von Simon Krause

  |  

1. Juli 2015

In der Welt der Bücher hat der Austausch zwischen Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Länder schon immer eine große Rolle gespielt. Man traf sich beispielsweise auf der Frankfurter Buchmesse, holte sich Inspiration, stellte fest, dass die drängenden Fragen der Zeit dieselben waren oder tauschte sich aus. Im Jahre 1988 war dies nicht anders und schnell wurde klar, dass die Themen der deutsch-deutschen Nachkriegsliteratur Ähnlichkeiten aufwiesen, ja, dass man sich in vielerlei Hinsicht näher war, als gedacht.

Doch war die westddeutsche Literatur des Jahres 1988 tatsächlich präsent, wurden die deutschen Autorinnen und Autoren überhaupt gelesen? Eben diese Frage beantwortete Marcel Reich-Ranicki in dem am 25. März erstmals ausgestrahlten Literarischen Quartett entschieden negativ: Reich-Ranicki hielt die deutsche Literatur generell für schwach, da schlichtweg mehr ausländische Autoren gelesen würden.
Sein Eindruck trog keineswegs, wie ein rascher Blick auf die Spiegel-Bestsellerliste des Jahres verrät. In der Belletristik ist unter den ersten zehn Titeln nur ein deutscher Autor zu finden: Siegfried Lenz.[1] Die bedeutendste Buchausstellung der Welt wiederum fand mit diesem Jahr nicht nur erstmals im jährlichen Rhythmus statt, sondern wählte zudem auch einen thematischen Schwerpunkt für das Rahmenprogramm. Die Veranstalter entschieden sich für „das deutsche Sehnsuchtsland“[2] schlechthin: Italien. Die italienischen Verleger allerdings stuften ihr eigenes Publikum eher als lesefaul ein und waren daher froh, sich im Ausland präsentieren zu können, wo die italienische Literatur – zu dieser Zeit besonders Umberto Eco – erfahrungsgemäß mehr gelesen wurde als im eigenen Land. Den sich entfaltenden medialen Trubel um das Gastland erachtete die Schweizer Literaturkritikerin Alice Vollenweider indes für überhöht, sei doch das deutsche literarische Leben „von sehr viel intensiverer Qualität“.

Ob nun schwach oder intensiv – für eine Analyse des Austauschs zwischen den literarischen Landschaften in West- und Ostdeutschland spielen die zeitgenössischen Einschätzungen beider Literaturkritiker nur bedingt eine Rolle. Viel wichtiger hingegen ist die Frage, wie sich die Interaktion von Ost- und Westliteratur ausdrückte und welche Formen des Austauches über die Frankfurter Buchmesse hinaus stattgefunden haben. Denn der Austausch war in den späten 1980er Jahren durchaus rege. Schon zuvor hatte auf diesem Gebiet ein Umdenken im Umgang miteinander stattgefunden. Bekannte DDR-Schrifsteller, so beispielsweise Christa Wolf,[3] Hermann Kant, Wolf Biermann und viele andere, wurden ab den 1970er Jahren zunehmend in der Bundesrepublik verlegt[4] und Publikationen ostdeutscher Autorinnen und Autoren auf der Buchmesse ausgestellt. Anfang Dezember 1988 wurden in Saarbrücken unter dem Titel Das schöne bißchen Leben, wie es im Buche steht – Bücher aus der DDR rund 4.000 Titel präsentiert.[5] Die dargebotenen Bücher der durch Ministerpräsident Oskar Lafontaine eröffneten Schau stießen, glaubt man dem Artikel im Neuen Deutschland, auf großes Publikumsinteresse. Da die Ausstellung aber weder in der überregionalen noch in der lokalen bundesrepublikanischen Presse größere Beachtung fand, scheint diese positiv übertriebene Darstellung der Bedeutung der Ausstellung jedoch mehr dem Wunschbild des Neuen Deutschlands entsprochen zu haben. Indes ist der Austausch in umgekehrter Richtung noch überraschender: Auch in der DDR gab es im selben Jahr eine Ausstellung westdeutscher Literatur. Im Oktober wurde in der Berliner Stadtbibliothek eine Schau mit rund 3.000 Titeln zum Thema Bücher aus der Bundesrepublik Deutschland gezeigt.[6] Das Neue Deutschland wies auf die Zielsetzung der Veranstaltung hin: Bereits bestehende Kontakte sollten ausgebaut und der beiderseitige Literaturaustausch weiter intensiviert werden.[7]

