von Jürgen Kocka

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1. Januar 2010

Man weiß viel über die Geschichte der Arbeit in verschiedenen Arbeitsverhältnissen, Berufen, Städten, Gütern, Unternehmen und Arbeitskonflikten, auch über die Geschichte des Arbeits­begriffs und der Arbeitsdiskurse in der Philosophie, den Sozialwissenschaften und der schönen Literatur. Auch an Überblicksdarstellungen fehlt es nicht ganz.[1] Trotzdem bleibt das Feld als ganzes unstrukturiert.

Vielleicht liegt es daran, dass es am Konsens über die Fragen fehlt, die zu verfolgen sind, wenn man über die Geschichte der Arbeit im allgemeinen handelt. Vielleicht liegt es auch daran, dass der Begriff „Arbeit“ nur schwerlich klar umrissen werden kann, sich im Lauf der Zeit sehr gewandelt hat, von einer Sprache und Kultur zur anderen variiert und überhaupt sehr umstritten bleibt. Erschwerend kommt hinzu, dass in den meisten historischen Konstellationen das, was der Begriff „Arbeit“ meint, auf das engste mit anderen Tätigkeiten und Lebensäußerungen verknüpft und verschlungen war – was die Thematisierung von „Arbeit“ als eines isolierbaren Phänomens zu einem anachronistischen Unternehmen zu machen droht. Schließlich ist unübersehbar, dass „Arbeit“ ein hoch aggregiertes und hoch abstrahiertes begriffliches Konstrukt darstellt und so viel Verschiedenes umfasst, dass es schwierig ist, Beschreibungen und Erklärungen zu formulieren, die für das ganze Aggregat, also für Arbeit generell, gültig sind.

Trotzdem ist es verführerisch und lohnend, über die Geschichte der Arbeit im allgemeinen nachzudenken. Zum einen verlangt das Thema die Verknüpfung der verschiedensten methodischen Ansätze und stellt somit eine interessante Herausforderung an den Historiker dar. Zum andern haben die verbreitete Massenarbeitslosigkeit, die Veränderung der Arbeit unter dem Einfluss von Globalisierung und Computerisierung wie auch die Notwendigkeit und die Schwierigkeit der Reform unserer gesellschaftlich-politischen Verhältnisse seit einiger Zeit zu lebhaften Grundsatzdiskussionen über den Zugang zu Arbeit als ökonomischer und sozialer Ressource, ihrer politischen Relevanz und kulturellen Bedeutung geführt, auch über die „Arbeitsgesellschaft“ und über mögliche Alternativen zu ihr, wenn sie denn, wie manche meinen, ein Auslaufmodell darstellt.[2] Durch Untersuchungen und Reflexionen zur Geschichte der Arbeit im allgemeinen können Historiker zu dieser grundsätzlichen Selbstver­ständigungsdebatte der Gegenwart beitragen, die, wenn sie ohne historische Dimension geführt würde, wenig weit käme und deshalb oft mit Annahmen über vergangene Zustände operiert, ohne dass diese immer zureichend geprüft und interpretiert werden könnten.

 

Begriff und Aufwertung der Arbeit

Zunächst zur Begriffsgeschichte und zum Problem der Definition. Auf diesem Teilgebiet ist der Forschungsstand am besten, wenngleich zumeist auf den Westen konzentriert und ohne die dringend notwendigen Vergleiche der Arbeitsbegriffe in den verschiedenen Zivilisationen.[3]

Es gab und gibt Kulturen und Sprachen, die keinen allgemeinen Arbeitsbegriff kannten und kennen. Kulturen und Sprachen unterscheiden sich überdies sehr darin, welche Tätigkeiten sie als „Arbeit“ (oder mit Hilfe eines teilidentischen Begriffs) zusammenfassen und von anderen Tätigkeiten abgrenzen. Das macht den Vergleich interessant und die Übersetzung schwierig.

Beispielsweise wird berichtet, dass die Yir-Yoront, ein einheimischer Stamm in Australien, Arbeit und Spiel mit dem gleichen Wort bezeichneten, und dass die Dogon in Mali ein und dasselbe Wort für Ackerbau und für den Tanz bei religiösen Zeremonien benutzen, während sie keinen allgemeinen Begriff für Arbeit besitzen.[4] – Den Griechen der klassischen Epoche wäre es unsinnig erschienen, die Handarbeit der Sklaven am Feld, die untergeordnete Arbeit der Frauen im Haus, die literarische Produktion eines Schriftstellers und die Tätigkeit eines Politikers mit ein und demselben Begriff zu belegen. Für verschiedene Aktivitäten benutzten sie verschiedene Worte, sie verfügten über keinen allgemeinen Arbeitsbegriff.[5] – Die Begriffsbildung im frühen und hohen Mittelalter war komplex und im Wandel begriffen, doch der Tendenz nach blieben „labor“, „Arbeit“, „travail“ und „labour“ auf körperliche Arbeit eingeengt.[6] – Noch in Zedlers Universallexikon von 1763 tut sich der Artikel „Arbeit“ schwer, eine allgemeine Definition zu geben. Im wesentlichen begnügt er sich mit der Aufzählung unterschiedlicher Beispiele für Arbeit, darunter allerdings neben „etwas Gutes schaffen mit den Händen“ auch schon, mit Hinweis auf Paulus, das Reisen, die Lehre und der Disput, übrigens auch die „schwere Amts- und Erlösungsarbeit Christi“.[7]

Es sollte nicht wundern, dass ein allgemeiner Begriff von Arbeit – etwa im Sinn zielstrebiger Anstrengung körperlicher und geistiger Kräfte zur Erfüllung von Bedürfnissen (oder so ähnlich) – nur sehr allmählich und längst nicht überall entstand. Denn ein solcher Begriff wird erst dann benötigt und sinnvoll, wenn tatsächlich sehr verschiedene Tätigkeiten unter bestimmten Gesichtspunkten als formal ähnlich erscheinen und gleichzeitig von anderen Tätigkeiten abgrenzbar sind. In vielen Gesellschaften fehlte und fehlt es an solcher Aus­differenzierung wie auch an praktischen Konstellationen, die den semantischen Abstraktions- und Subsumtionsakt nahe legen. Umgekehrt lassen sich in der europäischen Geschichte Konstellationen – diskursive Situationen – identifizieren, in denen es Anlässe zur Ent­wicklung eines allgemeinen Arbeitsbegriffs gab, Schübe zu seiner Entwicklung stattfanden und damit Schritte auf dem Weg der Konstituierung von Arbeit als einem allgemeinen, mehrere Tätigkeiten umfassenden und von anderen Tätigkeiten unterschiedenen Phänomen.

Da war einmal der religiös-theologische Kontext des christlichen Glaubens, seiner Auslegung und Institutionalisierung, der Gelegenheit bot, über menschliche Arbeit im allgemeinen zu reflektieren, ansatzweise schon in spätantiker und mittelalterlicher Zeit, dann besonders deutlich in der Reformation, als beispielsweise Luther Arbeit als „Beruf“ und Gottesdienst, als Teil von Gottes Ordnung in der Welt umschrieb: die Magd, die den Besen schwingt, tut in dieser Hinsicht nichts anderes als das, was Bischöfe und Könige tun, sie tut ihre Arbeit, denn vor Gott gilt alle Arbeit gleich. – Da war zum andern die obrigkeitliche Politik. Zunächst begannen die Städte des 14. und 15. Jahrhunderts, Armut und Müßiggang zu bekämpfen und Arbeit positiv zu assoziieren: mit Tugend, Wohlstand und Macht. Dabei ging es um Arbeit im allgemeinen. Dies setzten dann die absolutistischen Territorialstaaten der Frühen Neuzeit mit ihrer Politik der Armutsbekämpfung, Arbeitserziehung und Sozialdisziplinierung fort.[8] – Drittens glichen sich unterschiedliche Tätigkeiten unter den Gesichts-punkten des sie bewertenden Marktes. „A man’s labour also is a commodity exchangeable for benefit, as well as any other thing“, schrieb Thomas Hobbes 1651 in England, wo der Kapitalismus als Kommerzialisierung weit vorgedrungen war.[9] Schließlich das Denken, die Schriften der Auf­klärer, für die Arbeit im allgemeinen zur menschlichen Tätigkeit schlechthin wurde.[10]

Im 18. Jahrhundert war jedenfalls ein allgemeiner Begriff von Arbeit entstanden, der von verschiedenen Autoren leicht unterschiedlich gefasst wurde, aber in der Regel durch folgende Minimalmerkmale definiert war: Arbeit hatte einen Zweck außerhalb ihrer selbst, den Zweck, etwas herzustellen, zu leisten, zu erreichen; Arbeit hatte etwas von Verpflichtung oder Not­wendigkeit an sich, diente einer von anderen gestellten oder selbst gesetzten Aufgabe; Arbeit war immer auch mühsam, hatte Widerstand zu überwinden, erforderte Anstrengung und ein Minimum an Beharrlichkeit, über den Punkt hinaus, an dem die Aufgabe aufhörte, ausschließlich angenehm zu sein. Im großen und ganzen ist dies eine auch heute noch akzeptable Minimalumschreibung von Arbeit im umfassenden Sinn. Spiel, Muße, Nichtstun sind Gegen-begriffe.[11]

Hand in Hand mit der Herausbildung eines allgemeinen Arbeitsbegriffs fand eine ständige Umwertung und Aufwertung der Arbeit statt. In der Antike herrschte eine skeptische Einschätzung der Arbeit vor, ihre Wirklichkeit war durch Unfreiheit und Inferiorität geprägt, Arbeit und Freiheit, Arbeit und Bürgerrecht standen in Spannung zueinander wie oikos und polis. – Die wortgeschichtliche Wurzel von „Arbeit“, althochdeutsch „arebeit“, ist dunkel, düster und hart. Das Lexikon verzeichnet als Entsprechungen: mühe, mühsal, not, die man leidet oder freiwillig übernimmt; kampfesnot, strafe, kindesnöte. Ähnlich war es in anderen Sprachen. – Ambivalenz in vielen Schattierungen kennzeichnete das Verständnis der Arbeit in der jüdisch-christlichen Tradition: Arbeit als Fluch und Segen, Strafe und göttlicher Auftrag zugleich. Selbst in den entschiedensten Plädoyers für die Anerkennung der Arbeit – jeder Arbeit – als göttlich gewollt, so in den Mönchsregeln des Mittelalters und den Schriften der Reformatoren, lief immer ein Subtext mit, gemäß dem mit der Mühsal und Qual der harten Arbeit auch ein Stück Buße für menschliche Sündhaftigkeit geleistet werden sollte – „im Schweiße deines Angesichts“ (Genesis 3, 17-19). – In der europäischen Stadt des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, mit dem zünftigen Handwerk und dem ständischen Handel als sozialökonomischer Basis, gewann Arbeit zentrale Bedeutung. Arbeit – vor allem qualifizierte, berufsförmige, ehrbare, also sozial und kulturell genormte Arbeit – war nun mit Freiheit und Stadtbürgerrecht innerlich verknüpft, diametral anders als in der antiken Polis. Arbeit wurde für die entstehende Stadtbürgerkultur prägend, mit anti-feudaler Spitze. Stadt­bürgerliche Kultur wirkte aufwertend auf Arbeit zurück, indem sie sie ehrte und als Legitimationsquelle nutzte, auch zur Legitimation von Eigentum, Vermögen und sozialen Vorsprüngen. – Schließlich das 17. und 18. Jahrhundert: In den Schriften der Aufklärer und der frühen Nationalökonomen kam es zur geradezu emphatischen Aufwertung der Arbeit als Quelle von Eigentum, Reichtum und Zivilität bzw. als Kern menschlicher Existenz und Selbstverwirklichung – dies oft mit anti-aristokratischer Spitze, in bürgerlichem Geist und mit neuprotestantischer Selbstgewissheit, befördert vom sich durchsetzenden Kapitalismus und technologischen Fortschritt, auch von der inneren Staatsbildung der Territorialstaaten, Hand in Hand mit beschleunigtem Wandel auf vielen Gebieten.[12] Jedoch sind zwei begriffsgeschichtliche Entwicklungen zu unterscheiden:

Zum einen ist in der Philosophie der Aufklärung und dann des Deutschen Idealismus eine emphatische Fundamentalisierung des Arbeitsbegriffs zu beobachten. Thomas Hobbes brachte Mitte des 17. Jahrhunderts die Arbeit (operatio) und Handlung (actio) mit Macht (potentia) in enge Verbindung. Wenig später machte John Locke Arbeit zu einem gesellschaftlichen Grundbegriff. Für ihn verlieh Arbeit, und zwar individuelle Arbeit, dem Menschen sein Recht auf Eigentum und den Dingen erst ihren Wert. Und im Standardwerk der französischen Aufklärung, in der von D’Alembert und Didérot herausgegebenen „Encyclopédie“ (1751-72) hieß es über „travail“: „occupation journaliere à laquelle l’homme est condamné par son besoin & à laquelle il doit en même temps sa santé, sa subsistance, sa sérénité, son bon sens & sa vertu peut-être ». Allmählich begann sich die alte Verbindung von « Arbeit“ mit „Mühe und „Last“ zu lockern. Die Techniken (artes) sollten zur Arbeits­erleichterung führen, so spätestens Descartes: Arbeit als Lust statt Arbeit als Last dank fort­schrittlicher Technologie.

