von Christian Mentel

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1. Dezember 2012

 

1987 gehörte der Volkswagen-Konzern zu den ersten großen Wirtschaftsunternehmen, die einen anerkannten Historiker damit beauftragten, ihre NS-Vergangenheit zu erforschen. Diesem Beispiel folgten in den 1990er Jahren insbesondere Unternehmen im Finanzsektor, wie die Allianz, die Deutsche Bank und die Dresdner Bank. Seit Mitte der 2000er Jahre tun sich vor allem staatliche Stellen als Geld- und Auftraggeber hervor. Ministerien, Behörden und Parlamente auf Bundes- und Länderebene bis hin zu den Kommunen gaben historische Gutachten und Studien in Auftrag, förderten einschlägige Forschungs-, Publikations- und Ausstellungsprojekte oder beriefen mehrköpfige, meist international und hochkarätig besetzte Historikerkommissionen. Aber auch halbstaatliche Einrichtungen und Körperschaften in unterschiedlicher Trägerschaft, darunter Forschungsinstitutionen wie die Max-Planck-Gesellschaft, das Deutsche Rote Kreuz oder der Deutsche Fußball-Bund, finanzierten bereits solche Projekte.

Gegenstand der seit zwei Jahrzehnten boomenden zeithistorischen Auftragsforschung – wobei der Begriff „Auftragsforschung“ hier deskriptiv, und nicht negativ wertendend verwendet wird – ist in erster Linie die NS-Zeit. Welche Rolle hat eine Behörde, ein Unternehmen, ein Verband oder eine sonstige Einrichtung gespielt? Liegt eine direkte oder indirekte Beteiligung der Institution und/oder ihrer Vertreter an NS-Verbrechen vor? Wie stellten sich diese nach 1945/49 zu ihrer Vergangenheit? Welche Kontinuitäten und Prägungen der NS-Zeit wirkten mit welchen Folgen fort? Das sind einige der häufigsten Fragen, die zur Klärung an Historikerinnen und Historiker herangetragen werden.

Zunehmend rücken jedoch auch weniger weit zurückliegende Bereiche der Zeitgeschichte in den Fokus der Aufmerksamkeit. Zu den prominentesten Beispielen in den letzten Jahren gehören die Medikamentenversuche westlicher Pharmafirmen in der DDR und die von Inhaftierten in DDR-Gefängnissen verrichtete Zwangsarbeit. Aber auch das in beiden deutschen Staaten betriebene Doping im Sport und die Kindern und Jugendlichen beiderseits der Grenze in kirchlichen, staatlichen und privaten Einrichtungen angetane sexualisierte Gewalt und die Positionierung insbesondere der Partei Die Grünen zur Pädosexualität sind Gegenstand politisch-historischer Aufarbeitung mittels Auftragsforschung.

Ausgehend von der durch Zeitgeschichte-online (ZOL) dokumentierten kontroversen Debatte um die vom Auswärtigen Amt beauftragte und im Jahr 2010 veröffentlichte Studie Das Amt und die Vergangenheit widmet ZOL mit „Zeithistorische Konjunkturen. Auftragsforschung und NS-Aufarbeitung in der Bundesrepublik“ nun den aufs Engste miteinander verwobenen Komplexen der historischen (Auftrags-)Forschung einerseits und der NS-Aufarbeitung von Institutionen andererseits einen eigenen Themenschwerpunkt.

Beide Bereiche stehen in einem Spannungsverhältnis. Die institutionelle Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheit kann einer Forschungsarbeit interner oder externer Historiker vorangehen oder nachfolgen, oft finden sie jedoch gleichzeitig und mit unterschiedlichen Fliehpunkten statt. Beide Ebenen – zum einen die Auseinandersetzung der Institutionen mit ihrer Vergangenheit, zum anderen die Erforschung dieser Vergangenheit durch Historikerinnen und Historiker – sind jedoch zu trennen, auch und gerade weil diese eng aufeinander bezogen und nicht selten durch Wechselwirkungen verbunden sind.

Dieser Themenschwerpunkt ruht auf zwei Säulen. Die erste wird gebildet von Aufsätzen, die einen Überblick über den Verlauf und den Stand der NS-Aufarbeitung und Auftragsforschung in unterschiedlichen Bereichen bieten. Diese umfassen sowohl staatliches als auch nicht-staatliches Terrain, von Unternehmen über die Justiz, Vereine und Verbände bis hin zum Militär, dem Sport und den Kirchen. Die zweite Säule besteht aus aktuellen Interviews mit Historikern, die gegenwärtig einschlägige Forschungsaufträge bearbeiten oder vor kurzem abgeschlossen haben. Primär sind dies Projekte zu Behörden wie dem Bundesjustizministerium, dem Bundeskriminalamt oder dem Bundesamt für Verfassungsschutz. Ergänzt wird der Themenschwerpunkt schließlich durch einen Pressespiegel und eine umfangreiche Materialsammlung, bestehend aus Literaturhinweisen und Linklisten, sowie durch Verweise auf anderweitige Beiträge zum Thema.

Bei den Überblicksaufsätzen wurde darauf Wert gelegt, ein breites Spektrum an Autorinnen und Autoren zu versammeln – sowohl Doktoranden als auch Professorinnen und Professoren, sowohl deutsche Historikerinnen und Historiker, die selbst im Rahmen von Auftragsforschungsprojekten arbeiteten oder noch arbeiten, als auch ausländische Autoren, die von außen einen Blick auf die deutsche Situation werfen. Dem besonders gewichtigen Bereich der Unternehmensgeschichte wurde dabei neben einem Überblickstext auch eine Fallstudie gewidmet. Dabei wurde den Autorinnen und Autoren bewusst kein enges Raster bezüglich des Inhalts oder des Umfangs vorgegeben. Ihnen allen sei an dieser Stelle für ihre Beiträge vielmals gedankt – ebenso wie all denjenigen, die sich für Interviews zur Verfügung stellten und zahlreiche Fragen beantworteten.