Dabei kamen die DDR-Bürger auf der 1988 veranstalteten Ausstellung nicht zum ersten Mal auf diese Weise mit Büchern aus der Bundesrepublik in Kontakt. Schon seit 1963 gab es die Leipziger Buchmesse, die sich besonders wegen ihrer Angebotsvielfalt an westdeutschen Büchern zum Publikumsmagneten entwickelte, und damit für die DDR-Leser eine Art Schaufenster darstellte. Dabei führte gerade diese Schau das Selbstverständnis des „Leselandes“ DDR ad absurdum, denn ihre große Beliebtheit erlangte die Ausstellung vor allem wegen der Vielfältigkeit der westdeutschen Literatur, und weil sie den Lesern neue Horizonte eröffnete, die ihnen im eigenen System verwehrt blieben.[8] Für das Jahr 1988 bedeutet dies: Mit der Ausstellung in der Berliner Stadtbibliothek kam eine weitere Buchmesse hinzu, die deutlich machte, dass die Leser sich nach einem „Loch in der Mauer“ sehnten. Dies zeigt, wie sehr die bundesdeutsche Gesellschaft die Referenzgesellschaft des östlichen Nachbarns geworden war.

An diesen Ausstellungen nahmen mitunter auch Vertreter aus der Bundesrepublik teil. An jener in der Berliner Stadtbibliothek unweit des Palastes der Republik nahmen beispielsweise der Vorsitzende des Frankfurter Börsenvereins, Günther Christiansen, aber auch Literaten selbst teil, deren Werke in Ostberlin ausgestellt wurden, wie der in der DDR vielgelesene Siegfried Lenz. Die Aufmerksamkeit, die der Ausstellung in der DDR zuteil wurde, war ungemein hoch, was schon die entsprechenden Meldungen offenbaren, die die Titelseiten der unterschiedlichen Zeitungen zierten. Ein Artikel im Neuen Deutschland vom 21. Oktober 1988 betonte besonders, wie sehr die Ausstellung ganz im Zeichen der großen Fragen der Zeit – Frieden, Sicherheit und Abrüstung – beider deutscher Staaten stehe.[9] Dass in diesem Zusammenhang auch Siegfried Lenz Erwähnung findet, scheint nicht zufällig. Der in der DDR und Bundesrepublik geschätzte Autor nahm höchstpersönlich an der Ausstellung teil und erhielt in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, und dies ausdrücklich für seine Bemühungen um Frieden, Wiedergutmachung und Vergangenheitsbewältigung.[10]

Schuld und Sühne oder der Friedenspreis für Siegfried Lenz

Nur wenige Autoren hatten das Glück, nicht von Marcel Reich-Ranicki verrissen zu werden. Siegfried Lenz war einer von ihnen. Warum allerdings, so ließe sich fragen, wird ein Literat, der zu den bedeutendsten deutschen Nachkriegsschriftstellern gehört, nicht im Literarischen Quartett behandelt? Die Antwort ist einfach, denn genauso wie Reich-Ranicki eine Vielzahl an Intimfeinden hatte, zu denen bereits 1988 unter anderem Martin Walser und Günter Grass zählten, pflegte er auch besondere Freundschaften. Zu diesen gehörte Siegfried Lenz. Der Lenz-Biograf Erich Maletzke führt sogar aus, es habe keinen anderen Menschen gegeben, mit dem Lenz so „eng umschlungen“ durchs Leben gegangen sei wie mit Reich-Ranicki.[11]

Jener Siegried Lenz erhält am 9. Oktober in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. In der Begründung des Börsenvereins wird Lenz für sein „vielgestaltiges literarisches Schaffen […] zur Durchdringung der deutschen Vergangenheit“ und für seine „Zeichen der Versöhnung und Verständigung“ geehrt.[12] Gemeint war damit insbesondere sein Hauptwerk Deutschstunde.[13] Bereits 1968 erschienen, stellt es eines der zentralen Bücher der deutschen Nachkiegsliteratur dar, bildet es doch die Verquickung von Schuld und Pflicht im Nationalsozialismus ab. Neben Schuld und Sühne ist indes auch die Freiheit ein immer wiederkehrendes Motiv Lenzscher Literatur. Auch weil er selbst miterlebt hatte, was es bedeutete, unfrei zu sein. Wohl auch deshalb zieht sich dieses Motiv wie ein roter Faden durch seine Werke; möglicherweise ist er auch deswegen in der DDR ein vielgelesener und respektierter Autor. Wie eng Siegfried Lenz die Literatur beider deutscher Staaten Ende 1988 miteinander verband, machte Günther Christiansen in seiner Begrüßung zur Verleihung deutlich: Der Friedenspreisträger habe mit seiner Arbeit dazu beigetragen, der „Trennungslinie“ zwischen Ost und West an Schärfe zu nehmen. In seinen Arbeiten zeige er Wege der Verständigung und Versöhnung auf, die beide Staaten gleichsam beträfen.[14] Es zeigt sich: Lenz ist durch sein Werk und seine Ideen von Freiheit und Verständigung in West und Ost zum Repräsentanten des Friedens geworden, auch und nicht zuletzt, weil er die Versöhnung mit den Juden nach den Greueltaten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in den Mittelpunkt seiner Werke stellte. So kam es, dass die Laudatio auf Lenz vom ehemaligen israelischen Botschafter in der Bundesrepublik, Yohanan Meroz, gehalten wurde.[15] Der 1933 vor den Nazis geflohene Meroz würdigte Lenz für seine Bemühungen um den Frieden, die den „Born der Hoffnung für das Morgige“ darstellten.[16]