Radikaler noch formulierte Immanuel Kant. Er wertete die Muße als „leere Zeit“ ab und die Arbeit zum Lebenssinn auf: „Je mehr wir beschäftigt sind, je mehr fühlen wir, dass wir leben, und desto mehr sind wir uns unseres Lebens bewusst. In der Muße fühlen wir nicht allein, dass uns das Leben so vorbeistreicht, sondern wir fühlen auch sogar eine Leblosigkeit.“ Friedrich Schiller gab dem Gedanken die volkstümliche Form und die sozialgeschichtliche Einordnung: Arbeit ist des Bürgers Zierde, Segen seiner Mühe Preis. Ehrt den König seine Würde, ehret uns der Hände Fleiß.“[13]

Neben der philosophischen Fundamentalisierung des Arbeitsbegriffs fand, zum andern, seine Ökonomisierung statt. Hierfür findet man Beispiele bei den schottischen Moralphilosophen und Politökonomen des 18. Jahrhunderts, insbesondere beim einflussreichen Adam Smith, seinen Vorläufern, Übersetzern und Nachfolgern. Arbeit erschien bei Smith als eigentliche Quelle des Reichtums und der Wertschöpfung, als wichtigster Produktionsfaktor, als wahrer Maßstab des Tauschwerts der Güter, als Hauptbegriff der ökonomischen Theorie und der entstehenden Wirtschaftswissenschaft. Aus diesem wirtschaftswissenschaftlichen Verständnis von Arbeit war Mühsal, Pein und Verachtung geschwunden. Arbeit wurde in diesem Denken zur grenzenlos dynamischen Kraft. Sie schaffe Reichtum, Luxus und Kapital – und dies wurde akzeptiert, in der Hoffnung und Überzeugung, dass eben diese Akkumulation letztlich dem allgemeinem Wohl zugute kommen werde. Dies war der Arbeitsbegriff des durch­brechenden Kapitalismus, noch vor Beginn der Industrialisierung, denn diese setzte sich in England ja erst seit dem späten 18. Jahrhundert, auf dem europäischen Kontinent erst im 19. Jahrhundert durch.

Bei Smith wurde die Gesellschaft als Wirtschaftsgesellschaft gedacht: auf Arbeitsteilung und Handel beruhend, durch Märkte und aufgeklärtes Eigeninteresse der vielen Einzelnen verknüpft (allerdings auch durch Recht und Sitte zusammengehalten), mit Produktion und Konsum, Arbeit und Bedürfnis als zentralen Momenten. Von dieser modernen, bürgerlich-kapitalistischen, fortschrittsoptimistischen Gesellschaftsvorstellung her, in der Arbeit eine Schlüsselfunktion hielt, konnte Kritik an herkömmlichen und zeitgenössischen Formen politischer Herrschaft geübt werden: an Adelsmacht und absolutistischem Staat. Zugleich war das System von Smith ein System der „Politischen Ökonomie“, das die Wirtschaft auf Politik, Nation und Staat bezog, und in dem Arbeit als Grundlage von Wohlstand und Macht des Nationalstaats geschätzt wurde.[14]

Viele Differenzierungen wären nötig, Ausnahmen wäre zu nennen, auch gegenläufige Evidenz lässt sich aufführen. Bei aller emphatischen Aufwertung der Arbeit ging der Sinn für ihre Ambivalenz nicht ganz verloren. Beispielsweise sah Diderots Encyclopédie, wie zitiert, die Arbeit eben nicht nur als Grundlage des Nutzens, Segens und der Tugend, sondern auch als etwas, zu dem der Mensch aufgrund seiner Bedürfnisse verdammt war. – Viele von jenen Intellektuellen, die die ökonomische Zentralität und die zivilisierende Macht der Arbeit herausstrichen, wussten zugleich, dass menschliche Wesen, und besonders die „common people“, in der Regel Muße der Arbeit vorziehen, denn die sei immer auch „toil and trouble“. Eben deshalb bedürfe es – vor allem bei „inferior employments“ – der „recompensation“.[15] Auch unterschieden Autoren wie Adam Smith und Adam Ferguson durchaus zwischen Arbeiten unterschiedlicher Qualität – zwischen produktiven und unproduktiven, geistigen und mechanischen, gelernten und ungelernten, hochwertigen und gemeinen Tätigkeiten zum Bei­spiel. Und sie wussten, dass die einen aufwerten, die anderen erniedrigen und somit soziale Ungleichheit bekräftigen.[16] Gleichwohl, der Haupttrend ist nicht zu bezweifeln: Bis 1800 hatte sich der Arbeitsbegriff in den intellektuellen Diskussionen ein Stück weit aus seiner ehemals engen Verbindung zu Kampf, Not und Mühsal gelöst, aufs Schöpferisch-Kreative hin bewegt und als Kern menschlicher – jedenfalls bürgerlicher – Identitätsbildung empfohlen. Ich sehe nicht, dass sich in anderen Kulturkreisen eine ähnliche Apotheose der Arbeit entwickelt hat. In der Konsequenz erschien Arbeit als Menschenrecht.[17]

 

Arbeit als Last und Utopie

Zweifellos gingen die Arbeitserfahrungen der Angehörigen der verschiedenen sozialen Kreise in den geschilderten Arbeitsdiskursen nicht auf. Was die Arbeitsverhältnisse und Arbeits­erfahrungen betrifft, zerfielen ständische und bürgerliche Gesellschaft geradezu in Teil­gesellschaften. Arbeit bedeutete Verschiedenes für Adelige, Bürger und Bauern, Handwerker und unterständische Existenzen auf dem Land und in den Städten. Wessen Arbeit wird von der Begriffsgeschichte beschrieben? Wer selbst mit den Händen arbeitete, sei es als Bauer oder Landarmer, als Magd oder Knecht, als Handwerker, Heimarbeiterin oder Tagelöhner, häufig in Unfreiheit oder an der Grenze zur Verarmung, dürfte die Last und die Mühe, die Härte und das Elend der Arbeit nicht so beiseite gerückt oder relativiert haben, wie es in den philosophischen und sozialwissenschaftlichen Abhandlungen geschah.[18] Doch die mehr als punktuelle Rekonstruktion von Arbeitserfahrungen, -haltungen und –gewohnheiten bleibt methodisch schwierig. Ich wähle zunächst einen sehr indirekten Weg. Auf der Suche nach Quellen, die darüber Auskunft geben können, wie die Menschen Arbeit früher eingeschätzt haben und wie man sich früher die Zukunft der Arbeit gewünscht hat, habe ich utopische Romane durchgesehen, also Exemplare einer literarischen Gattung, die der heutigen Science­fiction verwandt ist. Diese Schriften entwarfen (und entwerfen) Visionen der Zukunft, die als kritische Kommentare zu den Verhältnissen der Gegenwart gelesen werden können, in der sie entstanden.[19]

Die Schrift „Utopia“ von Thomas Morus wurde 1516 veröffentlicht, sie gab der literarischen Gattung den Namen. Für Morus, den englischen Philosophen und Staatsmann, war Arbeit „Knechtschaft des Leibes“. Auf der Insel „Utopia“ (Nirgend-Ort) werde die tägliche Arbeits­zeit auf sechs Stunden pro Tag beschränkt sein, um genügend Zeit für „andere nützliche Beschäftigung“ zu haben, für literarische Studien oder wissenschaftliche Kontemplation, aber auch für Sport und Spiel, für Gespräch, Musik und Erholung. Sechs Stunden sollten genügen, um alles Nötige zu erzeugen, und mehr. Die dafür nötige hohe Produktivität sollte durch zentrale Planung und Organisation erreicht werden. Dazu gehörten die allgemeine Arbeitspflicht für Männer und Frauen, eine Art von Gütergemeinschaft, die Abschaffung der Lohnarbeit und das Verbot des Müßiggangs: ein utopisches Gegenmodell mit kurzer Arbeit und ausgiebiger Freizeit, durch Disziplin und autoritäre Organisation erkauft.[20]

In Johann Gottfried Schnabels „Insel Felsenburg“ findet sich ein gutes Jahrhundert später noch immer das nämliche Bild, aber mit einer bezeichneten Neuheit: jetzt träumte man von Maschinen und abgerichteten Affen, die die Menschen der Zukunft von der „grausame[n] Mühe und Arbeit“ befreien, die Arbeit erleichtern und die Arbeitszeit radikal verkürzen würden – ein Motiv, dass sich hielt und in Gestalt immer effektiverer technischer Erfindungen noch in den Utopien des 20. Jahrhunderts ausgemalt wurde: als Fortschritt zumeist, als bedrohliche Maschinerie zuletzt.[21]

Der französische Aufklärer Louis Sébastien Mercier schrieb um 1770 einen in ganz Europa gelesenen utopischen Roman, einen Bestseller mit dem Titel „Das Jahr 2440“. Das Hand­lungsgerüst bildet ein Traum. Der Erzähler erwacht mitten im Paris des Jahres 2440 und macht sich auf zu einer Wanderung durch die Straßen und Plätze der Metropole: man lebt vernünftig, fleißig, sparsam, friedlich, grundehrlich und sehr ernst. Armee und Prostitution sind abgeschafft, die Bastille ist längst abgerissen, universelle Gastfreundschaft ersetzt Restaurant und Kneipe, das Theater ist ausschließlich moralische Anstalt; Physiker und Astronomen sind die Priester und Katecheten der von allen geachteten Vernunftreligion. Über die Arbeit im Jahr 2440 heißt es: „Jeder Hausvater gibt ein Beispiel. Das Tagewerk ist mäßig, und sobald es geschafft ist, beginnt das Vergnügen. Ruhepausen regen den Arbeitseifer an, der durch Spiele und ländliche Tänze immer weiter angeregt wird. [...] Die Arbeit bereitet nicht mehr jenen hässlichen und widerlichen Anblick, weil sie nicht mehr als das Los von Sklaven erscheint. Eine sanfte Stimme lädt einen zu seiner Pflicht, und alles geht leicht, gemächlich, ja sogar angenehm. Da [man] nicht mehr jene ungeheure Menge Müßiggänger [hat], und die Faulheit abgeschafft ist, so darf nun endlich jedes Individuum seine Muße genießen, und es muss keine Klasse mehr darben, zum Vorteil einer anderen. Ihr werdet leicht einsehen“, schreibt der Autor, „dass, da wir weder Mönche noch Pfaffen, noch zahllose Dienstboten und unnütze Knechte noch Hersteller kindischer Luxusartikel mehr haben, einige wenig Arbeitsstunden bereits weit mehr einbringen als der öffentliche Bedarf es erfordert.“ – Die Geschlechterdifferenz aber hatte sich gehalten: die Frauen waren auch noch 2440 zu häuslichen Arbeiten bestimmt, die Feldarbeit verblieb für die Männer. Und für die unangenehmsten Arbeiten hielt der aufgeklärte Autor eine besondere Lösung bereit. „Hat uns die Natur schon dazu verdammt, das Fleisch der Tiere zu essen, so wollen wir uns wenigstens den Anblick ihres Todes ersparen. Das Fleischerhandwerk wird von Ausländern ausgeübt, die ihre Heimat verlassen mussten. Sie werden vom Gesetz geschützt, aber nicht in die Klasse der Bürger aufgenommen. Keiner von uns betreibt diese blutige und grausame Tätigkeit.“[22]

Auch die Frühsozialisten des frühen 19. Jahrhunderts träumten von kürzester Arbeitszeit und waren bereit, sie durch vorübergehende Arbeitspflicht zu erkaufen, zentral organisiert. Ein Senat sollte entscheiden, nicht aber der Markt. Lohnarbeit gehöre abgeschafft. Als neues utopisches Moment kam nun hinzu, dass die lebenslange Festlegung auf einen Beruf über­wunden werde. Durch einen Arbeitswechsel alle zwei Stunden sollte jeder die Möglichkeit haben, gleichzeitig in mehreren Berufen tätig zu sein. All das forderte Wilhelm Weitling in Anlehnung an Charles Fourier, der Arbeit und Genuss zusammenführen wollte. Der junge Marx nahm das auf, als er in den 1840er Jahren zur Utopie der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft rechnete, dass sie „die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, auch das Essen zu kritisieren, ohne je Jäger, Fischer oder Hirt oder Kritiker zu werden, wie ich gerade Lust habe“.[23]

Spätere Sozialisten setzten verstärkt auf Planung, begrenzte Arbeitspflicht und durchgreifende Organisation der Arbeit – gegen Lohnarbeit, Markt und Müßiggang, für Gleichheit und Groß­unternehmen, mit öffentlichem Wohlstand, verringerter Arbeitszeit und Abschaffung schwerer, gefährlicher Arbeit. So schrieb es der Amerikaner Edward Bellamy in seinem Bestseller „Ein Rückblick aus dem Jahr 2000“ von 1888, so August Bebel in „Die Frau und der Sozialismus“. Beide sahen eine Zukunft voraus, die die Hausarbeit abschaffen, d. h. die Frauen und Dienstboten davon befreien würde – dank öffentlicher Waschanstalten und städtischer Küchen, dank Elektrizität und technischen Fortschritts.[24]

