte Feld hinweg gestaltet werden. Das Mittel für die erste An­näherung ist die Aufmerksamkeit.

Die Beispiele wurden bereits fast alle genannt: Bis heute hat die öffentliche Erinnerung in Deutschland mit allen ihren Reden in Hambach und Frankfurt (und bei den Pfingsttreffen der Sudetendeutschen) keine Notiz vom Fortbestehen der Prager Deutschen Universität nach 1918 genommen. Ebenso selten kommt die Rolle der Tschechoslowakei als Zufluchtsort für deutsche Emigranten in der NS-Zeit zur Sprache. Und noch einmal – wer spricht aus, dass die Entwicklung nach dem Münchner Abkommen für die meisten Sudetendeutschen der Weg von einer unvollkommenen Demokratie in eine völkisch legitimierte Diktatur war, in der viele im Konzentrationslager endeten oder den Tod an der Front fanden? Was wundert es dann, wenn bei dieser Vorbildung vielen Deutschen der tschechische Widerstand als eine Ansammlung unlogischer Taten von geringer Bedeutung erscheint? „Es ging den Tschechen doch ganz gut im Protektorat“, hört man ab und zu. „Warum haben sie dann das Attentat auf Heydrich ver­übt, wenn sie doch wissen mussten, welche Repressionen danach folgen werden?“ Wie bitter muss es den Tschechen aufstoßen, wenn sie in der Perspektive der Attentäter des 20. Juli eine unbedeutende Provinz gewesen sind, eine Provinz, mit der es nicht lohnt zusammenzuarbei­ten. Gleiches gilt, wenn die heutige Reflexion dieser Ereignisse es immer noch nicht geschafft hat, die europäische Asymmetrie zu überwinden.

Ohne die schwerwiegende Tatsache der Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg aus den Augen zu verlieren, haben wir auch mit wesentlich früheren Ereignissen noch viel zu tun, um den Prozess der Entsolidarisierung zu analysieren und uns zu einer europäischen Geschichte durchzuringen. Es gibt Experten, die behaupten, die Geschichten der Völker werden immer verschieden bleiben. Ich glaube es nicht. Aber wir müssen zunächst damit anfangen, kanoni­sierte Überlieferungen darauf hin zu untersuchen, ob sie nicht mit ihrer Beschränkung allein auf die nationale Geschichte bei der Interpretation eines WELTKRIEGES zu kurz greifen.

 

 