Lenz war in diesem Herbst 1988 ein viel beachteter Mann. Im Zuge der Verleihung des Friedenspreises wurden seine Werke häufig rezensiert und er selbst in den Medien als integre Autorität in Sachen Frieden zitiert. In diesem Sinne präsentierte auch Die Zeit zum Wochenende der Verleihung einen großen Artikel, in dem unter dem paradigmatischen Titel Lenz und die Freiheit nicht nur einige seiner Werke aus den letzten Jahren besprochen wurden, sondern sein literarisches Schaffen insgesamt unter diesem zentralen Motiv beleuchtet wurde.[17] Der Journalist Martin Ahrends, selbst Schriftsteller, stellte treffend fest, dass Lenz keine Definition für Frieden liefere, sondern Wege aufzeige, wie Frieden als dauerhafte Chance zur Freiheit gesehen werden könne.

Wie die Themen Unfreiheit und Flucht mit dem der Heimat verbunden werden können, zeigt Lenz in seinem 1978 erschienen Roman Heimatmuseum,[18] der auch in unserem Jahr 1988 eine Rolle spielte: Denn im März sendete die ARD die Lenzsche Hommage an seine Heimat Masuren als dreiteilige Literaturverfilmung, bei der Egon Günther Regie führte. Dieser wiederum hatte ursprünglich sein Handwerk in der DDR gelernt, ehe er 1978 in die Bundesrepublik übersiedelte. Heimatmuseum führt uns hinein ins Städtchen Luckenow. Der Besitzer des dortigen titelgebenden Heimatmuseums hatte sich erst der Nationalsozialisten zu erwehren versucht, ehe er nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fliehen musste, nur um erneut in Unfreiheit zu leben. Im Roman zeichnet Lenz ein ideologiefreies Bild seiner Heimat und begibt sich mit historischer Akribie auf die Suche nach den Gründen für das Entstehen von Krieg und Nationalsozialismus. Während das Buch beispielsweise in der Zeit als brillianter Roman eingeschätzt wird, in dem Lenz seine Protagonisten vor Konflikte stelle „[…] in denen sie ihre Friedensfähigkeit bewähren müssen“,[19] konnte der Spiegel der Verfilmung des Buches nicht allzu viel Positives abgewinnen. Dies lag jedoch wohl weniger an der Romanvorlage als am Film selbst, den Regisseur Günther, folgt man dem Spiegel, zu einem seicht-kitschigen Abendprogramm verkürzt habe. Aus den masurischen wurden kurzerhand böhmische Dörfer, da die polnischen Behörden keine Drehgenehmigung erteilten. Insgesamt sei der ganze Film von Pathos überladen und käme so eher einer Erzählung der Heimatlosigkeit nahe.[20] Selbst Mario Adorf, hier in der Hauptrolle, vermochte dem Film nicht zum Erfolg zu verhelfen. Zwar fiel die Kritik vernichtend aus, dennoch blieb Lenz davon unberührt. Ohnehin hätte es in diesem Jahr wohl kaum jemand gewagt, den Friedenspreisträger zu kritisieren, erfüllte er doch das Ideal der Friedfertigkeit, das er seinen Charakteren immer wieder abforderte. Dabei zieht sich neben dem Freiheitskämpfer auch der „Pädagoge […] und Moralist“[21] durch all seine Werke. Grund zur Kritik? Jedenfalls nicht von Seiten seines Freundes Reich-Ranicki.

Stolz und Vorurteil oder die „Staatsdichterin“ Christa Wolf

Christa Wolf war keine allzu politische Person, aber im frisch vereinigten Deutschland der frühen 1990er Jahre dennoch umstritten. Für die einen war sie dies wegen ihrer Bücher, für die anderen wegen ihrer Haltung zur DDR. Marcel Reich-Ranicki jedenfalls schätzte sie nicht sonderlich. Obgleich seine Stimme keineswegs die einzige war, so war sie eben doch eine meinungsmachende. Dennoch kann Wolf hier stellvertretend für die Literatur der DDR angeführt werden. Wie Lenz war auch sie in Ost und West eine angesehene Schriftstellerin. Auch sie spielte 1988/89 eine wesentliche Rolle und blieb in den folgenden Jahren eine viel diskutierte Person. Aber war sie tatsächlich die „Staatsdichterin“, für die sie viele hielten?

