von Susanne Schattenberg

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1. März 2014

"Es gibt den Vorschlag, den Genossen Gorbačev Michail Sergeevič auf den Posten des ZK-Sekretärs für Landwirtschaftsfragen zu befördern, der zur Zeit als Erster Sekretär des Stavropoler Regionalkomitees der KPdSU arbeitet. Genosse Gorbačev ist Jahrgang 1931, Russe, hat einen Hochschulabschluß, ist Absolvent der Moskauer Staatlichen Universität und des Stavropoler Instituts für Landwirtschaft, ausgebildet als Agronom und Wirtschaftsexperte; Parteiarbeit leistete er seit 1955; er ist seit langen Jahren Erster Sekretär des Stavropoler Regionalkomitees der Partei. Was denken Sie, Genossen?“[1] Mit diesen Worten empfahl L.I. Brežnev auf dem Novemberplenum des ZK der KPdSU 1978 Michail Gorbačev zur Wahl. Ein Jahr später wurde er Kandidat des Politbüros, 1980 Vollmitglied und am 11. März 1985, vor bald 30 Jahren, im Alter von 54 Jahren jüngster und letzter Generalsekretär der KPdSU.

Wahlen, das ist kein Geheimnis, waren in der Sowjetunion kein Prozeß der freien Meinungsbildung, des Austausches über Für und Wider, des Streits um Eignung und Nicht-Eignung. Wahlen waren einerseits die kollektive Bestätigung des von der Partei präsentierten Personaltableaus und damit des eingeschlagenen Kurses. Das Heben des Arms drückte weniger „ich bin für den Kandidaten“ als „ich bin Teil des Kollektivs“ aus. Die Partei inszenierte sich auf den ZK-Plenarsitzungen als Einheit, während dem Vorsitzenden, damals Brežnev, die Rolle des Zeremonienmeisters zufiel, der mit seinen Fragen und Anmerkungen den Einsatz für Akklamation und Armheben gab. Es war Teil der ungeschriebenen und unhinterfragten Parteietikette und –Disziplin, niemals dem Generalsekretär oder Sitzungsleiter zu widersprechen und niemals dagegen zu stimmen. Im Ritual des Sitzungsprozederes bestätigten die ZK-Mitglieder dem Politbüro ihre Loyalität und einander, das bessere politische System, die friedlichere Außenpolitik, die gerechtere Gesellschaft und die humanere Wirtschaft zu haben.
Eine Wahl bedeutete damit andererseits im Vorfeld eine organisatorische Leistung, um den einen Kandidaten zu finden und abzusichern, daß er tatsächlich von allen relevanten Kräften im Machtapparat akzeptiert würde. Dabei ging es nicht um politische Fragen oder Inhalte, sondern um Landsmannschaften, Loyalitäten und Clanzugehörigkeiten. Gorbačev war vom KGB-Vorsitzenden Ju.V. Andropov eingeführt worden, der bei seinen Sommerurlauben in Südrußland auf den jungen, ehrgeizigen und intelligenten Gorbačev aufmerksam geworden war und ihn als seinen Protegé Brežnev vorgestellt hatte. Brežnev beherrschte die Kunst, einerseits überall seine Gefolgsleute zu installieren, dies andererseits so behutsam und umsichtig zu tun, dass er andere Patrone wie Andropov durchaus gewähren, ihn allerdings streng durch zwei Stellvertreter, die seiner Klientel angehörten, beobachten ließ. So kam es, dass sein Rivale mit seinem Segen einen jungen Nachfolger im Politbüro aufbaute, während sich Brežnev ganz auf seine gleichaltrige Entourage stützte. Nach seinem Tod am 10. November 1982 gelang es Andropov zwar, sich gegen die Klientel Brežnevs durchzusetzen und als Vorsitzender der Beerdigungskommission den institutionellen Anspruch auf die Nachfolge Brežnevs zu beanspruchen. Aber bei seinem Ableben im Februar 1984 reagierte sein Zögling Gorbačev nicht schnell genug, und Brežnevs erster Klient und rechte Hand K.U. Černenko wurde Vorsitzender des Beerdigungskomitees und damit Nachfolger Andropovs. Erst bei Černenkos Ableben im März 1985 gelang es Gorbačev, die institutionelle Stellung zu besetzen, die ihm die Kandidatur für den Posten des Generalsekretärs sicherte.

