von Felix Ackermann

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17. März 2018

Das gemeinsame Manöver Zapad von Russischer Föderation und Republik Belarus wurde im Herbst 2017 von vielen Beobachter:inen als gegen die NATO gerichteter symbolischer Schulterschluss beider Länder gewertet. Dennoch wurde die Befürchtung vor den 2014 auf der Krim zum Einsatz gekommenen „Grünen Männchen“ nicht nur im Baltikum diskutiert, sondern auch in Belarus selbst.  Mit größter Aufmerksamkeit wurde der Abzug der russischen Truppen von der Bevölkerung und von Alexander Lukaschenkos Präsidialverwaltung verfolgt. Hintergrund der Befürchtungen war der anhaltende Krieg im Osten der Ukraine. Seit 2014 war es dem belarussischen Präsidenten gerade durch eine zwischen Russland, der Ukraine sowie der Europäischen Union vermittelnde Position gelungen, das 10-Millionen-Einwohnerland zu einem indirekten Kriegsgewinner zu machen. Lukaschenko positionierte Minsk als internationalen Verhandlungsort und weigerte sich bisher erfolgreich gegen die Einrichtung eines russischen Luftwaffenstützpunkts in der Republik Belarus.

Für eine ausbleibende Besatzung gibt es gute Gründe. Zu diesen gehört die starke ökonomische und politische Abhängigkeit der belarussischen Volkswirtschaft von Moskau. Trotz seit der Krim-Annexion punktuell zutage tretender Spannungen existiert seit 1996 auch ein Unionsstaat zwischen Russischer Föderation und der Republik Belarus. Er galt zwar lange Zeit als Papiertiger. Politolog:innen hatten beiden Präsidenten mangelnden Integrationswillen bescheinigt. Ursache dafür sei die ungleiche Konkurrenz zwischen Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko gewesen, die jeweils auf ihrer präsidialen Entscheidungshoheit im eigenen Land beharrten. Die anhaltenden Spekulationen über eine unfreiwillig wachsende Präsenz russischer Streitkräfte in Belarus werfen die Frage auf, wie groß der politische Entscheidungsspielraum von Alexander Lukaschenko im Verhältnis zu Russland tatsächlich ist.

Die Union bietet nicht nur einen fiktiven Rahmen für eine weiterhin enge Kooperation beider Staaten. Die juristische Harmonisierung etwa von Migration, Warenverkehr und Dienstleistungen besteht parallel zur 2015 geschaffenen Eurasischen Wirtschaftsunion, in der beide Staaten Mitglied sind. Sie garantiert Russland und der Republik Belarus jeweils gegenseitig eine weitreichende Freizügigkeit ihrer Bürger:innen innerhalb des Unionsstaats. Folge war der jahrelange Verzicht auf Passkontrollen an den Grenzen zwischen beiden Staaten sowie die Möglichkeit, ohne Visum in das Nachbarland zu reisen. Darüber hinaus haben Bürger:innen der Republik Belarus in Russland weitgehend an russische Bürger:innen angeglichene Melderechte und -pflichten und verfügen dort auch über eine pauschale Arbeitserlaubnis. Die Folge ist, dass in Großstädten wie St. Petersburg in Kleinanzeigen neben Bürger:innen der Russischen Föderation auch gezielt Bürger:innen der Republik Belarus für vakante Stellen gesucht werden. An den internationalen Flughäfen beider Länder gibt es gesonderte Schlangen für die Kontrolle von Bürger:innen des Unionsstaates und alle anderen. Die IT-Ausstattung der Kontrollpunkte am Minsker Flughafen wurde mit Mitteln aus dem gemeinsamen Staatshaushalt angeschafft. Die Praxis lässt sich mit den Regelungen innerhalb der Europäischen Union vergleichen, wo juristische Regelungen zur Arbeitnehmerfreiheit sowie der weitgehende Verzicht auf Grenzkontrollen innerhalb der Schengenzone inzwischen längst zur Normalität geworden sind. Wie in der Europäischen Union hat das auch im Fall der Union von Russland und Belarus allerdings nicht zu einer vollständigen Auflösung nationalstaatlicher Regelungen geführt.

Die wirtschaftliche Dimension des Unionsstaats ist sichtbar in einem hohen Anteil von russischen Lieferungen an der belarussischen Volkswirtschaft und einer weiterhin großen Bedeutung von Russland als Absatzmarkt für belarussische Produkte. Das gilt sowohl für Industriewaren, die ohne staatlichen Protektionismus auf dem globalen Markt nicht in allen Bereichen konkurrieren können als auch für Lebensmittel. So ist es Teil des St. Petersburger Stadtbilds, dass neue in Minsk produzierte Traktoren der Marke „Belarus“ in der kommunalen Bewirtschaftung für die Straßen- und Gebäudereinigung eingesetzt werden. „Belorusskie Produkty“ hingegen sind im gesamten Westen der Russischen Föderation zu einer Marke geworden, die für preiswerte, aber qualitativ hochwertige, ökologische Lebensmittel aus dem kleineren Unionsmitglied stehen. Sie werden in eigenen Geschäften als „Belarussische Lebensmittel“ angeboten und die Werbeschilder und Verpackungen mit den Farben der Staats-Flagge Rot, Grün und Weiß verziert. Ebenso präsent sind in vielen russischen Städten Schuhe aus belarussischer Produktion, die vor allem durch „BelWest“ in Witebsk hergestellt werden. Ebenso häufig trifft man in russischen Städten Läden der Marke „Beloruskij Trikotasch“ an, die in Belarus genähte Kleidung anbieten. Im Gegenzug funktioniert die Republik Belarus in bestimmten Bereichen ökonomisch als ein Absatzmarkt innerhalb der „Russischen Welt“. Das gilt besonders für die kulturelle Produktion auf Russisch: Musik, Bücher und Kinofilme, die in Russland produziert werden, finden in Belarus einen ähnlichen Absatz wie in Russland selbst, da Russisch nicht nur eine der beiden Staatssprachen ist, sondern auch den Alltag in Minsk und allen Bezirksstädten dominiert.