Das Jahr 1988 brachte für Christa Wolf eine böse Überraschung: Im Sommer wurde sie mit einem Blinddarmdurchbruch in ein Schweriner Krankenhaus eingeliefert. Mehrfach operiert entging sie nur knapp dem Tod – Erfahrungen, die sie später in ihrem Buch Leibhaftig[22] verarbeitete.
Aber spürte Wolf wie die Protagonistin ihres Buches schon 1988 den baldigen Untergang der DDR? Waren die persönliche Krankheitsgeschichte der Autorin, und der damit korrespondierende Untergang der DDR, nur eine Metapher für ihr Buch oder hatte sie sich tatsächlich schon von der DDR verabschiedet? Im Jahr 1996 äußerte sie in einem Interview mit dem Tagesspiegel: „Ich habe […] spätestens 1965 aufgehört, mich mit der DDR, so wie sie war, zu identifizieren.“[23] Warum sie dann der DDR nicht den Rücken gekehrt habe, zählt zu den immer wiederkehrenden Fragen der Rezeptionsgeschichte Christa Wolfs. Für sie selbst besaß die Frage wohl kaum die Bedeutung, die sie für die Kritiker im vereinigten Deutschland hatte. Die Autorin, einst mit Preisen und Ehrendoktorwürden ausgezeichnet, bezichtigte man in der Bundesrepublik nun der Gesinnungsästhetik, hielt sie sogar für staatsnah. Doch setzte sie sich von Anfang für die „Umwelt-, Friedens-, Bürger- und frauenrechtlichen Bewegungen in der geteilten Welt“ ein,[24] wie Therese Hörnigk im Literaturmagazin Text und Kritik 2012 kurz nach Wolfs Tod feststellte. Dennoch bahnte sich schon Ende 1987 an, was später im „Literaturstreit“ aufgehen sollte.[25] Ging es zunächst allein um Christa Wolf als systemkritische Autorin, weitete sich der Streit in den 1990er Jahren aus. Dabei spielte vor allem die bereits 1979 entstandene aber erst 1989 erschienene Erzählung Was bleibt eine wichtige Rolle, in der es um die alltägliche Stasi-Überwachung einer Schriftstellerin, um Christa Wolf selbst, geht. Marcel Reich-Ranicki jedenfalls rechnete mit Wolf und anderen DDR-Literaten vernichtend ab: „An die Existenz einer DDR-Literatur habe ich nie geglaubt.“[26]

Dass Christa Wolf in der Bundesrepublik umstritten war, belegt diese Aussage deutlich. Aber nicht alle zeichneten dasselbe Bild der DDR-Literatur. Der Literaturwissenschaftler Werner Mittenzwei, übrigens der einzige ostdeutsche Autor, der 1988 im Literarischen Quartett besprochen wurde, stellte für sich selbst und die DDR fest: „Vor der Wende hatte man in der DDR damit begonnen, davon abzusehen, von Literatur und Kunst zu fordern, was ihre Wesenskräfte übersteigt, aber ihre gesellschaftliche Mission wollte man damit nicht in Frage stellen.“[27] Theo Bucks Bestandsaufnahme der Gegenwartsliteratur aus dem Jahr 1988 thematisiert dagegen weniger die gesellschaftliche Rolle der Literatur, sondern konstatiert nüchtern: „Es gibt eben die Literaturen beider deutscher Staaten und die Literatur deutscher Sprache.“[28] Auch in der Retrospektive halten die damaligen Anspielungen Reich-Ranickis einer kritischen Prüfung nicht stand. Für den Literaturwissenschaftler Bernd Wittek war der Streit als solcher in einem sich zusammenfügenden Deutschland unvermeidlich, in seiner moralischen Härte gegen Christa Wolf sei er aber deutlich überzogen gewesen. Denn Christa Wolf sei „ganz gewiß von DDR-offizieller Seite nicht als [...] ‚Staatsdichterin‘ angesehen“ worden.[29] Von diesen unterschiedlichen Meinungen über Christa Wolf unberührt bleibt indes die Frage, was die Menschen in der Bundesrepublik reizte, ihre Bücher zu lesen.