Anders, radikaler die Utopie des anarchistischen Sozialismus, die wir bei Paul Lafargue, Marxens Schwiegersohn, 1883 finden, in seiner schmalen Schrift „Das Recht auf Faulheit“. „Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht, eine Sucht, die das in der modernen Gesellschaft herrschende Einzel- und Massenelend zur Folge hat. Es ist dies die Liebe zur Arbeit.“ Die Muße sei verloren gegangen, mit dem Ethos des Bürgertums, den Märkten des Kapitalismus und den Maschinen der Industrialisierung. Sehnsüchtig blickte er in eine idealisierte Vergangenheit zurück und entdeckte in ihr das Maß für die erwünschte Zukunft. „Meint man aber, dass die Arbeiter, obwohl sie damals von sieben Tagen der Woche nur fünf arbeiteten, nur von Luft und Wasser gelebt hätten [...]? Geht doch! Sie hatten Muße, Zeit, um die irdischen Freuden zu kosten, um der Liebe zu pflegen und Possen zu treiben, und vergnügt zu Ehren des Gottes der Nichts­tuerei Tafel zu halten.“ Man müsse weniger arbeiten und mehr konsumieren. „Oh Faulheit, Mutter der Künste und edlen Tugenden, sei Du der Balsam für die Schmerzen der Menschheit!“[25]

Zuletzt ein Stück aus dem 20. Jahrhundert, da aus dem Wunschtraum ein Albtraum wird. Als Beispiel diene Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ von 1937. In diesem „Roman der Zukunft“ leiden die Menschen nicht mehr unter schwerer Arbeit, sondern sie sind Rädchen in einer großen, selbsttätig laufenden Maschinerie und ihnen werden alle Wünsche so erfüllt, dass sie kaum noch wirkliche Wünsche haben. Rauschmittel werden fabrikmäßig hergestellt. Man kann mit ihnen Urlaub von der Wirklichkeit nehmen, bevor man auf den „sicheren Boden täglicher Arbeit und Unterhaltung“ zurückkehrt. Die Unterscheidung zwischen Arbeit und Freizeit verschwindet, weil die Arbeit leicht und die Freizeit ausgefüllt ist. „Heutzutage“ – gemeint ist die schöne neue Welt der Zukunft – „arbeiten [auch] die alten Leute, erfreuen sich ihrer sexuellen Triebe, sind immer beschäftigt, das Vergnügen lässt ihnen keine Muße, keinen freien Augenblick, um sich hinzusetzen und nachzudenken.“[26]

Soviel zur Zukunft der Arbeit in den Utopien der Vergangenheit. Zukunftsutopien können als historische Gegenbilder zu ihrer Gegenwart verstanden werden. Es ist deutlich, wogegen sie sich wandten, was ihren Autoren an der Arbeit, wie sie sie kannten, besonders unvollkommen oder unerträglich erschien:

Vor allem und fast durchgehend war es die Härte der Arbeit, die Arbeit als Mühe und Last, die überwunden werden sollten – durch Arbeitszeitverkürzung, Affen und Maschinen.

Dann war es, und zwar schon im 18. Jahrhundert, die Ungleichheit in der Verteilung der Arbeit und ihrer Erträge, die es in Zukunft zu verändern galt.

Lohnarbeit galt den Autoren keineswegs als Quelle der Freiheit, sondern als Ärgernis, das durch Organisation ersetzt werden sollte – im Interesse von Solidarität, Ordnung und Effizienz, und sogar um den Preis begrenzten Zwanges.

Schließlich war es die lebenslange Eintönigkeit der Arbeit, die durch dauernden Wechsel behoben werden sollte, auf dass die Arbeit besser der menschlichen Selbstverwirklichung dienen könne. Dies Motiv tauchte erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf.

Zugegeben, dies sind nur indirekte Belege, keine Berichte über Arbeitserfahrung aus erster Hand. Aber sie stammen aus viel gelesenen Schriften. Sie müssen mit weit verbreiteten Erfahrungen und Erwartungen harmoniert haben. Um gute Utopien schreiben zu können, mussten die Autoren realistische Beobachter sein. Zweifellos konnten auch anstrengende, wenig geschätzte und schlecht bezahlte Arbeiten Anlass zu Genugtuung, Zufriedenheit und Ergebnisstolz bieten, Freude machen, überhaupt die unterschiedlichsten physischen, psychischen und sozialen Bedürfnisse erfüllen.[27] Aber es ist doch bemerkenswert, wie ein­deutig in den hier ausgewerteten Quellen, den utopischen Romanen, Arbeit im Sinn von Erwerbsarbeit als unangenehme Mühe, drückende Last und ungeliebte Verausgabung erscheint, die man tut, weil es notwendig ist, und die man möglichst zu verkürzen sucht. Andere Belege weisen in dieselbe Richtung. So finden sich in einschlägigen Volksliedern  und Sprichwörtern kaum Erwähnungen von Arbeitslust und Arbeitslob, eher schon Erwähnungen der Sympathie für Faulheit und Sinn für Ruhe.[28] Keith Thomas sammelte Hunderte von Textstellen zur Bedeutung der Arbeit über die Jahrhunderte. In der Auswertung zitierte er einen Autor aus dem 17. Jahrhundert, aus dessen Sicht Tätigkeiten, die Vergnügen bereiten, keine Arbeit sind, da diese sich dadurch auszeichne, dass sie keine Freude errege. Das mag übertrieben sein. Doch Thomas fügt hinzu, dass seine Anthologie diesen Eindruck bestätige. Sie führe vor allem die Monotonie, Unannehmlichkeit, Langweiligkeit, Leiden und Zwänge des Arbeitens vor. „It confirms the inescapable fact that, through the centuries, the lot of most of the human race has been hard toil for small reward.“[29] In dieses Bild passt letztlich auch, wie sich Gewerkschaften und Sozialdemokratie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Erwerbsarbeit stellten: die Forderung nach ihrer Verkürzung war dominant. Und als Adolph Levenstein Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten Umfragen unter Industriearbeitern veröffentlichte, war wenig von Arbeitslust, dagegen viel von Arbeitsleid zu lesen, verbunden mit der Hoffnung auf mehr freie Zeit und eine ökonomische Situation, die es wenigstens der eigenen Frau erlauben würde, zu Hause zu bleiben statt „zur Arbeit zu gehen“.[30] Je näher die Quellen an den Alltag und die Erfahrungen der landwirtschaftlich und gewerblich arbeitenden breiten Bevölkerung heranführen, desto weniger ist von jener Glorifizierung der Arbeit zu spüren, die den Diskurs der Intellektuellen schon im 18. und in anderer Form auch noch im 19. Jahrhundert bestimmte.

 

Arbeit als Ideal und Erwerbsarbeit als Realität: die Arbeitsgesellschaft entsteht

In der Geschichte der Arbeit reicht vieles über die Jahrhunderte zurück. Der Begriff bildete sich lange vor der Industrialisierung heraus, und auch die „Glorifizierung der Arbeit“ (Hannah Arendt) war vorindustriellen, nämlich frühneuzeitlichen Ursprungs. Doch die Industrialisierung des „langen 19. Jahrhunderts“[31] veränderte das Feld. Erst jetzt entstand die „Arbeitsgesellschaft“, die noch unsere heutige Wirklichkeit prägt, wenngleich viele meinen, dass ihre Subsistenz zerrinnt und ihre Zeit ausläuft.

1.

Erst nach den Revolutionen und Reformen um 1800 und erst mit der Industrialisierung setzten sich die Mechanismen der kapitalistischen Marktwirtschaft auf breiter Front durch. An sich viel älter, wurden sie erst im 19. Jahrhundert zum dominanten Prinzip der wirtschaftlichen Ordnung, das zunehmend auch die Welt der Arbeit – der Erwerbsarbeit – strukturierte. Arbeit hatte über die Jahrhunderte in unterschiedlichen institutionellen und rechtlichen Rahmen stattgefunden: im Haus und im Haushalt, in verschiedenen Formen persönlicher Unfreiheit (u. a. Sklaverei), unter feudalen und korporativen Bedingungen. Im größten Teil Europas und zweifellos in Deutschland war vertraglich frei geregelte, marktbezogene Erwerbsarbeit vor 1800 ein Minderheitenphänomen gewesen, wenngleich die Grenzen zunehmend verschwammen und Marktelemente seit langem schrittweise in die Organisation von Land­wirtschaft und Gewerbe eingedrungen waren.[32] Erst jetzt, im 19. Jahrhundert, wurde marktvermittelte Arbeit dominant, natürlich in unterschiedlichen Formen, unter denen die Lohnarbeit nur eine war.

2.

Zunehmend fand Erwerbsarbeit in Manufakturen und Werkstätten, Fabriken und Bergwerken, Büros und Verwaltungen statt. Es gab zwar unzählige Übergangs- und Zwischenformen, auch Gegentendenzen. Doch insgesamt traten der Ort, an dem Erwerbsarbeit geleistet wurde und die Sphäre des Hauses bzw. der Familie auseinander. Solch räumliche Trennung war früher seltener gewesen. Bauern und Heimarbeiter, Handwerker und Kaufleute, aber auch Gelehrte und Verwalter waren vornehmlich dort ihrer Arbeit nachgegangen, wo sie und ihre Familien auch lebten und wohnten, wenngleich Jäger und Karawanenführer wie auch Fernkaufleute, Wanderarbeiter und andere auch in vorindustrieller Zeit Arbeit in räumlicher Distanz zu Haushalt und Familie leisteten.[33] Erwerbsarbeit war gewöhnlich eng mit sonstigen Arbeiten und Lebensäußerungen verknüpft, war „eingebettet“ gewesen. Das änderte sich nun für viele, bald für die meisten. Die Unterscheidung zwischen Arbeit im Sinn von Erwerbsarbeit und Nicht-Arbeit (einschließlich mancher anderen Tätigkeit) wurde jetzt schärfer gezogen, leichter erfahrbar und häufiger diskutiert. Die Erwerbsarbeit erhielt ihren eigenen Raum, der „Arbeitsplatz“ entstand. Die Erwerbsarbeit erhielt auch ihre eigene Zeit. Vorindustrielle Arbeit war meist unregelmäßig gewesen, nicht scharf begrenzt. Die natürlichen Rhythmen des Tages und des Jahres waren maßgebend, sie ergaben keine scharfen Zäsuren. Arbeit hatte oft sehr lange gedauert, war aber meistens porös, pausenhaltig, von anderen Tätigkeiten und Muße durchdrungen. Die Messinstrumente ließen zu wünschen übrig. Mit der Industrialisierung und der Ausdifferenzierung der Erwerbsarbeit in einem eigenen Bereich wurde nun das Zeitregiment genauer. Auch in dieser Hinsicht prägte sich der Unterschied zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit schärfer aus. Genauer gehende Uhren, Glocken, Sirenen, das Durchschreiten des Fabriktores oder die routinemäßige Eingangskontrolle beim Portier – so und auf andere Weise wurden Anfang und Ende der Arbeit klarer markiert. Bis zur Mitte des 19. Jahres dehnte sich die durchschnittliche Arbeitszeit aus, seitdem nahm sie ab, bis vor kurzem. Arbeit wurde damit messbarer als je zuvor und: umstreitbarer.[34] Erst auf dem Hinter­grund dieser Ausdifferenzierung wurde das Fehlen von Arbeit zu einem identifizierbaren Phänomen, zu einem Thema und bald zum Problem. Erst in den 1880er Jahren tauchten die Begriffe „Arbeitslosigkeit“, „unemployment“ und „chômage“ in den Lexika und sozialen Diskursen auf.[35]

3.

Arbeit – auch und besonders Erwerbsarbeit – war immer nach Geschlechtskriterien verteilt. Männer und Frauen hatten immer sehr ungleichen Zugang zu den verschiedenen Arten von Arbeit, für Männer und Frauen besaß Arbeit verschiedene Bedeutung, und die Arbeitsordnung war immer eng mit der Geschlechterordnung verknüpft. Streit und Kompromiss in dem einen Bereich hatten oft mit Streit und Kompromiss im andern Bereich zu tun. Die Verbindung von Geschlecht und Arbeit, von Geschlechter- und Arbeitsordnung änderte sich im 19. Jahr­hundert im Zusammenhang mit der zunehmenden Ausdifferenzierung von Arbeitsplatz und Haushalt. In haushaltsgebundener und haushaltsnaher Erwerbsarbeit hatten Mann und Frau meist eng kooperiert, meist arbeitsteilig und asymmetrisch – mit Tendenz zu männlicher Dominanz, aber in vielen Varianten und mit vielen Ausnahmen. Jetzt liefen Männerarbeit und Frauenarbeit weiter auseinander. Dies war im Bürgertum noch ausgeprägter der Fall als in der Arbeiterschaft, wo es fast durchweg notwendig und die Regel blieb, dass sich die Frau – wie früh auch die Kinder – am Einkommenserwerb der Familie beteiligten, und sei es nur mit einem geringen Anteil des „Hinzuverdienens“ in der einen oder anderen Form. Aber in dem Maß, in dem die Familie aufhörte, Produktionseinheit zu sein, verlor die arbeitsteilige Erwerbs-Kooperation der Paare an Bedeutung, verteilten sich Mann und Frau, Männer und Frauen auf unterschiedliche Arbeitsplätze und rückten damit – auch räumlich – auseinander. Überdies gewann nicht nur im Bürgertum, sondern ein Stück weit auch in der Arbeiterschaft das Modell der „male breadwinner family“ an Boden, gemäß dem der Mann und Vater die Erwerbsarbeit leistete und das Einkommen für die Familie erwirtschaftete, während der Frau und Mutter die unbezahlte Arbeit im Haus oblag, die einerseits die Erwerbsfähigkeit des Mannes ermöglichte, andererseits für die Geburt und die Erziehung der Kinder – und damit für die intergenerationelle Reproduktion – zuständig war und schließlich vielerlei Funktionen für die Organisation des Lebens außerhalb der Erwerbsarbeit wahrnahm. Dieses Modell setzte sich, wie gesagt, außerhalb des Bürgertums nicht flächendeckend durch, sein Realisierungs­grad variierte stark über die Berufsgruppen, Regionen, Länder und Jahrzehnte. Gleichwohl setzte es sich – in der Arbeiterschaft in Verbindung mit der Forderung nach dem Familienlohn – im Lauf des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend durch und ermög­lichte damit neue, vielfältige Formen der Ungleichheit – auch der Distanz – zwischen den Geschlechtern, die in vorindustrieller Zeit selten gewesen waren. Seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat sich dieser Trend, mit zunehmender Erwerbsarbeit der Frauen, umgekehrt.[36]

4.

