von Maike Lehmann

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17. März 2018

‚Die Russen‘ haben ‚die Sowjets‘ ersetzt. Beide Bezeichnungen sind so weit normalisiert, dass ihr Charakter als Kampfbegriffe oft weniger offensichtlich ist als beim Reizwort ‚Putin‘, welches genau wie die Nennung ‚Stalins‘ eindeutige Positionierungen fordert. All diese Schlagworte überdecken komplexe Zusammenhänge so sehr wie sie konkrete Akteure bezeichnen. Während die verschiedenen Beiträge zu diesem Dossier unterschiedliche Einblicke in Zusammenhänge bieten und Auskunft über AkteurInnen liefern wollen, sind es solche Schlagworte, die mich in dieser Vorbemerkung interessieren: denn sie markieren unser Un/Wissen genauso wie die Selbstverständigungsprozesse, mit denen wir uns im ‚Westen‘ seit der Aufklärung als zivilisiert und vernunftgeleitet vom ‚Osten‘ als dem ‚anderen‘, dunklen, barbarischen abzusetzen suchen.[1] Diese Tradition wird gerade in Momenten der Verunsicherung des ‚Westens‘ sichtbar, etwa in der entmenschlichten Darstellung ‚Russlands‘, Stalins‘ oder ‚Putins‘ als Kraken, die ihre Fangarme in unsere Welt ausfahren, und 1877-78 im Kontext des russischen Ausgreifens auf den Balkan genauso viel Sinn für uns machte wie 1938 während des spanischen Bürgerkrieges, 2008 im Kontext des georgisch-russischen Krieges und 2018 angesichts von ‚Russiagate‘. Diese Art des Wissens um die russische oder sowjetische Andersartigkeit macht die gefühlten wie die realen Bedrohungen aus dem ‚Osten‘ einerseits handhabbar. Nicht umsonst kehrten westliche Medien zur vertrauten Rhetorik des Kalten Krieges zurück, als Russland 2014 die Krim annektierte und sich die Kämpfe im Osten der Ukraine in einen unerklärten Krieg verwandelten. So ließ sich mittels bekannter Schemata eine vermeintliche Ordnung in eine unübersichtliche Situation bringen. Andererseits markieren diese Darstellungen in ihrer Verkürzung aber unser Unwissen über die dahinter stehenden Zusammenhänge, seien sie historisch oder aktuell. Somit bleiben Russland und die (ehemalige) Sowjetunion eine Herausforderung für uns, nicht nur politisch oder geostrategisch, sondern auch publizistisch, wissenschaftlich, kulturell und ideell.

Auch die Präsidentschaftswahl 2018 wird vermeintlich Vertrautes wiederholen: Vladimir V. Putin wird trotz GegenkandidatInnen als quasi alternativlose Führungsfigur und Garant eines letzten Restes von Stabilität im Amt bestätigt werden. Wie schon die sowjetischen Wahlen wirkt dieser Gang zu den Urnen nach den Standards der westlichen liberalen Demokratie eher wie eine Farce und liefert eine weitere Bestätigung dafür, dass die Dinge dort ‚falsch‘ laufen. Die Proteste nach den Wahlen von 2011, die Aktionen nonkonformer KünstlerInnen, kritische Jugendliche und nicht zuletzt der umfassende Brain Drain, den Russland in den katastrophalen 1990er Jahren sowie periodisch nach jedem Wahlgang der vergangenen Jahre verzeichnen musste, liefern handfeste Belege dafür, dass dies mehr als ein Eindruck ist. Zugleich sehen offenbar mehr und mehr Menschen in Russland die Notwendigkeit von Veränderungen. Allerdings haben sie oft keine konkreten Vorstellungen zu Reformen und verbinden diese nicht zwangsläufig mit einem Führungswechsel. Bleibt die Herausforderung, auch das Verhalten und die Ansichten anderer Teile der Bevölkerung zu erfassen, die etwa die Annexion der Krim befürworte(te)n; sich als Patrioten, aber nicht zwangsläufig als ‚Chauvinisten‘ verstehen; die Nostalgie für die Sowjetunion als bessere Zeit wie geostrategische Weltmacht artikulieren; Stalin als bespielhaften Manager bezeichnen; sich an verschiedenen Formen der Rechtsbeugung beteiligen; Putin als beste Option sehen; oder andere Dinge tun und sagen, die sich aus westlicher Perspektive nicht unmittelbar erschließen.