Wolfs Rolle war tatsächlich ambivalent. In den Jahren 1959 bis 1962 hatte sie als „IM Margarete“ für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet. Dabei hatte das weniger mit tatsächlicher Systemverbundenheit zu tun, sondern geschah eher aus persönlichen Gründen, die ihre Arbeit erleichterten.[30] 1977 zählte sie zu den Unterzeichnern eines offenen Briefes, der sich gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns richtete,[31] und auch sie selbst hatte erwogen, die DDR zu verlassen.[32] Auf die Frage aber, warum sie den Gedanken nie in die Tat umgesetzt habe, antwortete sie, sie habe das Gefühl gehabt, von den Leserinnen und Lesern in der DDR gebraucht zu werden.[33] Ein weiterer Grund für ihr Bleiben könnte auch ihr Glaube an einen gerechteren sozialistischen Staat sein, den sie noch im November 1989 gegenüber der Ost-Berliner Bevölkerung äußerte.[34]

Aufgrund ihrer schweren Krankheit war das Jahr 1988 nur von wenig schriftstellerischer Tätigkeit geprägt. Sie veröffentlichte lediglich ihren Band Ansprachen, in dem Reden, Aufsätze und Briefe aus den letzten Jahren, die meisten aus dem Jahr 1987, abgedruckt waren. Einzig eine Rede auf der Bezirksversammlung der Berliner Schriftsteller[35] vom März 1988 stammt aus dem Untersuchungsjahr. Doch gerade diese Rede ist umso interessanter, formuliert Wolf in ihr doch nicht nur offene Kritik gegen den Ausschluss einiger früherer Mitglieder des Verbandes, die bereits im Westen weiterarbeiteten, sondern zwischen den Zeilen auch den Wunsch nach Umdenken und Entspannung – sowie einer engeren Zusammenarbeit zwischen dem westlichen und östlichen Schriftstellerverband. In der Bundesrepublik wurde dieses kleine, unscheinbare Bändchen entsprechend positiv besprochen. Der Rezensent der Zeit, Martin Ahrends, der uns bereits als Lobredner Siegfried Lenz’ für dessen Friedensbemühungen begegnet ist, überschrieb seinen Artikel passend mit Neues Denken DDR und verdeutlichte damit, dass Christa Wolf im Jahr 1988 eine ernsthafte Chance für eine Epochenwende sah.[36] Dabei ging Ahrends in seinem Artikel auch der Frage nach, inwiefern Reich-Ranicki mit seinem Ende 1987 formulierten Vorwurf richtig liege, Christa Wolf habe es an „Mut und Charakterfestigkeit“[37] gefehlt und sie sich erst mit den Reformbewegungen Michail Gorbatschows getraut habe, offen gegen den „real existierenden Sozialismus“ zu protestieren. Einmal mehr zeigte sich die Frage über Verbleib oder Verlassen der DDR als entscheidende – sowohl für Christa Wolf selbst als auch für die Menschen in der Bundesrepublik. Die Schriftstellerin beantwortete die Frage für sich, indem sie blieb. Auch Ahrends betont in seinem Artikel, Wolfs Worte hätten im Jahr 1988 nur deshalb so viel Gewicht haben können, da sie als angesehene Persönlichkeit und nicht als Akteurin von außen agierte. Die von ihr im März 1988 an den Schriftstellerverband gerichteten Worte sind von solcher Klarheit und Schärfe, dass sie noch heute erkennen lassen, wie sehr ihr der Dialog zwischen Ost und West, aber auch zwischen Staatsführung und Volk in der DDR am Herzen lagen.

Dass der geforderte Dialog nicht nur eine leere Worthülse bleiben sollte, zeigen auch Christa Wolfs Bemühungen zu Beginn des Jahres 1988. Zusammen mit dem bedeutenden westdeutschen Rhetoriker Walter Jens und dessen Frau Inge planten Christa und Gerhard Wolf, in einer sogenannten „Friedensbibliothek“ ausgewählte pazifistische Texte von der Aufklärung bis zur Neuzeit herauszugeben.[38] Sie wollten die Verwirklichung einer literarischen Verbindung von West und Ost umsetzen. Die Ehepaare verband eine langjährige Freundschaft, die vor allem auf die Friedensbemühungen von Inge Jens in den 1960er Jahren zurückzuführen ist.[39] Das Besondere an der Buchreihe sollte vor allem jener Teil sein, der sich mit der Friendensbewegung im Nachkriegsdeutschland beschäftigt – nicht getrennt etwa für Bundesrepublik und DDR, sondern die Gemeinsamkeiten beider Staaten akzentuierend. Dabei kann man sich fast sicher sein, dass sich darin auch Texte von Siegfried Lenz gefunden hätten. Warum aus der „Friedensbibliothek“ am Ende nichts geworden ist, bringt der Wolf-Biograf Jörg Magenau lakonisch auf den Punkt: „Die Geschichte ging darüber hinweg.“[40]

Also sprach Zarathustra oder wie Marcel Reich-Ranicki das Buch ins Fernsehen brachte

Nun hat Marcel Reich-Ranicki schon an einigen Stellen bewiesen, dass er es verstand, sich in die großen Diskussionen der Zeit einzubringen. Er war die unumstrittene Autorität auf dem Gebiet der Literatur und spielte diese Trumpfkarte immer wieder gekonnt aus. Was aber machte er im Jahr 1988, außer Christa Wolf zu kritisieren und sich mit Siegfried Lenz über den Friedenspreis zu freuen?