Es hatte immer Unterschiede, Spannungen und Konflikte zwischen den Inhabern unterschied­licher Positionen im sozialen System der Arbeit gegeben: zwischen Guts- bzw. Grundherrschaft und Bauern, zwischen Meistern und Gesellen, Verlegern und Heimarbeitern, Unternehmern und Arbeitern sowie den vielen Mischexistenzen dazwischen. Jetzt, da die marktbezogene Erwerbarbeit bis zu einem gewissen Grad aus ihrer Einbettung in andere Tätigkeiten und Lebensäußerungen gelöst und zu einer klar unterschiedenen, eigenen Sphäre wurde, konnten sich diese Unterschiede, Spannungen und Konflikte, natürlich in sich ändernder Form, voll entfalten. Die Klasse wurde zu einer zentralen Dimension kollektiver Selbstidentifikation, der Klassenkonflikt zum großen Thema des Jahrhunderts.[37]

5.

Arbeit war immer von Regierungen, Behörden und anderen politischen Instanzen reguliert worden. Der Durchbruch der Marktwirtschaft und die rechtliche Liberalisierung reduzierten die öffentliche Regulierung der Arbeit, vor allem im zweiten Drittel und dritten Viertel des 19. Jahrhunderts. Aber nur für eine begrenzte Zeit. Schon in den beiden letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts setzte die rechtliche und administrative Regulierung der Arbeit neu ein. Da es sich nun um die Regulierung der Erwerbsarbeit als eines aus anderen sozialen und kulturellen Bezügen ein Stück weit herausgelösten, unterschiedenen Bereichs handelte, konnten sich dafür ein spezialisiertes Recht – das Arbeitsrecht – und ein darauf spezialisierter Arm von Regierung und Verwaltung entwickeln – deren Tätigkeit umgekehrt die „aparte“ Existenz der Arbeit als besonderer Sphäre unterstützte und zu ihrer Kodifizierung bzw. Normierung beitrug, und zwar durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch.[38]

Ich habe in den letzten Absätzen häufig von Erwerbsarbeit statt von Arbeit generell gesprochen. Tatsächlich betrafen die fünf genannten Strukturveränderungen nicht jede Tätig­keit, die unter den breiten Arbeitsbegriff fällt, der weiter vorn (Seite 5) als Ergebnis der Wahrnehmungs- und Diskussionsprozesse bis etwa 1800 festgehalten wurde. Vielmehr betrafen sie nur die Arbeit, von der man lebte und durch die man verdiente, größtenteils indem man Leistungen erbrachte und Güter herstellte, die auf Märkten einen Gegenwert erzielten – sei es als unterschiedlich qualifizierte Arbeitskraft, sei es als deren Produkt. Damit war nicht nur Arbeit für Lohn und Gehalt gemeint, wenngleich diese am schnellsten zunahm und bald den Großteil der Erwerbsarbeit wie die Mehrheit der Erwerbstätigen umfasste; damit war vielmehr auch die Arbeit von selbständigen Handwerkern, Kaufleuten, Unternehmern, Freiberuflern, Künstlern und später Politikern etc. gemeint, die ihre Dienste und Produkte auf dem Markt anboten, um davon zu leben und daran zu verdienen. Arbeiten dieser sozial­ökonomischen Qualität waren es, die von den großen Strukturveränderungen des 19. Jahr­hunderts umgeformt wurden. Sie gerieten dadurch ins Zentrum der Erfahrungen und Erwartungen, der Reflexion und der Diskussion, sie rückten im Sprachgebrauch der Zeit nach vorn und prägten zunehmend den Arbeitsbegriff, der sich damit ein Stück weit auf sie verengte. Dafür standen und stehen verschiedene Bezeichnungen zur Verfügung, doch „Erwerbsarbeit“ trifft das Gemeinte am besten.

Erwerbsarbeit stand auch schon in der Frühen Neuzeit häufig im Vordergrund, wenn über Arbeit diskutiert wurde. Im Grunde ging es in den weiter vorn diskutierten utopischen Romanen seit Thomas Morus um die Verkürzung, Organisation und Erleichterung von Erwerbsarbeit. Im Grunde waren Adam Smith und die anderen Autoren der entstehenden Wirtschaftswissenschaft an Arbeit als Erwerbsarbeit interessiert, während jedoch die Theo­logen und die Philosophen, die Schriftsteller und der allgemeine Sprachgebrauch ihrer Zeit einem breiten Verständnis von Arbeit folgten. Es war erst im 19. Jahrhundert, dass sich in Verbindung mit den genannten Zeiterfahrungen die Einengung des gängigen Arbeitsbegriffs auf Erwerbsarbeit weiter durchsetzte, in den öffentlichen Diskussionen wie in den öffentlichen Statistiken, in der Sozialpolitik wie im allgemeinen Sprachgebrauch, allerdings ohne die breiteren Bedeutungen ganz abzuwerfen. Auf diesem begriffsgeschichtlichen Weg von der Arbeit zur Erwerbsarbeit gerieten Tätigkeiten ganz an den Rand, die vorher als Arbeit gegolten hatten und nun nicht mehr als Arbeit im vollen Sinn zählten. Man denke an die Tätigkeiten im Haus, speziell die Arbeiten der Frauen im Haushalt, beim Gebären und in der Kindererziehung; an nicht-bezahlte Tätigkeiten in der Gesellschaft und im öffentlichen Interesse; an die Arbeit für sich selbst.[39]

Zur Geschichte der Arbeit im langen 19. Jahrhundert gehört im übrigen ein grundlegender Widerspruch. Er verschärfte sich, wurde politisiert und entwickelte sich zu einem wichtigen Antrieb gesellschaftlicher Dynamik. Ich meine den Widerspruch zwischen der emphatisch-anspruchsvollen Bedeutung der Arbeit in der Tradition des frühneuzeitlich-aufklärerischen Denkens (sh. oben Seite 6) einerseits und der Realität der Arbeit, wie sie sich im 19. Jahr­hundert als Erwerbsarbeit entwickelte (sh. oben Seite 19) andererseits. Der emphatische Dis­kurs über Arbeit als konstitutives Element menschlicher Existenz brach ja im 19. Jahrhundert nicht ab, wurde vielmehr durch Hegel und Marx noch einmal intensiviert und lief in anderer, nüchterner Weise mindestens bis Max Weber weiter.[40] Auf der anderen Seite war die wirkliche Arbeit als Erwerbsarbeit, wie ausgeführt, durch zunehmende Arbeitsteilung und Spezialisierung gekennzeichnet, häufig höchst abhängig von Märkten, Vorgesetzten oder Maschinen, oft hart, monoton, erschöpfend, abnutzend und elend. Diese Inkonsequenz, dieser Gegensatz oder Widerspruch war nicht neu, doch wurde er im 19. Jahrhundert weiter zugespitzt, und vor allem: er wurde im Zuge des Aufstiegs der bürgerlichen Gesellschaft ein Gegenstand öffentlicher Debatte. Aus diesem Widerspruch entstand einerseits die entschiedene und mobilisierende Kritik an der Arbeit im Kapitalismus als entfremdet, ausgebeutet, menschenunwürdig – am schärfsten bei Marx; und andererseits der Anspruch – am deutlichsten und wirkungsvollsten in der sozialistischen Arbeiterbewegung – auf Aufwertung und Humanisierung der Arbeit wie auf Einbeziehung und Teilhabe der Arbeiter als Bürger. Arbeit wurde zum Gegenstand fundamentaler Kritik und zur Legitimationsgrundlage emanzipatorischer Forderungen. Dies war nicht nur eine Sache der Theoretiker und politischen Programme. Blickt man genauer in die „Basis“ der entstehenden Arbeiterbewegung, erkennt man, dass die sich engagierenden Handwerker-Arbeiter, weit jen­seits oder unterhalb marxscher Gedankengänge, ein anspruchsvolles Verständnis ihrer Arbeit als qualifizierter, produktiver, übrigens sehr männlicher Arbeit mit großer Kulturbedeutung besaßen, ein Verständnis, das ihrer Forderung auf Besserstellung, Mitsprache und staats­bürgerliche Gleichstellung Substanz gab und ihre oft scharfe Kritik an Schmarotzern und Müßiggängern motivierte.[41]

Dass die größte Protest- und Emanzipationsbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die Arbeiterbewegung, auf Erwerbsarbeit als Basis fußte, ist bekannt. Sie rekrutierte ihre Mit­glieder vor allem unter den abhängig Arbeitenden, vertrat ihre Interessen und nutzte ihre Erfahrungen mit abhängiger Arbeit und damit verbundener Ungleichheit zur Festigung ihres inneren Zusammenhalts und zur Selbstdarstellung nach innen und außen, bis hinein in ihre Ikonographie. Darüber hinaus, so das hier vorgetragene Argument, dienten Arbeitserfahrungen und –vorstellungen ihren Mitgliedern und ihren Forderungen als Motivations- und Legitimationsbasis. Daran zeigt sich exemplarisch, wie sehr die Vorstellungen von Arbeit im 19. Jahrhundert das Selbstverständnis der Menschen und das gesellschaftlich-politische System beeinflussten.

Das zeigt sich auch an anderen sozialen Bewegungen und politischen Strömungen. Beispiels­weise war die Erringung neuer Arbeitsmöglichkeiten für die Frauenbewegung des späten 19. Jahrhunderts zentral, um darauf die Forderung nach Emanzipation, Gleichberechtigung und politischem Einfluss zu gründen. Umgekehrt wurden neue politische Einflussmöglichkeiten zur Erringung neuer Arbeitsmöglichkeiten für Frauen genutzt.[42] Und der Glaube an die Möglich­keit menschlicher Selbstverwirklichung durch freie Arbeit wirkte in der Rhetorik und vielleicht auch der Politik der Liberalen weiter. „Ist früher das Vorrecht heilig gewesen, so ist heute die Arbeit heilig; die freie Arbeit, der Fleiß und die Tätigkeit ... ist heute die höchste Ehre.“ So formulierte ein liberaler Abgeordneter in der Paulskirche 1848. Und Mitte der 1860er Jahre hielt der liberale Genossenschaftsgründer Hermann Schulze-Delitzsch die Arbeit – und er hatte zumindest auch Erwerbsarbeit im Blick – für die „Hauptmacht im Haushalt der Menschheit“. Seinen Vortrag vor einem liberalen Arbeiterverein in Berlin schloss er mit den Worten: „Die freie Arbeit allein, wie sie die innere Erlösung zugleich mit der äußern Befreiung der Arbeiter mit Notwendigkeit nach sich zieht, wird die Menschheit im ganzen und großen frei machen, indem sie den Eintritt bewusster Massen in die Kulturbewegung vermittelt, welche ohnedem nicht durchführbar ist. Der endlich vollständige Sieg dieses großen Prinzips ist der Sieg der Menschlichkeit, das Endziel unserer gesellschaftlichen Ent­wicklung.“[43]