Belarus ist aufgrund der Regelungen zum Wirtschaftsaustausch nicht nur ein Absatzmarkt für Russische Produkte, sondern auch in doppelter Weise ein Gewinner der 2014 von Seiten der EU gegen die Russische Förderation verhängten Sanktionen sowie der russischen Gegensanktionen für Einfuhren aus der EU. Da die Sanktionen in beide Richtungen nicht auf das Gebiet der Republik Belarus ausgeweitet wurden, können in Minsk ansässige Handelsunternehmen im großen Stil Waren aus der Europäischen Union importieren und dann innerhalb des Unionsstaats nach Russland zollfrei weiterexportieren. Im Internet tauchten immer wieder Fotos von französischen Käsesorten „Made in Belarus“ auf. Der Umfang dieser systematischen Um-Etikettierungen ist so groß, dass er einen Kern des Unions-Staats bedroht: die russische Seite führte bereits Grenzkontrollen für den Warenverkehr wieder ein, um den Umfang von umettiketierten Lebensmittellieferungen aus der Europäischen Union zu verringern.

Trotz der aktuellen Spannung in Bezug auf belarussische Handelspraktiken und des Drängens auf eine stärkere militärische Präsenz der russischen Armee in Belarus, gibt es weiterhin eine symbolische Präsenz des Unionsstaats, die vor allem für das Selbstverständnis von Minsk eine große Rolle spielt. Die Dauer-Ausstellung im zentralen Museum des Großen Vaterländischen Krieges in Minsk endet mit einem Foto vom gemeinsamen Manöver „Zapad 2013“: Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin beobachten die Truppenbewegungen gemeinsam, Seite an Seite. Durch die Positionierung im wichtigsten Museum der Hauptstadt bringt die belarussische Seite zum Ausdruck, wie zentral ein enges Verhältnis zu Russland und zum russischen Präsidenten in Minsk weiterhin sind. Charakteristisch ist die Ambivalenz, sich einerseits an der Seite eines ungleich stärkeren Partners zu zeigen und zugleich symbolisch eine gleichwertige Partnerschaft einzufordern.

Diese Ambivalenz gilt auch für die politischen Systeme in beiden Mitgliedsstaaten der Union. In vielerlei Hinsicht ist Alexander Lukaschenkos Politikstil, sein Verständnis von Staatlichkeit sowie die Organisation vertikaler Machtstrukturen Sinnbild für die Avantgarde autoritärer Herrschaft in der Region. Die Gleichtaktung der Medienlandschaft, die systematische Behinderung der Opposition, die Einschränkung ausländischer Stiftungen, die Schließung europäischer Universitäten – all diese Schritte einer patriotischen Abschottung erfolgten in Belarus bereits Jahre vor ihrer Einführung in Russland. Dabei gibt es weiterhin grundlegende Unterschiede etwa im Bereich der Meinungsfreiheit, die in Russland insgesamt weniger streng eingeschränkt ist. Grundsätzlich ähnlich ist jedoch die Rolle von Wahlen, die zwar zentral orchestriert werden, aber dennoch in Minsk wie Moskau gleichermaßen als wichtiges Instrument der Legitimierung autoritärer Herrschaft dienen. In diesem Sinne nehmen beide Präsidialadministrationen die Wahlen des Staatsoberhaupts ernst, auch wenn alle Beteiligten bereits zuvor wissen, wer als Sieger hervorgehen wird.

Die ähnliche Rolle von Präsidentschaftswahlen als politische Show zur Legitimierung staatlicher Herrschaft macht die Wahlen im Nachbarland auch ähnlich uninteressant für die breite Masse der Bevölkerung. Warum soll man einer Wahl entgegenfiebern, über deren Ausgang man bereits vorab Bescheid weiß? Die empirische Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte genügt für viele Bürger:innen der Republik Belarus und der Russischen Föderation gleichermaßen, den Wahlen nur bedingt Beachtung zu schenken. Die Hauptfrage, die in den russischsprachigen sozialen Netzwerken diskutiert wird, ist, ob man überhaupt zur Wahl geht. Ein belarussischer Historiker schrieb kürzlich auf Facebook über die Lokalwahlen in Minsk: „Mal ehrlich, geht Ihr zur Wahl? Ich war schon seit 2001 bei keiner mehr. Sie scheinen wie in einem Paralleluniversum stattzufinden.“ Etwas Ähnliches lässt sich auch für die Präsidentschaftwahlen im benachbarten Russland im März 2018 behaupten. Das haben die Wahlen mit dem Russisch-Belarussischen Unionsstaat gemein: Wahlen und Unionstaat existieren vor allem auf dem Papier, aber sie sind dennoch Teil der Realität.