Diese Herausforderung gilt nicht zuletzt für uns, die sich wissenschaftlich mit Russland und der (ehemaligen) Sowjetunion befassen. Auch wenn die täglichen Nachrichten aus oder zu Russland Quelle nachhaltiger Frustration für uns sind – diese Bevölkerungsteile nur kopfschüttelnd als fehlgeleitete Subjekte abzutun, hieße, dass wir unsere Aufgabe als HistorikerInnen nicht erfüllen. Eine weitere Herausforderung ist es nicht zuletzt in den letzten Jahren, die Erklärungen, die wir aus unserer Beschäftigung mit Russland und der (ehemaligen) Sowjetunion heraus für historische wie aktuelle Zusammenhänge entwickeln, übersetzbar zu machen für unser Publikum im Westen.[2] Unsere Schlussfolgerungen sind dabei nicht immer einstimmig. Und das ist gut so, nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass sich unsere Forschungen auf einen Raum richten, in dem beim Zusammenbruch des politischen Systems der Sowjetunion mehr als 280 Millionen EinwohnerInnen lebten. Was diese Menschen, ihre Eltern und ihre Kinder vor wie nach 1991 bewegt hat, wie sich ihre Weltbilder und ihr Handeln in den jeweiligen Kontexten entwickelten, dürften alle HistorikerInnen als relevant für das Hier und Jetzt betrachten.

Angesichts der Entwicklungen nicht nur in Russland, sondern generell in der Großregion ‚Osteuropa‘ in den letzten Jahren haben historische Vergleiche und Rückgriffe als vermeintlich eindeutige Erklärungschiffren eine neue Konjunktur erfahren. Alles auf die Sowjetunion oder generell die Erfahrung des Staatssozialismus zurückzuführen, ist in Bezug auf den postsowjetischen Raum ebenfalls nicht unproblematisch. Denn auch OsteuropahistorikerInnen wissen noch viel zu wenig über das, was sich allein in den 1980er und 1990er Jahren abgespielt und einen zentralen Einfluss auf das Heute hat. So gilt es erst noch zu klären, inwiefern die sowjetischen Wahlen vor und nach dem Beginn der Perestroika mit heutigen Urnengängen zu vergleichen sind. Immerhin fehlt uns der Zugang zu Materialien, die für die sowjetischen Wahlen neue Einsichten möglich gemacht haben: selbst sie waren keine reine Farce, sondern werden mittlerweile von HistorikerInnen als ritualisierte Performanz von Zugehörigkeit zu einer größeren Gemeinschaft gesehen. Auch verschiedene Formen des Boykotts waren wohl eher Protest- denn Widerstandsmomente, die – wie etwa auch ausführliche Kommentare auf Wahlzetteln – ein (weiteres) vertikales Kommunikationsmoment zwischen Staat und Gesellschaft darstellten.[3]

Zugleich fordern nicht zuletzt histori(sti)sche Vergleiche eine Klärung heraus. Was hat Putin denn nun mit sowjetischen Parteiführern gemein und worin unterscheidet er sich von ihnen? Gibt oder gab es Demokratie ‚dort‘ überhaupt und wenn ja, was für eine? Was heißt Opposition und welches sind die Maßstäbe hierfür? Solche Fragen nach dem Politischen sind nicht voraussetzungslos. Sie sind aus unserem westlichen Verständnis von Diktatur und Demokratie abgeleitet. Solche Fragen offener zu stellen, nicht nur im binären Modus von ‚richtig‘ und ‚falsch‘ zu operieren, sondern nach Faktoren zu fragen, die für die Menschen vor Ort bedeutsam und handlungsleitend sind, hindern uns nicht daran, Machtverhältnisse zu problematisieren. Vielmehr helfen sie, diese Verhältnisse besser zu erklären, und zugleich den Blick auf unsere eigenen Vorannahmen – über uns selbst und ‚andere‘ - zu richten.

 

[1] Vgl. hierzu Larry Wolff, Inventing Eastern Europe: The Map of Civilization in the Mind of the Enlightenment. Stanford 1997; Maria Todorova, Imagining the Balkans. Oxford 1997. Zu Versuchen in Ostmitteleuropa, sich der Zuschreibung des ‚Ostens‘ zu entledigen vgl. Benjamin Paloff, East Is Always Further East, in: East European Politics and Societies and Culture 28, No.4 (2014), S. 687-692.
[2] Dies gilt nicht nur für HistorikerInnen. Einen Versuch, vor allem unabhängige russische Sichtweisen durch Übersetzung zugänglich zu machen, stellt das 2016 mit dem Grimme Online Award ausgezeichnete Projekt dekoder [Russland entschlüsseln] dar, das russische Medienbeiträge ins Deutsche bringt und mit Zusatzinformationen vonseiten westeuropäischer OsteuropaexpertInnen flankiert.
[3] Thomas Bohn, „Im allgemeinen Meer der Stimmen soll auch meine Stimme erklingen ...“ Die Wahlen zum Obersten Sowjet der UdSSR von 1958 – Loyalität und Dissens im Kommunismus. In: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 524-549; Sergy Yekelchyk, Stalin’s Citizens. Everyday Politics in the Wake of Total War, New York/ Oxford 2014, Kapitel 6: Election Day. Vgl. auch den Beitrag von Courtney Doucette in diesem Dossier.