Die Idee der Arbeit veränderte sich, sie breitete sich aus und gewann an alles durchdringender Kraft. Sie wurde weniger christlich und weniger idealistisch, sie wurde empirisch gewendet und bisweilen in naturwissenschaftliche Sprache gefasst – z. B. als Arbeitskraft, in Anlehnung an die Sprache der Thermodynamik. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der zu bekämpfende Gegner weniger der moralisch verwerfliche Müßiggang als die arbeitswissenschaftlich zu behandelnde Müdigkeit.[44] Doch daneben gab’s Anderes: weiterhin die bürgerliche Stilisierung der Arbeit als Tugend und Pflicht, das bürgerliche „Berufsethos“, das die Selbst­verpflichtung zur Arbeit an die Idee des Berufs und damit der „Berufung“ knüpfte, sich damit von Arbeit als bloßem Mittel zum Broterwerb und Ansammlung wechselnder Beschäftigungen (jobs) absetzte und dennoch Teil des Arbeitsdiskurses blieb. Weiterhin gab es den Arbeitsbegriff der sozialistischen Arbeiterbewegung, mit dem gegen die angeblichen Flaneure, Faulenzer und Schmarotzer in der Oberschicht angekämpft wurde. Die als Schicht gegen Ende des Jahrhunderts entstehende und dann rasch wachsende Angestelltenschaft gewann ihr kollektives Selbstverständnis, soweit sie es denn erlangte, durch Verständigung über die gemeinsame Stellung im Arbeitsprozess – in Absetzung von der Handarbeit und der Arbeiterschaft, aber trotzdem in arbeitsbezogenen Kategorien. Man hat den Eindruck, dass Arbeit nun anders als früher kaum noch der Rechtfertigung durch anderes bedurfte, sondern selbstbegründend wurde, den Sinn in sich trug und als rechtfertigende Basis für Ansprüche der verschiedensten Art dienen konnte. Wer sein Leben erzählte, ging fast immer ausführlich auf seine Arbeit ein. Jedenfalls berufliche Arbeit definierte persönliche Identität mit und war – schon aufgrund der Arbeitsteilung – ein verbindendes, verknüpfendes Element, das zu Kooperation und Konflikt führte. Das zeigt sich exemplarisch an der vergesellschaftenden Wirkung der Arbeit als Kitt von Arbeiterkultur und Arbeiterbewegung, aber auch, wenn auch anders, für den Zusammenhalt der sich herausbildenden Professionen; zum andern am Klassenkonflikt, der die Gesellschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zunehmend durchfurchte und im sozialen System der Arbeit seine Wurzeln besaß. Arbeit wurde überdies zum zentralen Begriff der entstehenden Sozialwissenschaften. Sozialkategorien, die mit Arbeit zu tun hatten, waren dominant, wenn Statistiker die Gesellschaft vermaßen und Publizisten sie kritisierten.[45]

Der Zusammenhang zwischen Arbeit und Nationsbildung ist diffizil und indirekt. Spätestens 1848/49 tauchte das Schlagwort von der „nationalen Arbeit“ auf, bald schrieb Wilhelm Heinrich Riehl darüber ein Buch. Seit den 1850er Jahren führten Weltausstellungen Arbeit und ihre Produkte vor, nach Nationen differenziert und mit nationalen Ansprüchen. Ein Prager Professor schrieb 1875: Die Arbeit präge dem Menschen „den Stempel seines Wesens auf, sie bildet die Nation. Nationalität und nationale Arbeit sind gleiche Begriffe.“[46]

Auch in den transnationalen Verflechtungen spielte Arbeit eine gewichtige Rolle. Der Zusammenprall unterschiedlicher Arbeitsvorstellungen war ein Dauerthema für europäische Besucher nicht-westlicher Zivilisationen und ein Dauerkonflikt im Verhältnis von Kolonial­herren und Kolonisierten. Beobachtungen, Vorstellungen und Vorurteile über unterschied­liche Haltungen zur Arbeit definierten die sich einwurzelnden Unterscheidungen zwischen Europäern und Afrikanern, Europäern und Asiaten, dem Westen und den anderen mit. Durch Arbeit, Arbeitspraktiken und Arbeitsvorstellungen war das vielleicht wichtigste Feld abgesteckt, auf dem sich im kolonialen und imperialen Zusammenhang Disziplinierung und Resistenz, Belehrung und Ausnutzung, Herrschaft und Unterwerfung, manchmal auch Lernen und Befreiung abspielten.[47]

In den Wirkungen kaum zu überschätzen war die Weichenstellung, die jedenfalls in Deutsch­land dazu führte, dass der Sozialstaat seit den 1880er Jahren auf der Basis der Erwerbsarbeit aufgebaut wurde. Die Arbeiter – nicht die Armen – wurden zu Adressaten von Bismarcks staatlicher Kranken-, Unfall- und Altersversicherung. Die Beiträge der Arbeiter und Arbeit­geber, nicht aber Steuern oder Ersparnisse finanzierten das System. Es wurde im 20. Jahr­hundert ausgebaut und perfektioniert. Steuern und Verpflichtungen wie auch Transferzahlungen und Anrechte knüpfte man an den Status, den der Einzelne im sozialen System der Arbeit einnahm; der wurde eben dadurch befestigt und dauerhafter. Die Arbeit – als Erwerbsarbeit verstanden – avancierte damit zum entscheidenden Faktor, der über die Inklusion oder Exklusion der Einzelnen in das System der sozialen Rechte und Pflichten, über gesellschaftliche Zugehörigkeit, Randstellung und Außenseitertum entschied. Was Individuen und ggf. ihre Familien zur Allgemeinheit beitrugen und umgekehrt von ihr zu erwarten hatten, wurde zum großen Teil abhängig von der Erwerbsarbeit, zu der sie Zugang fanden – oder die sie verloren. Auch in diesem Sinn wurde die Erwerbsarbeit zum zeitweise wichtigsten Bindemittel, das den Zusammenhalt des Gemeinwesens trotz zentrifugaler Tendenzen gewährleistete – oder daran versagte.[48]

Damit sind die wichtigsten Elemente dessen aufgezeigt, was spätestens seit Hannah Arendts Buch „The Human Condition“ von 1958 als „Arbeitsgesellschaft“ bezeichnet wird, im 19. Jahrhundert entstand und für das 20. Jahrhundert charakteristisch blieb, nicht nur in Deutsch­land, sondern wohl überall, wo die Industrialisierung sich durchsetzte und prägend wurde, wenngleich mit bezeichnenden und hier nicht untersuchten Unterschieden von Land zu Land und im ständigen Wandel begriffen:[49] eine Gesellschaft, deren wirtschaftliche Leistungskraft, sozialer Zusammenhalt, kulturelle Orientierung und politische Steuerung in entscheidender Weise auf Erwerbsarbeit beruhen. Niemals zuvor hatte Arbeit als derart zentraler Pfeiler der Architektur einer ganzen Gesellschaftsordnung gedient.

 

Ausblicke

Selbst noch der flüchtigste Blick auf das 20. Jahrhundert zeigt, dass die Arbeitsgesellschaft in Deutschland und anderswo typische Veränderungen durchlief. Diese hingen mit dem Ende der Industrialisierung und dem Übergang in eine postindustrielle Ordnung sowie mit der radikalen Umverteilung der Erwerbstätigen vom landwirtschaftlich und gewerblich-industriellen zum Dienstleistungssektor zusammen, mit der technologischen Entwicklung, mit der nachhaltigen Gewichtsverschiebung von der manuellen zur nicht-manuellen Arbeit, mit der Zunahme der Freizeit und dem Aufstieg der Konsumgesellschaft, deren Identitäts-angebote mit denen der Arbeitsgesellschaft konkurrieren, während sie von dieser abhängig bleibt und ihre zentrale Bedeutung bekräftigt. Darüber hinaus müssten Untersuchungen zur Geschichte der Arbeit im 20. Jahrhundert einige grundsätzliche Probleme ansprechen, die bisher nur am Rande anklangen.

Zum einen ist da das Verhältnis von Arbeit und Destruktion. Traditionell wird in Europa – und wurde in diesem Aufsatz – Arbeit als produktiv empfunden: als die Herstellung oder Bereitstellung von etwas, als zukunftsorientierte Handlung, als Lösung von Problemen, als Überwindung von existenzieller Not und Gefahr.

Die Weltkriege des 20. Jahrhunderts bieten dagegen reichhaltiges Anschauungsmaterial, wie Arbeit und Zerstörung zusammengehen können. Man braucht die beiden Definitionen von Arbeit im breiten Verständnis (oben S. 5) und von Arbeit als Erwerbsarbeit (oben S. 19) nicht oder kaum zu verändern, um die Arbeit des Krieges, die Tätigkeit der Soldaten und die Aggressionen Krieg führender Regierungen darunter zu fassen. Man möchte es wünschen, doch gibt es prima vista keinen stichhaltigen Grund, das Kriegshandwerk in seinen vor­industriellen, industriellen und postindustriellen Formen aus der Arbeit auszugrenzen. Überdies: führten nicht die Exzesse des Ersten Weltkriegs zu verstärkter Bewunderung für den Typus des „Arbeiters“ (Ernst Jünger), der sich anders als „der Bürger“ für illiberale Heroisierung eignet? Setzten die tiefen Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs nicht ungeahnte Energien für angestrengte Arbeit und ihre Hochschätzung frei, die in den folgenden Jahren zu großen Produktivitätsgewinnen und Aufbauerfolgen führten – wie ähnlich bereits nach den Zerrüttungen des Dreißigjährigen Kriegs des 17. Jahrhunderts, auf den die frühneuzeitliche Glorifizierung der Arbeit folgte?[50]

„Arbeit macht frei“. Es lohnt sich – zweitens – der Blick auf die ungemein zentrale Stellung, die der Arbeit – breit und fundamental verstanden, gerade nicht auf Erwerbsarbeit verengt – in den großen totalitären Ideologien und Systemen des 20. Jahrhunderts zukam. Bleiben wir beim Nationalsozialismus und erinnern daran, dass Goebbels’ Roman „Michael“ von 1929 die Arbeit als Quelle der Selbstachtung und persönlichen Identität wie als Mittel der Verbindung mit Boden und Mitmenschen glorifizierte; dass Alfred Rosenbergs Einheit der Arbeit von Stirn, Faust und Schwert die nationalsozialistische Propaganda prägte; dass die Ehrung der Arbeit – nach der Zerschlagung der selbständigen Arbeiterbewegung und der Verfolgung ihrer Führer – vielfältigen Niederschlag in der Symbolik und Praxis der „Volksgemeinschaft“ fand; dass der Reichs-Arbeits-Dienst die Arbeit als Waffe gegen innere Zerreißung propagierte, während er die Arbeit für die Herstellung der Waffen gegen den Feind organisierte; dass die deutsche Gesellschaft 1933-1940 als eine autoritäre Leistungsgesellschaft analysiert werden kann; dass Rudolf Höß ein leidenschaftlicher Arbeiter war und den zynischen Spruch ernst genommen haben mag, der am Tor des von ihm kommandierten Lagers in Auschwitz angebracht war.[51]

Das komplizierte Thema ist hier nicht auszuschöpfen. Doch sollte seine Erwähnung darauf aufmerksam machen, wie kompliziert und spannungsreich das Verhältnis von Freiheit und Arbeit sein kann und in der Geschichte war. Die Befreiungs- und Freiheitspotentiale, die der Arbeit aus der Sicht der Aufklärer und Liberalen, der klassischen Politischen Ökonomie und der dialektischen Philosophie von Hegel und Marx – in jeweils anderer Weise – eignen, sind nicht zu bestreiten. Eindeutige Belege für diesen Zusammenhang finden sich in großer Zahl in der Geschichte des Bürgertums seit dem Hohen Mittelalter, in der Bildungs- und Wissen­schaftsgeschichte, in den Erfolgen der nicht-kommunistischen Arbeiterbewegungen und den sie tragenden Erfahrungen von Arbeitern, im Protestantismus und beim Blick auf den Zusammenhang von Erwerbsarbeit und Emanzipation im Verhältnis der Geschlechter zueinander seit dem 19. Jahrhundert. Die Aufzählung ist nicht erschöpfend. Doch das um­gekehrte Verhältnis scheint – in vielen Varianten – das historisch dominante gewesen und auch in der Moderne nicht abwesend zu sein. Die langdauernde Geschichte von Sklaverei und Leibeigenschaft, die Dauerhaftigkeit gebundener Arbeit mit ausgeprägten unfreien Elementen im Feudalismus, die Ubiquität der Arbeit als eines Mittels der Disziplinierung von unteren Schichten und fremden Völkern, die konstitutive Asymmetrie des Lohnarbeitsverhältnisses mit der Unterordnung als Konsequenz und der Ausbeutung als Möglichkeit, die zwanghaften Elemente, die zu jeder disziplinierten Arbeit gehören, wenn sie auch mit Art, Ort und Qualifikation der Arbeit stark variieren – all das belegt die enge Verbindung von Arbeit und Unfreiheit geradezu als historischen Regelfall, wenngleich nicht als historische Notwendig­keit. Und die Erfahrung mit den kommunistischen und faschistischen Diktaturen des 20. Jahr­hunderts – so unterschiedliche sie im übrigen waren – zwingen zu dem Schluss, dass der Arbeit als solcher keine hinreichende Widerstandskraft gegen ihre totalitäre Instrumentalisierung eingebaut ist; das gilt nicht nur für Arbeit im engen Sinn der Erwerbs­arbeit, sondern erst recht für Arbeit in darüber hinaus zielenden, umfassenden Bedeutungen. Es kommt auf den gesellschaftlich-kulturellen Kontext und die politisch-moralischen Rahmenbedingungen der Arbeit an, wie diese zur Freiheit steht und ob sie mehr zur Befreiung oder mehr zur Verkrümmung beiträgt.[52]