Gorbačevs Wahl war also das ganz „normale“ organisatorische Lavieren und Operieren im Machtapparat mit anschließender kollektiver Akklamation. Nicht „normal“ hingegen war, dass ihm der Moskauer Partei- und Staatsapparat, wie er ihn seit 1978 von innen kannte und der ihn selbst hervorgebracht hatte, zutiefst zuwider war: er wollte offene Wahlen, mit mehreren Kandidaten, die ihre Qualifikation beweisen mußten, er wollte offene Diskussionen mit offenem Ausgang, an den sich dann alle halten sollten, er wollte einen freien Wettbewerb der Ideen und Konzepte, bei dem sich das Beste durchsetzen sollte. Freilich glaubte er, daß sich die Partei als beste Kraft bestätigen bzw. regenerieren und der Staat durch Reformen gestärkt und nicht gestürzt würde.
Was folgte, ist bekannt: Glasnost und Perestrojka, der Feldzug gegen Alkoholkonsum und die Krise der Lebensmittelversorgung, die Katastrophe von Tschernobyl und das Erdbeben in Armenien, das nationale Erwachen und ethnische Konflikte in den Unionsrepubliken und schließlich der Putsch im August 1991. Im Dezember 1991 stand Gorbačev plötzlich als Präsident ohne Land dar. Das alte System der Akklamation und des Armhebens hatte er erfolgreich zerstört, aber statt Reformkommunismus hatte sich Meinungspluralismus außerhalb der Partei und „Wild-West-Kapitalismus“ durchgesetzt. Heute gibt es in Russland die Meinung, Gorbačev gehöre mit Chruščev und Jelzin in die Reihe derer, die Russland schwächten und zerstörten, während Stalin, Brežnev und Putin es festigten und stärkten.

Gorbačev wirkt wie aus der Zeit getreten. Anders als ehemalige US-Präsidenten oder EU-Regierungschefs wird er nicht gerufen, wenn es darum geht in internationalen Krisen, zumal in der ehemaligen Sowjetunion, zu vermitteln. Warum nicht? Gilt er tatsächlich als der Verlierer der Geschichte, dem ein ganzes Imperium abhanden kam? Steht er für den Zerfall per se? Hat er sich diskreditiert, als er 1990 in das nach Unabhängigkeit strebende Baltikum Panzer und Fallschirmjäger entsandte? Was lehrt sein Fall über den aktuellen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine?
In der Geschichte der Parteiführung war das größte Vergehen, einen Vasallenstaat zu verlieren. Der NKWD-Chef L.P. Berija wurde 1953 maßgeblich unter dem Vorwand hingerichtet, er sei am Aufstand in der DDR schuld; Chruščev entsandte 1956 Truppen nach Ungarn, weil er um seinen Posten fürchtete. Brežnev erklärte 1968 angesichts des Prager Frühlings: „Wenn wir die Tschechoslowakei verlieren, werde ich vom Posten des Generalsekretärs zurücktreten.“[2] Gorbačev hatte in den Augen seiner Genossen mit dem neu ausgehandelten Unionsvertrag gleich sämtliche Unionsrepubliken verloren und wurde daher kalt gestellt. Das Trauma, nicht mehr Supermacht zu sein, gepaart mit dem Anspruch, als Imperialmacht respektiert und gefürchtet zu werden, blieb Teil der russischen politischen Kultur nach 1991. B.N. Jelzin und V.V. Putin führten zwei Kriege gegen Tschetschenien, als es sich abspalten wollte. Putin erklärte folgerichtig, der Zerfall der Sowjetunion sei die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“; dieser historischen Logik folgend kann er es sich nicht leisten, die Ukraine samt der Krim zu „verlieren“. Zu groß ist die Gefahr, selbst in eine Reihe mit Chruščev, Gorbačev und Jelzin als Zerstörer des Reichs gestellt zu werden. Gorbačev, der im Westen für Demokratie, Pressefreiheit und Pluralismus steht, symbolisiert für viele Großrussen den schmerzlichen Verlust der russländischen Provinzen. Für die Staatsführer wie Putin ist er ein mahnendes Beispiel, was mit jenen geschieht, die leichtfertig Abspaltungen zulassen: sie werden auf dem Kehrichthaufen der Geschichte entsorgt.

 

 

[1] Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Novejšej Istorii (Moskau), Fonds 2, Findbuch 3, Akte 493, Blätter 3-4.
[2] Zit. nach Andrej N. Aleksandrov-Agentov, Ot Kollontaj do Gorbačeva. Vospominanija diplomata, sovetnika A.A. Gromyko, pomoščnika L. I. Brežneva, Ju.V. Andropova, K.U. Černenko i M.S. Gorbačeva, Moskau 1994, 149.