von Dmitri Stratievski

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1. Mai 2015

Die russische Gesellschaft hat bisher kein einheitliches Geschichtsbild entworfen, auch kein ‚postsowjetisch verordnetes Geschichtsbild‘, wie Hans Mommsen titelte.[1]
Vor allem die russische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg war und bleibt heterogen.
Der Krieg gegen Deutschland in den Jahren 1941-1945 entwickelte sich im gesellschaftlichen Bewusstsein über mehrere Generationen hinweg zu einem besonderen und autonomen Phänomen. Die Wortkombination Großer Vaterländischer Krieg bringt das Außerordentliche dieses Krieges bis in die grammatikalische Form zum Ausdruck: Die beiden ersten Worte werden im Russischen großgeschrieben, obwohl dies der grammatikalischen Regelung widerspricht.
Das offizielle Narrativ vom Großen Vaterländischen Krieg ist ein Mythos, der im Laufe der Zeit verschiedene Funktionen verkörperte. Im Zeichen der Militärkatastrophen in den Jahren 1941-1942 brauchte die Moskauer Führung die Geschlossenheit aller sowjetischen Bürger im Kampf gegen die deutsche Invasion, schließlich ging es auch um das Überleben des Regimes. In der Konsequenz durfte die Rhetorik der Geschlossenheit und Einheit weder kommunistisch-dogmatisch noch russisch-nationalistisch sein, damit sie von möglichst vielen Menschen getragen werden konnte - sowohl von Russen als auch von Nichtrussen.
Die sowjetische Gesellschaft indes war gespalten, die Folgen der Repressalien und Zwangskollektivierung waren noch spürbar. Vor diesem Hintergrund wurde eine Patriotismus-Kampagne gestartet, die nur in ihrer Gesamtheit zu verstehen ist. So wurde etwa im Jahr 1943 während der Befreiung der Ukraine der Hmel´nickij-Orden als Zeichen der Anerkennung nichtrussischer Helden aus der vorrevolutionären Zeit eingeführt. Die Verbindung zwischen dem „Alten“ und dem „Neuen“ sollte den „Volkscharakter“ des gerechten Verteidigungskrieges betonen. Zudem wurde jedem Soldaten überlassen, selbst zu entscheiden, wofür er kämpfen wolle: für die Bolschewiki, für das alte „Mütterchen Russland“ oder für seine nichtrussische Heimat. Auch Regimekritiker, politisch Verfolgte und Angehörige diskriminierter Gruppen wurden damit angesprochen und in die große Verteidigungsfront einbezogen. Stalin schloss Frieden mit seinem eigenen Volk. Einen Frieden, der nicht lange hielt.

Nach 1945 wurde der Staatssozialismus zum „Exportprodukt“. Der Sieg sollte nun die Überlebensfähigkeit des sowjetischen Modells und die Schlagkraft der Sowjetarmee beweisen. Auch nach der Entstalinisierungsphase unter Chruschtschow verbot sich die offene Kritik der Stalin-Ära häufig, da sie als „Angriff auf unseren Sieg“ empfunden wurde. Noch heute, vierundzwanzig Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion, ist im GUS-Raum eine kritische Analyse des Krieges schwierig.
Der russische Soziologe Lew Gudkow schreibt: „Der Sieg im Jahre 1945 ist nicht nur ein zentrales Ideenbündel der Sowjetgeschichte. Er ist auch der positive Ausgangspunkt im nationalen öffentlichen Bewusstsein der postsowjetischen Gesellschaft.“[2]
Mehr noch: Er ist der einzig erhalten gebliebene positive Ausgangspunkt sowjetischer Geschichte.
Der Mythos lebt, ungeachtet der Tatsache, dass die Kriegsgeschichte in Russland längst entsakralisiert wurde. In keinem anderen Land der Welt erscheinen so viele Bücher über die Schattenseiten des Krieges wie in Russland. Diese untersuchen beispielsweise Kollaboration, sowjetische Kriegsgefangenschaft und die Machenschaften des NKWD hinter den regulären Truppen, die an der Front kämpften.
Zur Standardausstattung eines jeden russischen Kriegsfilms gehört eine Person, die trotz Tapferkeit im Kampf gegen die Nazis zu Unrecht verfolgt oder vom Sicherheitsapparat schikaniert wurde. Gleichzeitig wächst die Popularität Stalins in Umfragen und Internetforen. Zu Ehren des Tyrannen werden auf „Privatgrundstücken“ neue Denkmäler errichtet.
Die Diskrepanz zwischen Analyse und Alltag zeigt deutlich, dass die russische Gesellschaft sich mit ihrer Vergangenheit noch immer nicht versöhnt hat.