Schließlich: Geht die Arbeitsgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts derzeit zuende? Darauf hinauslaufende Vermutungen finden sich schon bei Hannah Arendt 1958 und sind damit so alt wie die Einführung des Begriffes selbst. In den 1980er Jahren erhielten sie neue Dringlich­keit, immer wieder werden sie vorgebracht. Das Kernargument ist: „Art und Menge der ver­fügbaren Arbeit reichen nicht mehr aus, um Gesellschaften und das individuelle Leben zu strukturieren.“[53] Dabei kann auf Globalisierung und Digitalisierung als strukturelle Gründe, auf die zähe Massenarbeitslosigkeit und die Zunahme der nicht der Erwerbsarbeit gewidmeten Lebenszeit als Haupterscheinungen, aber auch auf die beobachtbare Fragmentierung der Arbeit in Raum und Zeit – Jobs statt „Normalarbeitsverhältnis“[54], Ent­grenzung der Arbeitsplätze, „Entberuflichung“ – als unbestreitbare Phänomen verwiesen werden, wie auch auf die Veränderung dominanter Wertorientierungen: von der bürgerlichen Arbeitsethik zurückliegender Jahrhunderte ist unsere Zeit weit entfernt, und selbst die Bibel hat man korrigiert. Luther hatte den Psalm 90,10 sehr eigenwillig und arbeitsfreundlich über­setzt: „Unser Leben währet siebzig Jahre,  und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist’s Mühe und Arbeit gewesen.“ Generationen von Bürgern haben das zitiert. Der hebräische Urtext spricht aber von „amal“ und „aven“, die Vulgata von „labor et dolor“ – weit vom lutherschen Arbeitslob entfernt. Die neue evangelisch-katholische Einheitsübersetzung ist realistischer: „Unser Leben währt siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, sind es achtzig. Das beste daran ist nur Mühsal und Beschwerd’, rasch geht es vorbei, wir fliegen dahin.“[55]

Gravierender noch ist die Überlegung, dass sich das Regelsystem der Arbeitsgesellschaft selbst in die Quere kommt. Es hat der Erwerbsarbeit als ihrer tragenden Säule zuviel zugemutet und sie dadurch – ökonomisch gesprochen – zu teuer gemacht bzw. – sozial und politisch gesprochen – überfordert. Deshalb wird die mit Lohnnebenkosten hoch belastete, bis ins Einzelne normierte Erwerbsarbeit knapp, zieht sich zurück und entzieht damit dem System seine Basis. In der jüngsten Diskussion finden sich interessante Alternativvorstellungen: vom Primat der Erwerbsarbeit (zurück) zu einem breiteren Arbeitsverständnis einschließlich zivilgesellschaftlicher Bürgerarbeit (Ulrich Beck) und nicht durch Marktbezug vermittelter Eigenarbeit, von der Arbeitsgesellschaft zur „Tätigkeitsgesellschaft“ (Dahrendorf), die der Erwerbsarbeit ihren zentralen Rang nimmt. Das ist der Stoff, aus dem heutige Utopien zur zukünftigen Arbeitswelt gefertigt sind.[56]

Andererseits ist unübersehbar, dass von der Arbeitsgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts viel überlebt. Es gibt weiterhin genug zu tun. Trotz der Vernichtung von Arbeitsplätzen in unserem Teil der Welt durch den technologischen Wandel der digitalen Revolution und die ungemein verschärfte Konkurrenz im Zuge der Globalisierung gibt es weiterhin auch in den ökonomisch entwickeltsten Gesellschaften keinen wirklichen Mangel an Arbeit. Die immense Verbreitung der Schwarzarbeit und die viel geringeren Arbeitslosenziffern in vergleichbaren Ländern außerhalb Deutschlands weisen darauf hin. Aus der Geschichte der menschlichen Bedürfnisse weiß man auch von deren Flexibilität und Ausdehnungsfähigkeit. Unsere hohen Arbeitslosenziffern verweisen auf die Notwendigkeit tiefgreifender institutioneller Reformen, nicht auf das Ende der Arbeitsgesellschaft. Erwerbsarbeit der einen oder anderen Art ent­scheidet weiterhin über die Zuteilung von Status und Lebenschancen mehr als jeder andere Regelungsmechanismus, mit Ausnahme der Herkunft. Die Verbreitung von Erwerbsarbeit ist in den letzten Jahrzehnten sogar kräftig gewachsen; sie ist nach dem massenhaften Eintritt von Frauen in den Arbeitsmarkt heute mehr die Regel als je zuvor. Angesichts der zunehmenden internationalen Konkurrenz als Folge der Globalisierung ist die Leistungsfähigkeit der Ökonomie eines Landes gefragter und unabdingbarer als je, will es entscheidende Wohlstandsverluste vermeiden; es ist nach den Erfahrungen der letzten Jahr­zehnte aber nicht zu sehen, welche Organisation der Arbeit es mit der marktbezogenen Erwerbsarbeit an Effizienz aufnehmen könnte. Im gegebenen System wird die Verteilung von Pflichten und Anrechten im Verhältnis von Allgemeinheit und Individuum weiterhin sehr stark durch dessen Ort im System der Erwerbsarbeit geregelt. Was an sozialer Gerechtigkeit existiert oder fehlt, wird größtenteils auf diese Weise bestimmt, und zwar durch ein inter­dependentes arbeitsgesellschaftliches Regelsystem, das sich gegen Änderungen – Reformen – wirksam sträubt. All das weist nicht darauf hin, dass die Erwerbsarbeit weniger wichtig und die Arbeitsgesellschaft ersetzbar geworden ist. Sie mag sich in den Fallen verfangen, die sie selber gebaut hat. Sie mag die Ressourcen austrocknen, deren sie bedarf. Doch ist völlig unklar, was an die Stelle des zentralen Regelungselements „Erwerbsarbeit“ treten soll, wenn dieses nicht mehr ausreichend zur Verfügung stehen oder bewusst marginalisiert werden sollte.[57]

Wenn es gut geht, wird es auf eine radikal reformierte und an die heutigen Umstände angepasste Arbeitsgesellschaft hinauslaufen. Bis dahin ist noch viel Zeit für historische Reflexion. In der historischen Langzeitperspektive, die hier gewählt wurde, erscheint manches am heutigen Kampf um das richtige Verhältnis von Arbeit, Gesellschaft und Glück wie die spannende Neuaufführung eines sehr alten Stückes, durchaus originell in vielem, aber doch dem vorgegebenen Texte treu. Das gilt in dreierlei Hinsicht:

Immer wieder ging es und geht es auch heute zentral um den Bedeutungsumfang von „Arbeit“, ihr Verhältnis zu und ihre Unterscheidbarkeit von anderen menschlichen Tätig­keiten. Es wird deutlich geworden sein: „Arbeit“ ist ein Konstrukt – nicht eines, das Einzelne beliebig verändern könnten, aber eines, das unter bestimmten, praktischen Gesichtspunkten entsteht, sich wandelt und immer auch stipulative Elemente enthält, die allerdings erst in langen Diskussionen wirksam werden. Wenn heute viel dafür spricht, die semantische Verengung der Arbeit auf Erwerbsarbeit zu revidieren und die Arbeits- zur Tätigkeitsgesell­schaft zu emanzipieren, wird ein Dauerthema der Arbeitsgeschichte neu intoniert. Dazu gehört auch, dass in Freizeit, Konsum und Spiel (Sport!) immer auch Elemente von Arbeit stecken und die Grenzen verschwimmen.[58]

Selbst in seiner engen und erst recht in seinen breiten Varianten umfasst „Arbeit“ ungemein unterschiedliche Tätigkeiten. „Ich glaube nicht an den Ruhestand bei meiner Art von Arbeit, nicht solange mein Geist klar ist. Meine Arbeit ist mein Leben, ich kann mir eines ohne das andere nicht vorstellen. Aufhören zu arbeiten heißt anfangen zu sterben.“ So wird Pablo Casals zitiert.[59] Zu Recht grenzt der große Cellist diese Sicht auf seine Art von Arbeit ein. Denn für die große Mehrheit der männlichen und weiblichen Erwerbstätigen gilt, dass sie dem Ruhestand so früh wie möglich entgegensehen: sofern er denn finanziell gut ausgestattet ist, stellt sich die mit ihm verbundene „Arbeitslosigkeit“ nicht als Problem und Persönlichkeits­bedrohung dar, sondern als begrüßte Gelegenheit zu Muße, Nichtstun und anderen Tätig­keiten. Wenn Hochschullehrer, beispielsweise Historiker, in einer der zahlreichen Erhebungen gefragt werden, wie lang ihre effektive Wochenarbeitszeit währt, tun sie sich mit der Antwort meist schwer. Denn wo ist die Grenze zu ziehen? Wohin gehört die Lektüre der Zeitungen, eines historischen Romans? Diese Schwierigkeit hat die große Mehrheit der abhängig Beschäftigten mit klar abgegrenztem Arbeitsplatz und fest definierter Arbeitszeit (noch) nicht. Aber wie steht es mit dem Bauern in Kenia, dem sich für Projekte verdingenden Programmierer in Indien, der selbständigen Modeexpertin? „Arbeit“ umfasst so unendlich viel Verschiedenes, dass generalisierende Beobachtungen, Problem-definitionen und Abhilfe­vorschläge fast notwendig in Schieflage geraten. Man fragt sich, ob die Griechen der Klassischen Antike nicht klarer denken und urteilen konnten, weil sie mit einem allgemeinen, hoch Diverses umschließenden Arbeitsbegriff weder ausgestattet noch belastet waren.

Schließlich zum Verhältnis von Lust und Last, von Fortschritt und Preis, von Genuss und Anstrengung, um das es in der Diskussion über Arbeitsgesellschaft (und Sozialstaat) auch immer geht. Es wäre kurzsichtig, die Freuden und Gratifikationen zu übersehen, die immer wieder mit Arbeiten verbunden waren und sind: Arbeit vertreibt Langeweile, lenkt ab, verleiht Halt, hält gesund, erfüllt, verschafft Genugtuung und Stolz über erbrachte Leistungen, schafft Kontakte und Bindungen, kann schön sein und sich mit Ritualen verbinden, deren Wieder­holung an sich Freude macht. Doch der Durchgang durch die Geschichte der Arbeit zeigt, dass Arbeitslast und Arbeitsleid für die meisten und meistens dominierten: die Härte und Mühsal, die Eintönigkeit und die Abnutzung, Inferiorität und Unfreiheit, Zwang und Verzicht, Verkrümmung und Beschädigung in den verschiedensten Formen. Arbeit als Herrschaft und Disziplinierung – wie ein schwarzer Faden zieht sich das durch die Zeiten, und man versteht das Lob der Muße, der Faulheit und des Nichtstuns nur allzu gut, das sich als Antwort darauf ebenfalls über die Zeiten hinweg hält. Angesichts dieser ungleichgewichtigen Koexistenz und Verknüpfung von Arbeitslust und Arbeitslast – mehr Last als Lust – ist es nicht verwunder­lich, dass das Lob, die Aufwertung, die Glorifizierung der Arbeit sich in aller Regel gerade nicht auf die Freude und den Genuss beriefen, die mit Arbeit bisweilen verbunden sind, sondern den Wert, die Größe und den Sinn der Arbeit trotz und oft gerade wegen des Verzichts, der Mühsal und Härte herausstreichen, die zur Arbeit meistens gehören. Gefordert, gelobt und gerühmt wird Arbeit als Dienst und Pflicht, als Ressource des Wohlstands und Kern zivilisatorischer Leistung, als Investition in die Zukunft und mühsamer Königsweg des Menschen zu sich selbst – selbst dann, wenn sie als Selbstzweck bezeichnet wird. Wenn man sich in dieses Gewirr von Last, Lust und Lob der Arbeit rekonstruierend begibt, stößt man letztlich auf die Widersprüchlichkeit menschlicher Existenz in sehr grundsätzlicher Weise. Man begreift etwas vom dialektischen Zusammenhang zwischen Fortschritt und seinem Preis. Vielleicht kann diese Perspektive von Nutzen sein, wenn es um die richtige Mischung von Disziplin und Freiheit, Zumutung und Gewährung, Pflichten und Rechten in der heutigen und zukünftigen Arbeitsgesellschaft geht.

 


[1] Vgl. Frans van der Ven, Sozialgeschichte der Arbeit, 3 Bde., München 1972 (erstmals niederländisch 1965-68); Venanz Schubert (Hg.), Der Mensch und seine Arbeit. Eine Ringvorlesung der Universität München, St. Ottilien 1986; Josef Ehmer, History of Work, in: International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, London 2001, Bd. 24, S. 16569-16575 – Quellen: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hg.), Arbeit und Müßiggang 1789-1914, Frankfurt 1991; Keith Thomas (Hg.), The Oxford Book of Work, Oxford 1999.

[2] Vgl. Hannah Arendt, The Human Condition, Chicago 1958 (dt.: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1967); Joachim Matthes (Hg.), Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg, Frankfurt/Main 1982; Ulrich Beck (Hg.), Schöne neue Arbeitswelt. Vision: Weltbürgergesellschaft, Frankfurt/Main 1999; Jürgen Kocka u. Claus Offe (Hg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt/Main 2000; Oskar Negt, Arbeit und menschliche Würde, Göttingen 2001; Charles Tilly u. Chris Tilly, Work under Capitalism, Boulder, Col. 1998; André Gorz, Arbeit zwischen Misere und Utopie, Frankfurt/Main 2000.

[3] Vgl. Werner Conze u. a., Arbeit, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 154-215; Rudolf Walther, Arbeit – Ein begriffsgeschichtlicher Überblick von Aristoteles bis Ricardo, in: Helmut König u. a. (Hg.), Sozialphilosophie der industriellen Arbeit, Opladen 1990, S. 3-25; Herbert Applebaum, The Concept of Work. Ancient, Medieval, and Modern, Albany, N.Y. 1992; Patrick Joyce (Hg.), The historical meanings of work, Cambridge 1987; Adriano Tilgher, Work. What it has meant to men through the ages (ital. 1930, engl. 1958), New York 1977; Bénédicte Zimmermann, Work and Labor. History of the Concept, in: International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, London 2001, Bd. 24, S. 16561-16565. Über den Westen hinausblickend: Sandra Wallmann (Hg.), Social Anthropology of Work, London 1979. Weiterhin die Titel unten in Anm. 17.

