von René Schlott

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9. November 2016

Die US-amerikanische Hauptstadt erwacht an einem grauen, regnerischen Novembermorgen. Hinter ihr liegt eine lange, dramatische Wahlnacht, die gut zwölf Stunden zuvor begann. Als CNN-Anchorman Wolf Blitzer am frühen Abend zu den Wahlpartys beider Kandidaten nach New York City schaltet, spricht der Beobachter der Trump-Party unter Verweis auf einen Berater im Trump-Lager davon, dass ein Wunder geschehen müsse, um diese Wahl zu gewinnen. Alles rechnet mit einem Clinton-Sieg.

Mit dieser Stimmung steigen die Moderator/innen und Kommentator/innen im Studio in die Wahlnacht ein. Es herrscht ein Gefühl von Sicherheit, dass die Sache zugunsten Clintons ausgehen wird. Die langen Schlangen vor den Wahllokalen in Pennsylvania und North Carolina und der Grad der landesweiten Mobilisierung in den „early votings“ vor dem eigentlichen Wahltag würden für sie sprechen.
Doch ich werde skeptisch, noch ist keine einzige Stimme ausgezählt, und in den Schlangen, die die Fernsehkamera fortlaufend live abfährt, stehen vor allem weiße Männer.

Zudem sagten zwar fast alle Umfragen in den letzten Tagen Clintons Sieg voraus, doch in dem entscheidenden Wahlmännerdiagramm der Website „Realclearpolitics“ stand es zuletzt sehr knapp 272 zu 266 für Clinton. Ein einzelner Staat, selbst ein winziger wie New Hampshire mit vier Wahlmännern, könnte ausreichen, um Trump auf die entscheidende Schwelle von 270 Stimmen zu heben. Das „Wunder“ ist nicht auszuschließen.

Als ich am letzten Donnerstag in Los Angeles ankomme, um an der „Lessons and Legacies“, einer traditionsreichen, angesehenen Konferenz teilzunehmen, die die wichtigsten Holocaustforscherinnen und Holocaustforscher der USA versammelt, bin ich gespannt, wann und wo ich die ersten Anzeichen für die bevorstehende Wahl ausmachen kann. Auf der gut dreistündigen Stop and Go-Fahrt über die übervollen Highways vom Flughafen zum Konferenzort Claremont entdecke ich nicht einen einzigen der Autoaufkleber, mit denen die Amerikaner üblicherweise für alle sichtbar nach außen ihre parteipolitische Präferenz demonstrieren. Als ich später durch den Collegeort laufe, sind nur sehr vereinzelt Pro Clinton-Schilder in den Vorgärten zu finden. Selbst im demokratischen Stammland Kalifornien hat Clinton nach diesen ersten flüchtigen Eindrücken ein Mobilisierungsproblem.

Auf der Konferenz selbst gibt es in den Pausengesprächen fast nur ein Thema: die bevorstehende Wahl. Unter den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, meist aus dem linksliberalen Milieu der Ostküste, herrscht eine ausgeprägte Pro-Clinton-Stimmung. Die wechselnden Prozentzahlen der Website „Fivethirtyeight“, benannt nach den 538 Stimmen im Wahlmännergremium, werden wie heiße Ware unter den Konferenzteilnehmerinnen ausgetauscht. Sie sagen zu diesem Zeitpunkt mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Clinton-Wahlsieg voraus. Als die Prozentzahl am Sonntagmorgen von 78 auf 66 Prozent fällt, ist meine Sitznachbarin in Sorge.

Doch noch wird gelacht, als erste amerikanische Konferenzteilnehmer/innen scherzhaft über Umzugspläne sprechen, für den Fall, dass Trump das Rennen machen würde. Als HolocaustforscherInnen hätten sie ja den Vorteil, Deutsch zu sprechen, was einen Umzug nach Deutschland erheblich erleichtern würde. Erste Wissenschaftler/innen verlassen entnervt die Gesprächsrunden, wenn die Rede auf den Wahlkampf kommt. Über der Konferenz liegt eine Anspannung und eine ernsthafte Sorge, die die Ostküstenelite mit meinen US-amerikanischen Middle Class Freunden teilt, die ich am Sonntag nach Konferenzende in Santa Monica treffe. Man erkundigt sich beschämt, wie die Europäer diesen Wahlkampf sehen und ob man in Deutschland die Amerikaner nun für komplett „crazy“ halte. Ich verweise auf die beiden Wahlen von George W. Bush und antworte, wir seien in dieser Hinsicht Kummer gewohnt. Das Jahr 2000 sei noch als Unfall durchgegangen, weil letztlich der konservative „Supreme Court“ den Vorsprung von 537 Stimmen in Florida als ausreichend ansah, um George W. Bush zum Präsidenten zu machen. 2004 aber fiel sein Sieg gegen John Kerry deutlicher aus (letztlich waren auch hier nur 200.000 Stimmen in Ohio ausschlaggebend), obwohl die Amerikaner/innen zu diesem Zeitpunkt die verheerende Bilanz seiner ersten Amtszeit kannten und um das „Ansehen“ ihres Präsidenten im Ausland wussten. Vor dem Flug in die Hauptstadt versuche ich mich und meine Gastgeber mit dem Hinweis zu beruhigen, dass es der US-amerikanischen Ministerialbürokratie in Washington doch egal sei, wer unter ihr Präsident ist, und dass die traditionsreichen Institutionen einen möglichen Präsidenten Trump schon im Zaum halten würden.

