von Ekaterina Emeliantseva Koller

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17. März 2018

Die Figur eines indifferenten, angepassten Sowjetbürgers, der in der Öffentlichkeit eine Maske trägt und sein «wahres» Gesicht nur im Privaten zeigt, der sogenannte «Homo Sovieticus», gehörte lange Zeit dominant in die Beschreibung der spätsowjetischen gesellschaftlichen Textur.[1] Geschuldet war diese Sicht einer generellen dichotomischen Konzeptualisierung der sowjetischen Gesellschaft, bei der „das Volk“ und das „Regime“ in Opposition gedacht wurden. Zwar ist diese Dichotomie ein Relikt der Cold War Studies aus den 1970er Jahren, sie wirkt dennoch weiterhin fort, wenn mit «Freiräumen» argumentiert wird. Inzwischen ist die Ausrichtung der Forschung zur späten Sowjetunion eine andere: In den neueren Arbeiten werden andere Modelle und Herangehensweisen vorgeschlagen, die der Komplexität spätsowjetischer Befindlichkeiten und Praktiken eher Rechnung tragen.[2] Sie sind allerdings ausschließlich auf die urbane Bevölkerung der Sowjetunion zugeschnitten. Die Lebenswelten und Lebensweisen außerhalb der Städte bleiben dabei unberücksichtigt. «The last Soviet generation», wie sie Alexei Yurchak und andere bislang beschrieben, ist die urbane Jugend, die Ideologie und staatliche Strukturen nutzt, um ihren eigenen Interessen nachzugehen. Die Lebenswelten der spätsowjetischen Jugend füllen neue Konsumangebote, die diese Jugendlichen vor allem mit ihrer eigenen Vision des Westens («Imaginary West», Yurchak) verbinden. Ideologische Angebote erreichen sie nicht mehr. Die Situation außerhalb der Städte, mit viel geringerem Angebot an Unterhaltung und Konsum, bleibt eine Leerstelle. 

Die Leerstelle Dorf: Spätsowjetische ländliche Räume im Schatten der Stadt

Die sowjetische Moderne gerierte sich als urbane Utopie, die einem technizistischen Optimismus verfallen war. Diesen Thesen folgte auch die Wissenschaft: Nach den Turbulenzen der Kollektivierung und Chruščevscher Experimente galt das Dörfliche als Auslaufmodell. Beschrieben wurde dieser Niedergang als «Auswaschung» und «Entbauerung des Dorfes» (Carsten Goehrke/Liubov Denisova).[3]

Nach Jahrzehnten der Vernachlässigung des Agrarsektors setzte Chruščev auf die Modernisierung der Landwirtschaft und des Lebens auf dem Land. Zusammenlegungen von Kolchosen zu größeren staatlichen Landwirtschaftsbetrieben sollten nicht nur die Arbeitsweise effizienter gestalten, sondern auch die Unterschiede zwischen Stadt und Land in der Lebensweise der Landbevölkerung überwinden. Nach dem Scheitern der utopischen Idee Chruščev’scher „Agrostädte“ strebte Brežnev bescheidenere Verbesserungen an, etwa bei der technischen Ausstattung der neuen Großbetriebe. Die bedeutenden staatlichen Investitionen im Agrarsektor führten in den frühen 70er Jahren zu beeindruckenden Zuwachsraten, dann begann sich die Situation auf dem Land aber erneut zu verschlechtern, begleitet vom anhaltenden Abwandern junger Leute in die Städte.

Doch zugleich wurden städtische Arbeitskräfte für die Unterstützung der Landwirtschaft mobilisiert, etwa bei der Ernte, zudem wurden StadtbewohnerInnen zur Unterhaltung individueller Nebenwirtschaften angehalten. Die wachsende Vergabe von Grundstücken an Städter für Sommerhäuser, den sogenannten Datschen, förderte nicht nur die Ruralisierung der städtischen Lebensstile, sondern stellte zugleich eine Gegenbewegung zur Flucht der ländlichen Bevölkerung in die Städte dar. Die Verschränkung dieser Prozesse trug zur Entstehung einer Vielfalt spezifischer Siedlungsformen mit rural-urbanen Lebensstilen und Praktiken in der Sowjetunion bei.

 

Das Dorf als Blackbox: Spätsowjetsche Fartsovka zwischen Stadt und Land

Die bei Alexei Yurchak beschriebenen Mechanismen des Schwarzmarkthandels vor allem unter den jungen Leuten, die sogenannte Fartsovka, erstreckten sich auch auf den ländlichen Raum, nur wurden sie bisher nicht beschrieben.

In den grenznahen Regionen im Nordwesten erhielten viele Forstbetriebe für direkte Lieferungen nach Skandinavien westliche Konsumprodukte wie etwa die beliebten Daunenjacken oder japanische Elektronik. Attraktiv waren diese Waren vor allem für junge Städter. Youngsters aus Archangelsk, Severodvinsk oder Petrozavodsk organisierten regelrechte Einkaufstouren durch die Dörfer und Siedlungen dieser Regionen. Hinzu kommt, dass die westliche Defizitware nur gegen Naturalabgaben – Waldbeeren oder Pilze - im Dorfladen erworben werden konnte. So mussten diese Fartsovshiki entweder selbst in den Wald gehen oder die lokale Bevölkerung dafür bezahlen. Die Geschichte der Konsumpraktiken außerhalb der Städte erscheint damit als ein viel komplexeres Gewebe, als bisher angenommen. Deutlich wird dabei, dass klare Dichotomien städtisch vs. ländlich Verkürzungen sind. Hilfreich sind hingegen Konzeptualisierungen, die das Kontingente und Situative betonen: „situative Ruralität“ und „situative Urbanität“ der Lebensstile, Selbstentwürfe und Praktiken. Wie sich dabei die Befindlichkeiten und Selbstentwürfe der dörflichen Bevölkerung gestalten, welche Bedeutung für die ländliche Jugend der „Imaginary West“ der Städter spielte, muss erst noch erforscht werden. 

Dabei sollte bei der Analyse der „Entbauerung“ des Dorfes das Drama des sowjetischen Experiments gegen den gesamteuropäischen Kontext dieser Entwicklung abgewogen werden, um auch über die Kontinuitäten spätsowjetischer Denk- und Handlungsmodi in der post-sowjetischen Zeit nachzudenken. 

 

[1] Boris Dubin: Gesellschaft der Angepassten, in: Osteuropa 12/2007, S. 65-78.
[2] Alexei Yurchak: Everything was forever, until it was no more. The last Soviet generation, Princeton 2005.
[3] Carsten Goehrke: Russischer Alltag, Bd. 3, Zürich 2005, S. 307-330; Liubov Denisova: Rural Russia. Economic, social and moral crisis, Commack NY 1995.