Was am 25. März 1988 im ZDF auf Sendung ging, sollte sich über die kommenden 13 Jahre zur Literatur-Instanz des deutschen Fernsehens entwickeln. In keinem anderen Format zuvor wurde so kontrovers und intensiv über Literatur diskutiert wie im Literarischen Quartett, das insgesamt 77 Mal ausgestrahlt wurde. Das Format ist schnell erklärt: In 75 Minuten wird über die neusten Bücher und über Literatur im Allgemeinen diskutiert und gestritten. Dabei kommt jeder der vier anwesenden Kritiker zu Wort – was davon indes zumeist im Gedächtnis blieb, waren die Aussagen Reich-Ranickis. Dies war auch bewusst so vom ZDF intendiert, hatte dieser doch zuvor die Auflagen für die Sendung quasi diktiert. Keiner hatte Zweifel daran, dass Reich-Ranicki die „Erste Geige“ in der Runde spielen würde.[41] Den anderen Kritikern, Sigrid Löffler, Hellmuth Karasek und Jürgen Busche, kamen im wahrsten Sinne des Wortes nur Nebenrollen zu. Obwohl es keinen expliziten Moderator der Sendung gab, war Reich-Ranicki derjenige, der das Wort erteilte und es auch wieder entzog. Der langjährige Erfolg der Sendung mag wohl an den Personen, wenn nicht gar allein an Reich-Ranicki gelegen haben – so jedenfalls der prophetische Tenor der Medien schon kurz nach dem Anlaufen des Abendprogramms. Der Feuilleton-Chef der Zeit, Ulrich Greiner, erkannte bereits nach der ersten Sendung, dass das Format vor allem von den Personen, besonders aber von Marcel Reich-Ranicki als Hauptfigur lebe. Bei dem Widerstreit der vier Solisten, kam er allerdings zu dem Schluss, komme die Literatur selbst zu kurz.[42]

Es bleibt die Frage, wie es nun tatsächlich um die Literatur selbst, in unserem Falle vor allem um die bundesrepublikanische, stand. Marcel Reich-Ranicki orientierte sich zur Beantwortung dieser Frage an den Verkaufszahlen, den deutschen Publikationen im Frühjahr 1988 und an der steigenden Begeisterung für ausländische Autoren. Sind aber, aus historischer Perspektive, die tatsächlichen Verkaufszahlen als allein gültige Gradmesser für die Qualität der deutschen Literatur anzusehen? Lassen diese wirklich einen Rückschluss auf inhaltliche Fragen und Themen der westdeutschen Literatur zu?

Das Literarische Quartett beschäftigte sich im Jahr 1988 mit einigen bundesrepublikanischen Autoren und kam dabei zu ganz unterschiedlichen Schlüssen: Der neue Gedichtband Ulla Hahns beispielsweise wurde von Marcel Reich-Ranicki gewürdigt – er bezeichnete sie als eine der stärksten Lyrikerinnen der damaligen Zeit. Sigrid Löffler hingegen warf ihr vor, sich am lyrischen Kanon Goethes und Schillers wie an einem Selbstbedienungsladen zu bedienen.[43] Ein Buch über Kalkutta von Günter Grass wurde hingegen einstimmig als schwaches Buch abgetan; es reiche nicht an den Maßstab heran, den er mit seinen bedeutenderen Werken gesetzt habe, und an dem er sich auch messen lassen müsse. Auch Martin Walser wurde lediglich für das gelobt, was er ohnehin schon gekonnt habe: erzählen.[44] Außen vor blieb erstaunlicherweise der Friedenspreisträger Siegfried Lenz. Ist aber eine solche Ehrung nicht gerade Ausdruck einer starken Literatur, die Wandel, Versöhnung und das große literarische Thema Frieden fordert?

Dem späteren Friedenspreisträger Martin Walser (1998) gelang es mit einer Aufsehen erregenden Rede wenigstens einmal mit Marcel Reich-Ranicki einer Meinung zu sein. Im Rahmen der Vortragsreihe Reden über das eigene Land: Deutschland erwähnte Walser im November 1988, dass er sich mit der deutschen Teilung nicht abfinden könne.[45] Zeigt diese Tatsache nicht umso mehr, dass die Zeichen der Zeit auf Annäherung, nicht Abgrenzung standen und Öffnung die Devise war, nicht das Verschließen vor dem nahen Nachbarn?