In Washington angekommen, besuche ich als Erstes die National Archives, um mich gleichsam der großartigen Freiheitstradition dieses Landes zu versichern. Zu diesem Zeitpunkt ziehen die Besucherinnern und Besucher in langen Schlangen und andächtiger Stimmung an den Schreinen in der großen Kuppelhalle vorüber, in denen die Originale der Unabhängigkeitserklärung, der Verfassung und der Bill of Rights aufbewahrt werden. Auch beim Spaziergang durch die Hauptstadt, die immer verlässlich demokratisch wählt, entdecke ich wenig Anzeichen für eine Clinton-Begeisterung. Nur vor dem „Trump International Hotel“ haben sich zwei Demonstranten mit einem „Shame on Trump“-Banner aufgestellt. Vor dem „Weißen Haus“ sind die ersten Kamerateams aufgezogen.

Am Abend schaue ich die Liveübertragung der Abschlusskampagnen der beiden Lager. Hillary Clinton tritt zusammen mit Jon Bon Jovi, Bruce Springsteen, den Obamas und ihrer Familie in Pennsylvania auf.  Ein Kommentator auf CNN glaubt nicht, dass dies eine gute Idee gewesen sei, da auf der Bühne genau die Art von Establishment zusammengekommen sei, die die Mehrheit der weißen Wähler/innen so verachte. Donald Trump beendet seinen Wahlkampf in New Hampshire, und ich höre zum ersten Mal eine vollständige Trump-Ansprache. Das Ausmaß an Demagogie und Hass schockiert mich, obwohl ich den Wahlkampf über Monate verfolgt habe. Das Strickmuster der Rede ist simpel,: Im Moment ist alles schlecht, Clinton will es noch schlechter machen, nur Trump kann das Land retten. Es folgt Versprechen auf Versprechen: Er wird die Innenstädte wieder sicherer machen, für bessere Bildung sorgen, die Sozialsysteme reformieren, dafür sorgen, dass kein einziger syrischer Flüchtling ins Land kommt, dass die Regierung wieder für das Volk arbeitet, und er will die illegalen Emigranten deportieren. Nicht bei einem einzigen Vorhaben nennt er konkrete Maßnahmen zur Umsetzung. Nur als die Rede auf die geplante Mauer zu Mexiko kommt, fragt er in die Menge, wer die Mauer bezahlen wird, und die Masse beginnt zu skandieren: „Mexico, Mexico, Mexico“. Am Ende der Rede frage ich mich, was passieren wird, wenn seine Anhängerinnen und Anhänger realisieren werden, dass die Versprechungen nicht erfüllbar sind. Trump wird dafür mit Sicherheit wieder andere Schuldige finden, zur Selbstkritik war er bislang nie fähig. Er wird die Verantwortung auf innenpolitische Gegner lenken und auf das Ausland, was angesichts einer gewaltbereiten und für Verschwörungstheorien offenen Anhängerschaft äußerst gefährlich werden kann.[1]

Im Hinblick auf diese „Sündenbock“-Methode, die historische Vorläufer hat, bringt die „Washington Post“ am Morgen des Wahltages einen alarmierenden Artikel, der erklärt, dass die antisemitischen Anspielungen der Trump-Kampagne nicht länger Untertöne seien, sondern sich zu einer Melodie verdichtet hätten. Der Autor erinnert an die "Kristallnacht" vom 9. November 1938, deren 78. Jahrestag mit einem Trump-Sieg zusammenfallen könnte: „Ich bete an diesem besonderen Jahrestag, dass die Amerikaner Donald Trump und der Welt sagen, dass wir niemals zu diesen Tagen zurückkehren werden."[2]