[1] Wilhelm Dennler, Böhmische Passion, Freiburg 1953.
[2] Stanislav Kokoška, Persönliche Mitteilung an den Autor.
[3] VojtČch Mastný, Vzpomínky diplomata [Erinnerungen eines Diplomaten], Prag 1997.
[4] Prokop Drtina, A nyní promluví Pavel Svatý [Und nun spricht Pavel Svatý], Prag 1945.
[5] Alena Míšková, NČmecká (Karlova) univerzita od Mnichova k 9. kvČtnu 1945 [Die Deutsche (Karls-) Universität vom Münchener Abkommen bis zum 9. Mai 1945], Prag 2002.
[6] Dietmar Neutatz, ýeskoslovensko v zahraniþnČ politických pĜedstavách nČmeckého odboje a exilu [Die Tschechoslowakei in den außenpolitischen Vorstellungen des deutschen Widerstandes und Exils], in: Cesta do katastrofy? ýeskoslovensko-nČmecké vztahy 1938–1947 [Der Weg in die Katastrophe? Die tschechoslowakisch­deutschen Beziehungen 1938–1947], Ústav mezinárodních vztahĤ [Institut für internationale Beziehungen] und Konrad-Adenauer-Stiftung, Prag 1992.
[7] Jan Boris UhlíĜ, 20 þervenec 1944 v nČmecké a þeské historiografii [Der 20. Juli 1944 in der deutschen und tschechischen Historiographie], Historie a vojenství [Geschichte und Militärwesen], XLV, Prag 1996; ders., Plukovník Stauffenberg a 20. þervenec 1944 [Oberst Stauffenberg und der 20. Juli 1944], Historický obzor [Historische Rundschau] 5 (4), S. 85.
[8]Kurt Finker, Stauffenberg a 20. þervenec 1944 [Stauffenberg und der 20. Juli 1944] (übers. v. H. Karlach), Prag 1972.
[9] Tilman Mayer (Hg.), Jakob Kaiser. Gewerkschafter und Patriot, Köln 1988.
[10] Peter Becher/Sigrid Canz, Drehscheibe Prag, München 1989.
[11] Leopold Grünwald, Sudetendeutscher Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Veröffentlichungen des Sudetendeutschen Archivs 23, Benediktbeuren 1986; Wir wollten nicht mit den Massen irren. Publikation der Seligergemeinde, München 1995.
[12] Compton Mackenzie, Dr. Beneš, London 1946.
[13] Gregor Schöllgen, Ulrich von Hassell 1881–1944, München 1990.
[14] Wolfgang Venohr, „Alle haben die Hosen voll! Niemand wagt zu widersprechen!“, in: Junge Freiheit, 29, 1999.
[15] Peter Steinbach/Johannes Tuchel (Hg.), Lexikon des Widerstandes 1933–1945, München 1998.
[16] Gerhard Ritter, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1954.
[17] Gregor Schöllgen, Ulrich von Hassell 1881–1944 (Anm. 13).
[18] Edvard Beneš, Šest let exilu a druhé svČtové války [Sechs Jahre des Exils und des Zweiten Weltkriegs], Prag 1946.
[19] Aus den zitierten Werken hier eine kleine Zusammenstellung: Carl Goerdeler, 1937 in London Ewald von Kleist-Schmenzin, 18. August 1938 in London, trifft Churchill, Vansittart Theo Kordt, einige Tage nach München 1938 in London, trifft Halifax  Carl Goerdeler – August bis Oktober 1938 in der Schweiz Derselbe, verschickt im Dezember 1938 sein „Weltfriedensprogramm“ Moltke und Trott sind da (lernen sich 1937 in Oxford kennen) London: Brüning im April 1939 aus den USA nach London  Mai 1939 Carl Goerdeler in London und in Paris (Churchill, Vansittart) Pechel, im Frühjahr 1939 dreimal in London Trott, Sommer 1939 in London Fabian von Schlabrendorff im Hochsommer 1939 in London (Lloyd, Churchill).
[20] Henlein 1938 in London (vor München) und wird – noch als tschechoslowakischer Staatsbürger  – auch vom Gesandten Jan Masaryk empfangen; auch der Flug von Heß gehört hierher.
[21] Hubert MasaĜík, V promČnách Evropy [In den Veränderungen Europas], Prag 2002.
[22] Eduard Táborský, PresidentĤv sekretáĜ vypovídá [Der Sekretär des Präsidenten sagt aus], Zürich 1978.
[23] Robert Bruce Lockhart, Comes the reckoning, London 1947.
[24] Schöllgen, Ulrich von Hassell 1881–1944 (Anm. 13).
[25] Persönliche Mitteilung an den Autor vom 30.05.2004: Habsburg sei ohnehin mit dem „Anschluss“ Österreichs nicht einverstanden gewesen. Und er hatte klare Vorstellungen: „Schon vor dem Krieg wollte jemand mit mir über die Opposition sprechen, aber er wollte den Kontakt in einer SA-Uniform anknüpfen. Das musste ich natürlich ablehnen.“
[26] Siehe Anm. 21.
[27] VojtČch Mastný, Protektorát a osud þeského odboje [Das Protektorat und das Schicksal des tschechischen Widertsnads], Prag 2003 (überarbeitete Fassung der englischen Originalausgabe von 1971).
[28] Zitiert nach Miroslav Kryl, Osud vČzĖĤ terezínského ghetta v letech 1941–1944 [Das Schicksal der Häftlinge des Theresienstädter Ghettos 1941–1944], Prag 1999.
[29] Mackenzie, Dr Beneš (Anm. 12).
[30] Hubert MasaĜík war der Überbringer der Spende.
[31] Siehe Anm. 21.
[32] Siehe Anm. 21.
[33] Venohr, „Alle haben die Hosen voll!“.