 

[1]     Siegfried Lenz, Das serbische Mädchen, Hoffmann und Campe, siehe „Jahres-Bestseller 1988“, in: Der Spiegel, Nr. 1, vom 2. Januar 1989, S. 142f.
[2]     Hier und im Folgenden „Erfüllter Traum“, in: Der Spiegel, Nr. 40, vom 3. Oktober 1988, S. 239–246, hier S. 242 und 246.
[3]     Christa Wolfs Bücher wurden fast ausnahmslos bei Luchterhand in München verlegt.
[4]     Marcel Reich-Ranicki, Ohne Rabatt. Über Literatur aus der DDR. Stuttgart 1991, S. 12f.
[5]     „Buchausstellung der DDR in Saarbrücken eröffnet“, in: Neues Deutschland, Nr. 288, vom 6. Dezember 1988, S. 7.
[6]     „Überblick über ein literarisches Schaffen“, in: Berliner Zeitung, Nr. 249, vom 21. Oktober 1988, S. 1.
[7]     „Buchausstellung der BRD in der Berliner Stadtbibliothek“, in: Neues Deutschland, Nr. 249, vom 21. Oktober 1988, S. 2.
[8]    Hier und im Folgenden Patricia F. Zeckert, „DDR-Leser im Schlaraffenland. Westliteratur, Buchmesse und alternative Medienkultur“, in: Stefan Zahlmann (Hg.), Wie im Westen, nur anders. Medien in der DDR, Berlin 2010, S. 96-116, hier S. 116.
[9]     Buchausstellung der BRD in der Berliner Stadtbibliothek (wie Anm. 8), S. 2.
[10] Zu den Literaturpreisen der Nachkriegsbundesrepublik siehe Wolfgang Emmerich, „Konsekration und Kanonisierung. Tendenzen der Vergabe von Literaturpreisen in der Bundesrepublik 1950 bis 1989“, in: David Bathrick (Hg.), Literatur inter- und transmedial. Amsterdam [u.a.] 2012, S. 113–132.
[11]    Erich Maletzke, Siegfried Lenz. Eine biographische Annäherung, Springe 2006, S. 152.
[12]    Börsenverein des Deutschen Buchhandels, Siegfried Lenz. Ansprachen aus Anlass der Verleihung, Frankfurt am Main 1988, S. 7.
[13]    Siegfried Lenz, Deutschstunde, Gütersloh 1971.
[14]    Börsenverein des Deutschen Buchhandels, Siegfried Lenz (wie Anm. 13), S. 10.
[15]    Yohanan Meroz war in den Jahren von 1974 bis 1981 israelischen Botschafter in der Bundesrepublik.
[16]    Vgl. Börsenverein, a.a.O., S. 31.
[17]    Martin Ahrends, „Lenz und die Freiheit“, in: Die Zeit, Nr. 41, vom 7. Oktober 1988, S. 63.
[18]   Siegfried Lenz, Heimatmuseum, Hamburg 1978.
[19]    Ahrends, Lenz und die Freiheit (wie Anm. 18), S. 63.
[20]    Niko von Festenberg, „Trogschnauziger Posauk“, in: Der Spiegel, Nr. 12, vom 21. März 1988, S. 223-228.
[21]    Marcel Reich-Ranicki, „Unsere Welt in Geschichten. Zum sechzigsten Geburtstag von Siegfried Lenz“, in: Corinna Schlicht (Hg.), Anmerkungen zu Siegfried Lenz, Oberhausen 1998, S. 35-43, hier S. 41.
[22]    Christa Wolf, Leibhaftig, München 2002.
[23]    Zitiert nach Andrea Lax-Küten, „Die Hände weggeschlagen. Krankheit als Ausdruck unbewältigter Konflikte und der Spaltung des Ichs im Werk von Christa Wolf“, in: mauerschau Jg. 2 (2009), H. 2, S. 60–80, hier S. 61.
[24]   Therese Hörnigk, „Nachdenken über Christa Wolf“, in: Text und Kritik, H. 46, 5. erw. Aufl. (2012), S. 27–37, hier S. 37.
[25]    In seinem Artikel „Macht Verfolgung kreativ?“ bezichtigte Reich-Ranicki Wolf, nie ernsthaft gegen das SED-Regime gekämpft zu haben. Nachdem die Mauer gefallen war, weitete sich dieser Streit aus. Es wurde nicht nur die Rolle Christa Wolfs als Kritikerin diskutiert, sondern auch, welche Rolle DDR-Literatur im Allgemeinen spielen durfte. Dabei wurde die DDR-Literatur von vielen Kritikern als wertlos erachtet, da sie in der Bundesrepublik nur unter dem Deckmantel der Systemkritik betrachtet, nicht aber auf ihren literarischen Gehalt hin geprüft wurde. Marcel Reich Ranicki, „Macht Verfolgung kreativ? Polemische Anmerkungen aus aktuellem Anlaß: Christa Wolf und Thomas Brasch“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 263, vom 12. November 1987, S. 25.