Als der Wahlabend beginnt, deutet nichts darauf hin. Doch erste Zweifel tauchen auf, als sich in Florida fast kontinuierlich eine Trump-Mehrheit hält. Und obwohl sich der CNN-Analyst über Stunden mit der detaillierten Analyse einzelner Wahlkreise müht zu erklären, dass trotz der Trump-Führung ein Clinton-Sieg hier, in North Carolina, in Ohio und Pennsylvania noch möglich sei, zeichnet sich ein Trend ab. Später, als Virginia zwar an Clinton geht, Trump aber Florida einfährt, spricht derselbe Analyst nur noch von der „mathematischen“ Möglichkeit eines Clinton-Sieges. Denn inzwischen stehen die traditionell demokratischen Staaten Wisconsin (seit 1984) und Michigan (seit 1988) auf der Kippe. Um Mitternacht hat noch kein Fernsehsender Trump zum Sieger ausgerufen, doch die „New York Times“ spricht auf ihrer Website von einem „Momentum“ für Trump und schätzt die Wahrscheinlichkeit seines Sieges inzwischen auf über 95 Prozent ein. Das Bild des Abends wird diese Grafik, die zeigt, wie sich die Stimmung im Land mit wachsendem Auszählungsstand in Richtung Trump dreht. Um 21:30 Uhr (EST, Ostküstenzeit) gibt es eine Zäsur: Die Wahrscheinlichkeit eines Sieges von Trump ist nun genauso hoch wie die eines Clinton-Sieges. Fünf Stunden später ist es die Nachrichtenagentur AP, die Trump als Erste zum Sieger der Präsidentschaftswahl 2016 erklärt.[3]

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Live Presidential Forecast

Live Presidential Forecast, Quelle: New York Times

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Schon Minuten bevor Trump zum Sieger ausgerufen wird, verzweifelt einer der Politikexperten bei CNN über die Frage, wie er seinen Kindern den Sieg eines frauenverachtenden Demagogen erklären soll, der Wählerstimmen damit gewonnen hat, gegen Minderheiten im Land zu hetzen. Seine Kollegen sprechen konsterniert von einem „white backlash“, der gerade über die politische Landkarte rollt.

Das, was als historische Wahlnacht begann, weil zum ersten Mal eine Frau vor dem Einzug ins Weiße Haus stand, in einem Land, das vor weniger als einhundert Jahren das volle Wahlrecht für Frauen eingeführt hat, endete in einem bösen Erwachen. Historisch wird diese Nacht nun, weil faschistische Methoden in den USA salon- und mehrheitsfähig geworden sind: Trump war der Kandidat, der seine Anhänger zweimal zur Ermordung seiner Konkurrentin aufgefordert, ihr Haft angedroht und die Anerkennung ihres möglichen Sieges verweigert hat. Er hat sich in den letzten Wochen des Wahlkampfes keinesfalls inhaltlich gemäßigt, nur weil er seine Untergangsszenarien nun vom Teleprompter abgelesen hat. Noch am Wahltag hat er das angeblich von seinen Beratern verordnete Twitter-Verbot gebrochen und durch eine geschickte "Verwechslung" der Wörter „country“ und „county“ behauptet, dass in ganz Nevada die Wahlmaschinen nicht funktionieren würden, obwohl das nur in einem Wahlbezirk der Fall war.

Die Umfragen haben keineswegs die Wähler in den ländlichen Gebieten des Landes unterschätzt. Die Experten konnten sich schlicht nicht vorstellen, dass ein Kandidat, der Frauen verachtet, gegen Minderheiten hetzt, rassistische Parolen skandiert und alle syrischen Flüchtlinge zu islamistischen Terroristen erklärt, von fast 60 Millionen Menschen in einem der reichsten Länder der Welt gewählt werden könnte. Die Berlusconisierung des Landes steht nun bevor. Nur dass es sich diesmal nicht um das vergleichsweise unbedeutende Italien handelt, das ein Unternehmer zu seiner Beute macht, sondern um die Atommacht USA.

Am Ende bleibt ein kleiner Trost, den das „Wall Street Journal“ bereits am vergangenen Samstag aus der ereignisreichen Geschichte der Präsidentschaftswahlen zog: „Amerika wählte seinen größten Präsidenten, Lincoln, vier Jahre nach dem katastrophalsten, Buchanan. Es gibt also Hoffnung, dass im Jahr 2020 die Wahl von 2016 wieder geheilt werden könnte, wer auch immer am Dienstag gewinnen wird.“[4]