Die Moskauer Militärparade am 9. Mai 2015 hat in der deutschen Presse eine vernichtende Kritik erfahren. Sie sei pompös und präsentiere militärische Macht, nicht anders als in den vergangenen Jahren.
Boris Jelzin hatte die sowjetische Paradetradition im Jahr 1995 inmitten des Tschetschenienkrieges wieder eingeführt.[3] Wladimir Putin nahm diesen Staffelstab gerne auf und ließ seit 2008 wieder Kriegstechnik auf dem Roten Platz auffahren. Die donnernden Panzer- und Raketenschleppermotoren sind aus westlicher und friedenspolitischer Sicht unangebracht, besonders angesichts des Ukraine-Konfliktes. Diese Form der Erinnerungspolitik ist den meisten (West-)Europäern fremd. Und schließlich sind diese Mega-Show und Putins Rede mitunter als Drohgebärde zu verstehen.
Die Mehrheit der deutschen Kommentatoren schilderte ausschließlich die hurra-patriotische, vom Staat gelenkte Parade und übersah die Haltung der russischen Bevölkerung. Für die überwiegende Mehrheit der Russen war und ist das Siegesfest positiv konnotiert.
Die Erinnerung besagt, dass das sowjetische Volk der 1940er Jahre Teil der „Koalition des Guten“ war. Im heutigen Russland gilt das als eine wichtige politische Botschaft. Im Krieg kämpften, in der Erinnerung der Veteranen, alle Seite an Seite: Ukrainer und Russen, Polen und Amerikaner, Aserbaidschaner und Armenier. Die Sowjetunion leistete einen immensen Blutzoll für den Sieg über das Nationalsozialistische Deutschland. Kaum eine Familie in Russland blieb ohne Verluste.

Die deutsche Berichterstattung fokussierte jedoch hauptsächlich auf die Kreml-Führung, während andere Bilder des 9. Mai blass blieben. Auf den Straßen Moskaus marschierten entgegen der Darstellung der Medien nicht nur Soldaten. Am Gedenkzug „Das unsterbliche Regiment“ nahmen landesweit hunderttausende Menschen teil, die Portraits ihrer im Kampf gefallenen oder nach dem Krieg verstorbenen Familienmitglieder trugen. Selbst bekennende Kritiker der russischen Ukraine-Politik verfolgten die Militärparade zusammen mit ihren Eltern und Großeltern. Damit wollten sie nicht Putin den Rücken stärken, sondern solidarisierten sich mit der Kriegsgeneration, die andere Emotionen mit der Erinnerung an den Krieg verbindet. Diese Menschen sind keine Komparsen der Geschichtspolitik Russlands, sondern Bürger, die das geschichtspolitische Kampffeld nicht der russischen Führung überlassen wollen. Diese Vielfalt des Erinnerns macht Russland letztlich stabiler. 
Die alten Kriegsveteranen in abgetragener Kleidung, mit ihren Auszeichnungen aus einer versunkenen Sowjetepoche, passen nicht ins Bild der europäischen Erinnerungskultur. Ihre Sichtweise muss jedoch anerkannt und gewürdigt werden. Auch ihr Erinnern gehört zu einer gesamteuropäischen Erinnerung.
Das Wortspiel ‚Geschichte als Waffe‘[4]  steht gleichermaßen für die Neubewertung der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und für die Instrumentalisierungsversuche von Seiten der Eliten. Mögen die Waffen schweigen!     

 

 

[1] Hans Mommsen: Papiere der Friedrich-Ebert-Stiftung
[2] Vortrag von Lew Gudkow: Die Zukunft der Vergangenheit. Welche Erinnerung kann Demokratie fördern?  Gehalten auf der deutsch-russischen Konferenz  zum Thema: Welche Geschichte formt die Gegenwart? Erinnerungskultur 60 Jahre nach dem Kriegsende  am 24. Oktober 2004 in Berlin. (Tagungsbericht auf H/Soz/Kult)
[3] 1995 auf dem Gelände des Kriegsmuseums, seit 1996 auf dem Roten Platz.
[4] Günter Morsch, Geschichte als Waffe. Erinnerungskultur in Europa und die Aufgabe der Gedenkstätten, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Seite 109-121.