von Karsten Borgmann

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1. Oktober 2010

Karsten Borgmann (zeitgeschichte | online) im Interview mit Patrick Sahle, welcher gemeinsam mit Georg Vogeler und Malte Rehbein Leiter der Sektion "Virtuelle Grenzen der Geschichtswissenschaft. Stand und Perspektiven der digitalen Geschichtsforschung" auf dem Historikertag 2010 in Berlin war.

 

z|o: Wo würden Sie die „Grenzen der Internet-Akzeptanz in der der Disziplin ziehen? Ist die Akzeptanz tatsächlich eine Generationen-Frage oder auch methodisch, im Untersuchungsgegenstand des historischen Arbeitens begründet?

 

Sahle: Die Grenzen werden immer noch vor allem durch die persönlichen Haltungen der Forscher bestimmt. Eine scharfe Generationenkluft sehe ich nicht, dazu gibt es zu viele "alte", die dem Neuen offen gegenüber stehen und zu viele "junge", die zwar die digitalen Medien selbstverständlich nutzen, ohne aber, dass dies z.B. zu Rückwirkungen - geschweige denn reflektierten Rückwirkungen - auf ihre Methodik führen würde. Wichtig für die Akzeptanz sind natürlich auch Faktoren aus der sozialen Verfasstheit der Forschung und den damit verbundenen Mechanismen der Zuweisung von sozialem und wissenschaftlichem Kapital. Die Frage nach methodisch begründeter eingeschränkter Akzeptanz zielt auf die zentrale Bedeutung hermeneutischer Verfahren und traditioneller narrativer Strukturen der Präsentation von Forschungsergebnissen. Solange diese Verfahren nicht durchweg als technisch relativ, nämlich durch die Rahmenbedingungen der Technologie Buchdruck bestimmt und als historisch relativ, nämlich der entwickelten Buchkultur der letzten 200 Jahre geschuldet, erkannt werden, wird eine Öffnung hin zu neuen Formen der Arbeit und Präsentation von Arbeitsergebnissen erschwert. Das war jetzt die ganz grobe Linie. Eine detaillierte Untersuchung der methodischen Ansätze und ihrer Entwicklungspotentiale auf der einen Seite und der in die Alltagspraxis langsam einsickernden gänzlich neuen Praktiken würde ein differenzierteres Bild liefern können.

 

z|o: Welche Teile des geschichtswissenschaftlichen Arbeitens sind von der Digitalisierung am stärksten betroffen? Ist dies, provokativ gefragt, nicht eher ein „Problem“ der Hilfswissenschaften und Bibliotheken?

 

Sahle: Sind die Hilfswissenschaften und die Aufbereitung der Quellen nicht der vornehmste und wichtigste, weil fundamentale Teil der Geschichtsforschung? Tatsächlich kann man nicht leugnen, dass die Vorteile hier am offensichtlichsten sind und die Entwicklung am weitesten vorangeschritten ist. Aber was passiert, wenn die Quellen und die Sekundärliteratur gut erschlossen und vernetzt digital vorliegen und weite Teile der Informationserfassung und Kommunikation ebenso in digitalen Umgebungen stattfinden, wie die Arbeit mit dem historischen Material bis hin zur Formulierung von Ergebnissen? Ist dann die exklusive und de-digitalisierende "Versenkung" dieser Ergebnisse in vergleichsweise abgeschlossenen, abgeschotteten und abgelegenen "print-only" Publikationen nicht ein störender Medienbruch und eine Primitivisierung der Arbeit?

 

z|o: In welchen Bereichen können sich Historikerinnen und Historiker heute im Vergleich zu früher stärker als „Produzenten“ von Online-Inhalten betätigen?