[26]    Reich-Ranicki, Ohne Rabatt (wie Anm. 5), S. 9.
[27]   Werner Mittenzwei, Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945–2000, Leipzig 2001, S. 482.
[28]   Theo Buck, „Deutsche Literatur, deutsche Literaturen? Zur Frage der Einheit der deutschen Literatur seit 1945“, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Bestandsaufnahme Gegenwartsliteratur. Bundesrepublik Deutschland, Deutsche
Demokratische Republik, Österreich, Schweiz (= Sonderband Text und Kritik). München 1988, S. 183–192, hier S. 191.
[29]   Bernd Wittek, Der Literaturstreit im sich vereinigenden Deutschland. Eine Analyse des Streits um Christa Wolf und die deutsch-deutsche Gegenwartsliteratur in Zeitungen und Zeitschriften, Marburg 1997, S. 141.
[30]   Siehe hierzu Hermann Vinke (Hg.), Akteneinsicht Christa Wolf. Zerrspiegel und Dialog. Eine Dokumentation, Hamburg 1993.
[31]    Nachdem sich der Dichter und Liedermacher Wolf Biermann in mehreren Konzerten in der Bundesrepublik 1976 kritisch über die DDR geäußert hatte, wurde er ausgebürgert und ging nach Hamburg zurück. Die Ausbürgerung ließ sowohl in West als auch in Ost eine Vielzahl von Kritikern auf den Plan treten, die gegen diesen Akt der Repression protestierten. Die etwa 100 DDR-Intellektuellen machten sich mit ihrer Kritik selbst zu Verfolgten des Ministeriums für Staatssicherheit. Einige Schriftsteller, wie beispielsweise Stefan Heym, wurden daraufhin aus dem Schrifstellerverband ausgeschlossen und konnten nur noch in der Bundesrepublik publizieren. Siehe hierzu Henrik Bispinck, „Kulturelite im Blick der Stasi. Die Nachwehen der Biermann-Ausbürgerung im Spiegel der ZAIG-Berichte des Jahres 1977“, in: Deutschland Archiv, Jg. 45 (2012), H. 4, S. 616–625.
[32]   Helmut Frielinghaus, „Der Fall Christa Wolf. Stationen“, in: Holger Helbig (Hg.), Weiter schreiben. Zur DDR-Literatur nach dem Ende der DDR, Berlin 2007, S. 197–206, hier S. 201.
[33]    Wolfgang Thierse, „Fremd zieh ich wieder aus“, in: der Freitag, 23. Juni 2010, S. 13.
[34]   Frielinghaus, Der Fall Christa Wolf (wie Anm. 32), S. 197.
[35]    Christa Wolf, „Rede auf der Bezirksversammlung der Berliner Schriftsteller im März 1988“, in: Dies. (Hg.), Ansprachen, Darmstadt 1988, S. 87–94.
[36]    Martin Ahrends, „Neues Denken DDR. Zu Christa Wolfs jüngsten Reden und Ansprachen“, in: Die Zeit, Nr. 50, vom 9. Dezember 1988, S. 93.
[37]    Reich-Ranicki, Macht Verfolgung kreativ? (wie Anm. 25).
[38]    Hier und im Folgenden Jörg Magenau, Christa Wolf. Eine Biographie, München 2002, S. 364.
[39]   Die nationalsozialistische Vergangenheit von Walter Jens kam erst 2003 ans Tageslicht. Siehe hierzu Tilman Jens, Demenz. Abschied von meinem Vater, Gütersloh 2009.
[40]    Ebd.
[41]    Ulrich Greiner, „Punkt Punkt Komma Sieg“, in: Die Zeit, Nr. 14, vom 1. April 1988, S. 60.
[42]    Ebd.
[43]    Der Gedichtband „Unerhöhrte Nähe“ wurde in der ersten Sendung am 25. März besprochen.
[44]    Sowohl Günter Grass’ Buch „Zunge zeigen“ als auch Walsers „Jagd“ wurden am 30. September 1988 besprochen.
[45]   Joanna Jablkowska, „Martin Walsers Heimats- und Geschichtsgefühle“, in: Gesa von Essen (Hg.), Unerledigte Geschichten. Der literarische Umgang mit Nationalität und Internationalität, Göttingen 2000, S. 228–260, hier S. 229.