[4] Marshall Sahlins, Stone Age Economics, New York 1972, S. 64; Thomas (Hg.), Oxford Book of Work, XIV. – Robert L. Heilbroner, The Act of Work, Washington 1985, S. 10f.

[5] Mit vielen Differenzierungen und weiterer Literatur Christian Meier, Griechische Arbeitsauffassungen in archaischer und klassischer Zeit, in: Manfred Bierwisch (Hg.), Die Rolle der Arbeit in verschiedenen Epochen und Kulturen, Berlin 2003, S. 19-76; Wilfried Nippel, Erwerbsarbeit in der Antike, in: Kocka/Offe (Hg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit, S. 54-66; Hans Kloft, Arbeit und Arbeitsverträge in der griechisch-römischen Welt, in: Saeculum 35, 1984, S. 200-221; neue Akzente jetzt bei Winfried Schmitz, Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland, Berlin. 2004.

[6] Vgl. Otto Gerhard Oexle, Arbeit, Armut, „Stand“ im Mittelalter, in: Kocka/Offe (Hg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit, S. 67-79; Wolfgang Zorn, Arbeit in Europa vom Mittelalter bis ins Industriezeitalter, in: Schubert (Hg.), Der Mensch und seine Arbeit, S. 181-212, 183ff.

[7] Grosses Vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 2, Halle u. Leipzig 1732, Sp. 1148-50.

[8] Josef Ehmer u. Peter Gutschner, Befreiung und Verkrümmung durch Arbeit, in: Richard van Dülmen (Hg.), Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000, Wien 1998, S. 283-303; Richard van Dülmen, „Arbeit“ in der frühneuzeitlichen Gesellschaft, in: Kocka/Offe (Hg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit, S. 80-87.

[9]C. B. MCPherson (Hg.), Thomas Hobbes, Leviathan (1651), London 1982, S. 50.

[10] Dazu wie zum vorangehenden: Walther, Arbeit, bes. S. 15-21.

[11] Ähnlich umschreibt Keith Thomas „Work“, nach Durchsicht einer großen Zahl von Belegen vornehmlich aus der Frühen Neuzeit (und darüber hinaus): Thomas (Hg.), Oxford Book of Work, S. XIV. Vgl. im übrigen Peter Burke, The Invention of Leisure in Early Modern Europe, in: Past & Present 146-149, 1995, S. 136-150: Ansätze zur Herausbildung eines allgemeinen Begriffs von „leisure“, ebenfalls vom 16. bis zum 18. Jahrhundert.

[12] Vgl. Art. „Arbeit“ in: Deutsches Wörterbuch (Grimm), Bd. 1 (1854), ....1984, Sp. 538-541; Manfred Bierwisch, Arbeit in verschiedenen Epochen und Kulturen. Einleitende Bemerkungen, in: ders. (Hg.), Die Rolle der Arbeit, S. 7-18, 8-11; Josef Ehmer, Die Geschichte der Arbeit als Spannungsfeld von Begriff, Norm und Praxis, in: Bericht über den 23. Österreichischen Historikertag in Salzburg (=Veröffentlichungen des Verbandes Österreichischer Historiker und Geschichtsvereine 32), Salzburg 2003, S. 25-44; sowie Jürgen Kocka, Arbeit als Problem der europäischen Geschichte, in: Bierwisch (Hg.), Die Rolle der Arbeit, S. 77-92, 79-85 (vorher bereits in: Manfred Hettling u. a. (Hg.), Figuren und Strukturen. Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag, München 2002, S. 1-15, 2-9).

[13] Vgl. Conze, Art. “Arbeit”, S. 167-81; Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers XVI, Neufchatel 1765, S. 567 ; Immanuel Kant, Eine Vorlesung Kants über Ethik, hg. P. Menzer, Berlin 1924, S. 201.

[14] Walther, Arbeit, S. 20ff.

[15] A. Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Bd. 1, Oxford 1976, S. 47 (=R.H. Campbell u. a. (Hg.), The Glasgow Editions of the Works and Correspondence of Adam Smith).

[16] Vgl. Ehmer, Geschichte der Arbeit im Spannungsfeld, S. 30f. (Belege in den Anmerkungen 28-31); sh. auch Conze, Art. „Arbeit“, S. 180 zu Adam Smith.

[17] Zur Arbeit im Zivilisationsvergleich sh. die Beiträge im Kocka/Offe (Hg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit, S. 117-193; Bierwisch (Hg.), Die Rolle der Arbeit, S. 93-172; Kurt Beck u. Gerd Spittler (Hg.), Arbeit in Afrika, Hamburg 1996; E. Takemura, The Perception of Work in Tokugawa Japan, New York/Oxford 1997.

[18] Das Verhältnis von Begriffsgeschichte und Erfahrungsgeschichte problematisiert auch Josef Ehmer, Geschichte der Arbeit, S. 32; bereits ders., Zur Geschichte der Arbeit. Begriffe – Problemlagen – Perspektiven, in: Sozialwissenschaftliche Informationen 4, 2001, S. 12-21, hier 12f.

[19] Dazu grundsätzlich Wilhelm Vosskamp, Einleitung, in: ders. (Hg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd. 1, Stuttgart 1985, S. 1-10; ders., Art. „Utopie“, in: Ulfert Ricklefs (Hg.), Fischer Lexikon Literatur, Bd. 3, Frankfurt/Main 1996, S. 1931-51; vgl. auch A. Neusyß (Hg.), Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, 3 Aufl., Frankfurt/Main 1986; R. Saage, Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991; weiterhin Andrea Maurer, Moderne Arbeitsutopien. Das Verhältnis von Arbeit, Zeit und Geschlecht, Opladen 1994, bes. S. 21-29 (konzentriert auf utopische Vorstellungen in wissenschaftlichen Werken).

[20] Vgl. Thomas Morus, Utopia (1516), übers. v. Gerhard Ritter. Mit einer Einführung von Hermann Oncken, Darmstadt 1979 (Nachdr. d. Ausg. Berlin 1922), S. 49-53. – Dazu auch Norbert Elias, Thomas Morus’ Staatskritik, in: Vosskamp (Hg.), Utopieforschung, Bd. 2, S. 101-150; enttäuschend: Andres Präuer, Zwischen Schicksal und Chance. Arbeit und Arbeitsbegriff in Großbritannien im 17. und 18. Jahrhundert und auf dem Hintergrund der „Utopia“ des Thomas More, Berlin 1997. – Ähnlich die Arbeitsutopie in Thomas Campanella, Der Sonnenstadt (1602), München 1919, bes. S. 12ff., 27-34, 41; sowie Johann Valentin Andreae, Christianopolis (1619), hg. Richard van Dülmen, Stuttgart 1972, S. 61-63.

[21] Johann Gottfried Schnabel, Insel Felsenburg, I-IV, Nordhausen 1731-1743, Neudr. Frankfurt/Main 1997, bes. T. I, S. 268f. (Arbeits-Affen), 270, 278; T. II, S. 86-89 (Arbeitspflicht), S. 449f., 493; T. III, S. 82f., 96, 290 (Freizeit und Feiertage), 366f. (Frauenarbeit und Arbeitseifer); T. IV, S. 258, 290, 543.

[22] Louis-Sébastian Mercier, Das Jahr 2440. Ein Traum aller Träume, dt. v. Christian Felix Weiße (1772), hg. Herbert Jaumann, Frankfurt/Main 1982, Zitate nach Titelseite, S. 92f., 94f.

[23] Wilhelm Weitling, Die Menschheit wie sie ist und wie sie sein sollte (1838/39), hier zit. i. d. Ausg. hg. v. Wolf Schäfer, Reinbek 1971, S. 158-166; Karl Marx, Die deutsche Ideologie; Wolfgang Schieder, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung. Die Auslandsvereine im Jahrzehnt nach der Julirevolution von 1830, Stuttgart 1963, S. 248ff.

[24] Edward Bellamy, Looking backward Two Thousand to Eighteen Hundred and Eighty-Seven (1888), dt. u. d. T., “Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887” v. Clara Zetkin (1890), wd. hg. Hans J. Schütz, Berlin 1978, S. 57-65, 87. – August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, Berlin 1979, S. 268-74; Reinhart Kößler, Arbeit und Revolution. Sozialistische Perspektiven, in: Helmut König u. a. (Hg.), Sozialphilosophie der industriellen Arbeit, Opladen 1990, S. 96-113, bes. 103-106 (zu Bebel und Kautsky).

[25] Paul Lafargue, Das Recht auf Faulheit & Persönliche Erinnerungen an Karl Marx, hg. v. Iring Fetscher, Frankfurt/Main 1966, S. 19, 33f., 47f.

[26] Aldous Huxley, Brave New World (1932), London 1959, hier nach: Schöne neue Welt. Ein Roman der Zukunft. 30 Jahre danach oder Wiedersehen mit der Schönen neuen Welt, München 1983, S. 67f.

[27] Man lese die Quellen in Thomas (Hg.), Oxford Book of Work, S. 88-205 (wobei allerdings auffällt, wie sehr unter diesen positiven Einschätzungen von Arbeit literarische Aussagen und Berichte aus gehobenen Berufen vorherrschen). Dasselbe gilt für Wolfgang Asholt u. Walter Fähnders (Hg.), Arbeit und Müßiggang 1790-1914. Dokumente und Analysen, Frankfurt/Main 1991, S. 51-118; sowie Martin Halter, Sklaven der Arbeit – Ritter vom Geiste. Arbeit und Arbeiter im deutschen Sozialroman zwischen 1840 und 1880, Frankfurt/Main 1983, Kap. III u. IV; zum Arbeitsbegriff des Volkskundlers Riehl vgl. Joan Campbell, Joy in Work, German Work. The National Debate 1800-1945, Princeton, N.J. 1989, S. 32-45. – Vgl. aber Josef Ehmer u. Peter Gutschner, Befreiung und Verkrümmung durch Arbeit, in: Richard van Dülmen (Hg.), Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000, Wien 1998, S. 283-303, hier 294-301 mit Hinweisen auf Arbeitsfreude und Arbeitsstolz in den viel Spielräume lassenden landwirtschaftlichen und gewerblichen Beschäftigungen der vorindustriellen Zeit. – Vgl. auch unten S. ... zum Arbeiterstolz auf produktive, männliche, qualifizierte Arbeit an der Basis der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts. Zum männlich geprägten Berufsstolz von Handwerksgesellen und gelernten Arbeitern in der Fabrik der industriellen Revolution vgl. J. Kocka, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1990, S. 344f., 349-51, 442-45.

[28] Karl Peppler (Hg.), Die „Deutsche Arbeitskunde“, Leipzig 1940, hier S. 432ff.: Die deutsche Arbeit in Lied und Literatur.

[29] Thomas (Hg.), Oxford Book of Work, S. XVIII mit einem Zitat nach Sir Dudley North (1641-91).

[30] Vgl. Campbell, Joy, S. 251; Adolph Levenstein, Die Arbeiterfrage, München 1912, S. 225.

[31] Jürgen Kocka, Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft (=Gebhardt, 10. Aufl., Bd. 13), Stuttgart 2001

[32] Vgl. Jürgen Kocka, Weder Stand noch Klasse. Unterschichten um 1800, Bonn 1990

[33] Vgl. Gerd Spittler, Die Arbeitswelt in Agrargesellschaften ...

[34] Vgl. bereits Karl Polanyi, The Great Transformation, ???, S. 71-75, 224; Gerhard Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnung, München 1992, bes. Kap. 9; E. P. Thompson, Time, Work-Discipline and Industrial Capitalism, in: Past & Present 38, 1967, S. 56-97; Alf Lüdtke, Arbeitsbeginn, Arbeitspausen, Arbeitsende, in: Gerhard Huck (Hg.), Sozialgeschichte der Freizeit, Wuppertal 1980, S. 95-122; Christoph Deutschmann, Der Weg zum Normalarbeitstag. Die Entwicklung der Arbeitszeiten in der deutschen Industrie bis 1918, Frankfurt/Main 1985; Michael Schneider, Streit um Arbeitszeit. Geschichte des Kampfes um Arbeitszeitverkürzung in Deutschland, Köln 1984; vor allem: Karl A. Otto, Wieviel wurde in unterschiedlichen Epochen gearbeitet – Ein quantitativer Vergleich, in: Helmut König u. a. (Hg.), Sozialphilosophie der industriellen Arbeit, Opladen 1990, S. 51-76.

[35] Vgl. John Burnett, Idle Hands. The Experience of Unemployment 1790-1990, London 1994, S. 3: “unemployment” im Oxford English Dictionary seit 1888 (aber gelegentlich in anderen Texten seit den 1830er Jahren); Bénédicte Zimmermann, La constitution du chômage en Allemagne. Entre professions et territoires, Paris 2001; dies., Zwei Formen der statistischen Konstruktion einer nationalen Kategorie der Arbeitslosigkeit um die Jahrhundertwende, in: Peter Wagner u. a. (Hg.), Arbeit und Nationalstaat. Frankreich und Deutschland in europäischer Perspektive, Frankfurt/Main 2000, S. 283-308, bes. S. 293; Malcolm Mansfield u. a. (Hg.), Aux sources du chômage (1880-1914), Paris 1994.