 

Sahle: Hier kann man mehrstufig antworten. Zunächst kann jede Publikation, auch wenn sie noch ganz im Geist des Buchdrucks arbeitet, zusätzlich digital, also hybrid publiziert werden - mit entsprechenden Vorteilen für die Sichtbarkeit und Zugänglichkeit solcher Publikationen. Dies geht natürlich noch an den Veränderungen vorbei, die sich dann ergeben, wenn man die Spezifika der digitalen Medien ernst nimmt und auf die alten Vorstellungen und Forderungen nach wahrhaft multimedialen und hypertextuellen Formen der historischen Darstellung Bezug nimmt. Hier gibt es noch erhebliche methodische Hürden, da ein hypertextuelles Schreiben erst noch erlernt werden müsste. Einen dritten Bereich bilden zentrale Projekte, Portale und Plattformen, die den produktiven Beitrag "kleinerer" Inhalte erleichtern und ihm einen festen Rahmen bieten. Hier besteht aber das Problem der oben angesprochenen Zuweisungsmechanismen von wissenschaftlichem Kapital, die den digitalen Bereich noch nicht hinreichend abdecken.

 

z|o: Wie beurteilen Sie die häufig geäußerte Klage über ein Überangebot von Informationen am global vernetzten Arbeitsplatz von Historikerinnen und Historikern? Welche Instanzen bestimmen, nach wie vor oder neuerdings, Bedeutung und Reichweite historischer Fachpublikationen?

 

Sahle: Die beiden lapidaren und von mir und anderen immer wieder wiederholten Antworten lauten: 1. Die Klage haben wir identisch beim Aufkommen des Buchdrucks gehört, 2. In Zeiten der Informationsüberflutung geht es darum, schwimmen und tauchen zu lernen - kurzum: die Methodiken der Informationsaufnahme und -filterung muss sich veränderten Bedingungen anpassen, was denn sonst!? Die Frage nach Bedeutung und Reichweite von Fachinformation ist aber trotzdem berechtigt. Ich denke, dass sich hier u.U. gar nicht so viel ändert. Es sind nach wie vor auch der "Rahmen", in dem Informationen publiziert werden und der "Hintergrund", vor dem das passiert. Dabei sind der "Hintergrund" die Institutionen, also Forschungseinrichtungen und Verbände. Den "Rahmen" bilden nach wie vor Publikationsreihen, Zeitschriften, große fachwissenschaftliche Projekte, Portale und zentrale Datenbanken, die gegenüber ihren Inhalten selbst eine Qualitäts- und Bedeutungszuweisung vornehmen. Die "renommierte Zeitschrift" findet ihren Nachfolger in der "renommierten digitalen Zeitschrift", aber auch in dem "anerkannten wissenschaftlichen Fachportal".

 

z|o: Was würden Sie sich mit Blick auf eine „optimalere" Integration der neuen Informationstechnologien in die Geschichtsforschung wünschen?

 

Sahle:  1. Mit öffentlichen Geldern finanzierte Forschungsergebnisse sollten grundsätzlich öffentlich in einer zeitgemäßen Weise, also digital verfügbar gemacht werden, idealer Weise open access. 2. Wir haben (aus juristischen Gründen) ein Problem mit der umfassenden digitalen Zugänglichkeit der neueren Sekundärliteratur, das sollte wenigstens durch einen vollständigeren Nachweis auf der Metadatenebene gemildert werden. 3. Wir brauchen starke zentrale und dauerhafte Informationsressourcen/Portale/Projekte, die  die verschiedenen Teilbereiche der historischen Forschung abdecken. 4. Dem Vorbild amerikanischer Forschungsverbände z.B. MLA (Modern Language Association) mit ihrem Bericht zu "Evaluating Scholarship" folgend, sollte der Historikerverband daran arbeiten, dass die neue Formen der Forschung für den wissenschaftlichen Werdegang angemessen verwertbar werden. 5. Die neuen Methodiken der Informationssuche, Informationsverarbeitung und Informationspräsentation müssen stärker in der Lehre verankert werden.  6. Wir brauchen mehr experimentelle Forschungsprojekte, die anhand exemplarischer, inhaltlicher Forschung zugleich die Methodik der geschichtswissenschaftlichen Forschung unter digitalen Bedingungen weiterentwickeln.