[36] Das Ausmaß der Durchsetzung des Modells der „male breadwinner family“ und die dahinter liegenden Ursachen werden lebhaft diskutiert. Vgl. einführend Angelique Janssens, The rise and decline of the male breadwinner family? An overview of the debate, in: dies. (Hg.), The rise and decline of the male breadwinner family? (=International Review of Social History, Suppl. 5) 1998, S. 1-24; sowie die Beiträge zu diesem Band, bes.: Michael Hanagan, Family, Work and Wages: The Stéphanois Region of France, 1840-1914 (S. 129-52); außerdem: Colin Creighton, The Rise of the Male Breadwinner Family: A Reappraisal, in: Comparative Studies in Society and History 38, 2 (1996), S. 310-337; Sonya O. Rose, Limited Livelihoods. Gender and Class in Nineteenth-Century England, London 1992; vgl. auch Ulla Knapp, Frauenarbeit in Deutschland, Bd. 1, München 1984, S. 20; Harriet Bradley, Men’s Work, Women’s Work. A sociological history of the sexual division of labor in employment, Cambridge 1992, S. 7ff., 23.

[37] Vgl. u. a. Jürgen Kocka, Lohnarbeit und Klassenbildung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in Deutschland 1800-1875, Berlin 1983; Gareth Stedman Jones, Languages of Class. Studies in English Working Class History 1832-1982, Cambridge 1983; Ira Katznelson u. Aristide R. Zolberg (Hg.), Working-Class Formation: Nineteenth Century Patterns in Western Europe and the United States, Princeton, N.J. 1986.

[38] Bes. Bénédicte Zimmermann hat dies in letzter Zeit herausgearbeitet. Vgl. dies., Work and Labor: History of the Concept, in: International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, Bd. 24, London 2001, S. 16561-16565, bes. 16563f.; Sebastian Conrad u. a., Die Kodifizierung der Arbeit. Individuum, Gesellschaft, Nation, in: J. Kocka/C. Offe (Hg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt a. M. 2000, S. 449-75.

[39] Ein Vergleich der Eintragungen „Arbeit“ in den Lexika der Zeit zeigt den Trend, allerdings auch seine Unvollkommenheit. Die „Allgemeine Encyclopaedie“ der Hallenser Professoren J. S. Ersch und J. G. Gruber von 1818ff. definiert „Arbeit“ noch breit als „Thätigkeit der lebendigen Kraft für irgend einen bestimmten Zweck angestrengt, gewöhnlich mühselige Thätigkeit, so wie bei den Griechen ponos, im Gegensatze des Spiels“; der Artikel wendet sich gegen die Tendenz der „europäischen Gesetzgebungen“, den „Beruf zur Arbeit“ „zu sehr als Erwerbsmittel des Geldreichthums“ zu betrachten (Theil 5, S. 106). Im Grimmschen Wörterbuch, Bd. 1 (1854), Sp. 539-41, fand sich ganz ausdrücklich ein sehr breiter Arbeitsbegriff. – In Meyers Großem Konversations-Lexikon, 6. Aufl., Bd. 1, 1905, S. 673, ist dagegen „Arbeit im Sinne der Nationalökonomie jede auf Wertschöpfung gerichtete menschliche Tätigkeit“, und mit diesem Satz beginnt der Artikel. – Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 9. Aufl., Bd. 2, 1973, S. 485: „Arbeit (ursprüngl. = schwere körperl. Anstrengung, Mühsal, Plage), jede auf ein wirtschaftliches Ziel gerichtete, planmäßige Tätigkeit des Menschen“. – Das Wörterbuch zur Politik, hg. Manfred G. Schmidt, Stuttgart 1995, S. 48, nennt unter „Arbeit“ sechs Bedeutungen, darunter 1. „bewusste, rational geplante menschliche Tätigkeit der Herstellung, Veränderung oder Erhaltung von Gütern und Dienstleistungen“ und 2. „Erwerbstätigkeit oder – so insb. in der Politischen Ökonomie – Lohnarbeit“. – Die öffentliche Statistik seit Mitte des 19. Jahrhunderts rechnet zu den Arbeitern und Arbeiterinnen nur Erwerbstätige, nicht die im Haus Arbeitenden. „Mithelfende Familienangehörige“ werden aufgeführt, soweit sie zur Erwerbsarbeit beitragen. – Ehmer, Geschichte der Arbeit, S. 29 betont m. E. übermäßig stark die Konzentration bereits des frühneuzeitlichen Arbeitsdiskurses auf Erwerbsarbeit.

[40] Vgl. Manfred Riedel, „Arbeit“, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hg. Hermann Krings u. a., Bd. 1, München 1973, S. 125-141, bes. 133ff.. Riedel spricht vom „kulturfundierenden Charakter“ des Begriffs „Arbeit“ seit dem 17./18. Jahrhundert (126). Vgl. auch Joan Campbell, Joy in Work, German Work. The National Debate, 1800-1945, Princeton, N.J. 1989, S. 16-72 zur philosophischen, wissenschaftlichen und publizistischen Debatte über Arbeit in Deutschland; weiter Oskar Negt, Arbeit und menschliche Würde, Göttingen 2001, S. 425: Arbeit als „historisch-fundamentale Kategorie“.

[41] Dazu mit abweichender Interpretation: Thomas Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000, S. 60ff., 622ff.

[42] Vgl. Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt/Main 1986, S. 92-128.

[43] Zitate nach Conze, Art. „Arbeit“, 190, 192f. sowie: Hermann Schulze-Delitzsch’s Schriften und Reden, hg. F. Thorwart, Bd. 2, Berlin 1910, S. 235-43, hier 43.

[44] Vgl. Anson Rabinbach, The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, New York 1990, z. B. S. 45ff. zum Begriff “Arbeitskraft” sowie S. 72ff. zum Einfluss der modernen Physik (Helmholtz) auf Marxens Kategorien; 179ff. zur Entstehung der Arbeitswissenschaft, ihrem Begriff der „Leistung“ und ihren Untersuchungen zum Problem der „Ermüdung“; 195ff. zur Rolle Max Webers in diesem Prozess.

[45] Zu diesen Themen findet sich viel in Campbell, Joy in Work; Rabinbach, Human Motor; sowie Thomas Welskopp, Der Wandel der Arbeitsgesellschaft als Thema der Kulturwissenschaften: Klassen, Professionen und Eliten, in: Friedrich Jaeger u. Jörn Rüsen (Hg.), Die Kultur in der Forschungspraxis: Themen der Kulturwissenschaften, Stuttgart 2002, 225-246; zur „Kragenlinie“ zwischen Arbeitern und Angestellten: J. Kocka, ...

[46] Karl Thomas Richter, Die Fortschritte der Kultur II, Prag 1875, S. 12ff. (nach Conze, Art. „Arbeit“, S. 210). Wilhelm Heinrich Riehl, Die deutsche Arbeit, Stuttgart 1861.

[47] Vgl. Walter F. Veit, A genealogy of work: tracing the past, in: Paul James u. a. (Hg.), Work of the Future. Global Perspectives, St. Leonards N.S.W. 1997, S. 23-41, bes. 23f.; Sebastian Conrad, „Eingeborenenpolitik“ in Kolonie und Metropole. „Erziehung zur Arbeit“ in Ostafrika und Ostwestfalen, in: ders. u. Jürgen Osterhammel (Hg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, Göttingen 2004, S. 107-28.

[48] Vgl. Gerhard A. Ritter, Sozialversicherung in Deutschland und England. Entstehung und Grundzüge im Vergleich, München 1983; E. P. Hennock, Social Policy Under the Empire. Myths and Evidence, in: German History 16, 1998, S. 58-74; Wagner u.a. (Hg.), Arbeit und Nationalstaat.

[49] Hannah Arendt, Vita Activa Oder Vom Tätigen Leben, München 1967 (engl. The Human Condition, 1958), hier in der Taschenbuchausgabe von 1981, S. 12f., 58f., 265 (soziologisch nicht sehr ausgeführt).

[50] Dazu vor allem Lars Clausen, Produktive Arbeit – destruktive Arbeit. Soziologische Grundlagen, Berlin 1988, S. 54-105; Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993, S. 387-90, 406-08. Zum Arbeiter als illiberalen Gegentypus zum „degenerierten Bürger“ bei Ernst Jünger vgl. ders., Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Hamburg4 1941; sowie Campbell, Joy in Work, S. 296-309 (auch zum Umfeld: Spengler, Moeller van den Bruck, Darré). Jünger verstand Arbeit nicht als Erwerbsarbeit, sondern vertrat einen umfassenden Arbeitsbegriff mit transzendentalen Anklängen und Hang zur Ästhetisierung.

[51] Vgl. zum nationalsozialistischen Arbeitsbegriff Karl Peppler (Hg.), Die Deutsche Arbeitskunde, Leipzig 1940, S, 1f. (Einleitung des Hg.: „Für den Nationalsozialisten bedeutet die Arbeit allgemein Sinn des Lebens und Dienst an der Volksgemeinschaft“. Campbell, Joy in Work, S. 312-374; Rabinbach, Human Motor, S. 284ff.; Klaus Theweleit, Ich-Zerfall und Arbeit, in: ders., Männerphantasien Bd. 2, Frankfurt/Main 1978, S. 260-87 (zu Rudolf Höß). K. Patel, „Soldaten der Arbeit“. Arbeitsdienste in Deutschland und den USA 1933-1945, Göttingen 2003.

[52] Vgl. Ehmer/Gutschner, Befreiung und Verkrümmung durch Arbeit. Einen anregenden Anlauf, die Geschichte der Arbeit unter dem Gesichtspunkt ihres Verhältnisses zu Unterordnung und Freiheit zu skizzieren, unternimmt Heilbroner, Act of Work.

[53] Arendt, Vita Activa, S. 410f.; Ralf Dahrendorf, In Entschwinden der Arbeitsgesellschaft. Wandlungen in der sozialen Konstruktion des menschlichen Lebens, in: Merkur 34, 1980, S. 749-60; ders., Leben als Tätigkeit, in: FAZ, 24.12.2001 (Zitat); Joachim Matthes (Hg.), Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg, Frankfurt/Main 1982; Claus Offe, Arbeitsgesellschaft. Strukturprobleme und Zukunftsperspektiven, Frankfurt/Main 1984; J. Rifkin, The End of Work, New York 1995; Dominique Méda, Le travail. Une valeur en voie de disparition, Paris 1955 ; Alain Supiot (Hg.), Au-delà de l’emploi. Transformation du travail et devenir du droit du travail en Europe, Paris 1999; Christian Meier, Am Ende der Arbeitsgesellschaft, in: Wirtschaft und Wissenschaft, hg. Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, Februar 1999, S. 38-49; André Gorz, Arbeit zwischen Misere und Utopie, Frankfurt/Main 2000; Bo Strath (Hg.), After Full Employment. European Discourses on Work and Flexibility, Brüssel 2000.

[54] Allerdings ist einschränkend hinzuzufügen, dass das „Normalarbeitsverhältnis“ – lebenslang dieselbe Berufsarbeit mit genügend Einkommen, um daraus eine Familie zu ernähren – vor allem in der breiten Unterschied niemals „normal“ im Sinn von mehrheitlich verbreitet war, vor allem nicht in früheren Jahrhunderten.

[55] Jörg Zink, ein moderner Bibelübersetzer, entscheidet sich sogar für folgenden Text: „Siebzig Jahre währt unser Leben, wenn es hoch kommt, achtzig. Was sein Stolz war, ist Mühe gewesen und Elend, denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon.“ Ich danke Fritz Klein, Berlin, Bischof Christoph Klein in Hermannstadt und Zur Shalev, Oxford, für diese Aufklärung. – Als Beispiel des Zitats des Psalms in alter Form: Werner Siemens, Lebenserinnerungen, München17 1966, S. 325.

[56] Vgl. die Titel von Dahrendorf und Gorz in Anmerkung 53; weiterhin Ulrich Beck, Modell Bürgerarbeit, in: ders. (Hg.), Schöne neue Arbeitswelt. Vision: Weltbürgergesellschaft, Frankfurt/Main 1999.

[57] Dazu ausführlicher Jürgen Kocka, Arbeit früher, heute, morgen: Zur Neuartigkeit der Gegenwart, in: Kocka/Offe (Hg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit, S. 476-92; Kocka, Thesen zur Geschichte und Zukunft der Arbeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B21, 2001, S. 8-13; ders., Last und Lust – Arbeit im Wandel, in: Neue Qualität der Arbeit. Wie wir morgen arbeiten werden, hg. v.  Gerhard Kilger u. Hans-Jürgen Bieneck, Frankfurt/Main 2002, S. 251-57; ders. Art. „Arbeit“, in: Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie, hg. Stefan Gosepath u. a., Berlin/New York (im Erscheinen).

[58] Vgl. Bernward Joerges, Konsumarbeit – Zur Soziologie und Ökologie des „informellen Sektors“, in: Matthes (Hg.), Krise der Arbeitsgesellschaft?, S. 249-64.

[59] Im Musik-Kalender 2004 des Arche-Verlags, Hamburg 2003, für den Monat Dezember.

 

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2/2005; Berlin 2005, S. 185-206.