Hg. von Annette Schuhmann

  |  

1. April 2010

Die Gründe für die exzessive Gewalt innerhalb des Jugoslawienkrieges, das Ausmaß und die Formen der Gräueltaten wurden in der Tagespresse der neunziger Jahre kaum analysiert. Hilflos und paralysiert zunächst, später verfangen im weltpolitischen Kompromisshandeln standen die westeuropäischen Eliten dem Krieg gegenüber. Zeithistorische Analysen des Geschehens gab es indessen von Seiten der Osteuropa-Historiker/innen recht früh. Erinnert sei hier nur an die Arbeiten Holm Sundhaussens oder Marie-Janine Calic.
In ihren Publikationen zu den Ursachen und Konfliktstrukturen des Jugoslawien-Krieges hat vor allem Marie-Janine Calic betont, dass die „ethnischen Säuberungen“ im Verlauf des Bosnienkrieges im Kontext der Geschichte Jugoslawiens seit dem 19. Jahrhundert erklärbar sind. Der Staat Jugoslawien ging im 19. Jahrhundert aus einer Vielzahl rechtlich, kulturell und sozialökonomisch extrem disparaten Regionen hervor. Die Regionen, die den ersten jugoslawischen Staat bildeten unterschieden sich jedoch nicht nur hinsichtlich ihrer politischen, wirtschaftlichen und verwaltungsstrukturellen Verfassung – unklar war auch von Anbeginn nach welchem Proporz sich die Völker des neuen Staatengebildes die Macht untereinander teilen sollten. Mit der Einführung einer zentralistischen Verfassung 1921 sicherten sich die serbischen Eliten eine Vorrangstellung innerhalb des Staates. Dies ermöglichte ihnen, so Holm Sundhaussen eine „Dauermajorisierung“ der anderen Nationalitäten. Die zentralisierte politische Struktur des Landes sollte Streitpunkt bleiben bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Erst der sich verschärfende Druck regionaler und nationaler Selbstständigkeitsbewegungen der Völker Jugoslawiens führte dazu, dass Partei und Staat eine Föderalisierung zuließen. In der Folge entwickelten sich regionale Machtzentren, die die Voraussetzung dafür boten, dass sich die Republiken wirtschaftlich und politisch immer weiter auseinander entwickelten und schließlich 1989/90 den Staatsverband sprengten.
Alle Völker Jugoslawien machten im Verlauf ihrer Geschichte in je unterschiedlicher Weise und Abfolge Erfahrungen als marginalisierte, deklassierte oder unterdrückte Ethnien im königlichen Jugoslawien oder als Opfer rassistischer Verfolgung und Vernichtung nach dem Überfall der Deutschen 1941. Vor allem diese Erfahrungen wurden in Vorbereitung und Verlaufe des Jugoslawienkrieges zu Feindbildern ausgebaut, propagandistisch verstärkt und ausgenutzt. Diese Feindbilder waren schließlich Überzeichnungen seit langem gepflegter Stereotypen. Die Vorstellung von der kulturellen und moralischen Überlegenheit des eigenen Volkes war unter allen drei bosnischen Kriegsparteien verbreitet: So pflegten etwa die Serben den Mythos vom „auserwählten Volk“, suggerierte die von Alija Izetbegović verfasste „Islamische Deklaration“ die Überlegenheit der islamischen Kultur gegenüber säkularen Ordnungsprinzipien, während die Kroaten sich selbst als die eigentlichen Repräsentanten mitteleuropäischer Kultur und Zivilisation stilisierten. Zum Überlegenheitsgestus kommt die Erzählung von Benachteilungen, Unterdrückung und Genozidbedrohung der einzelnen Gruppen – am stärksten propagiert jedoch von den Serben.
Radovan Karadžič übertrug während seiner Amtszeit als Präsident der Republik Srpska das Feindbild der Osmanen auf die muslimischen Bosniaken und war neben Slobodan Milošević einer der schärfsten Kriegstreiber der neunziger Jahre. Er wird beschuldigt die sogenannten „ethnischen Säuberungen“ im Verlauf des Bosnienkrieges 1992 bis 1995 geplant und befohlen zu haben.
Im Verlauf des Bosnienkrieges wurden zwei Millionen Menschen vertrieben und ca. 250.000 getötet.

Marie-Janine Calic, Der Krieg in Bosnien-Hercegovina. Ursachen, Konfliktstrukturen, internationale Lösungsversuche, Frankfurt/Main 1995

John Laughland, A History of Political Trials. From Charles I to Saddam Hussein, Oxford 2008 (Rezension)
Marko Attila Hoare, Genocide and Resistance in Hitler's Bosnia. The Partisans and the Chetniks, 1941-1943, London 2006 (Rezension)
Mathias Beer (Hg.), Auf dem Weg zum ethnisch reinen Nationalstaat? Europa in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 2007² (Rezension)
Tanja Popović, Die Mythologisierung des Alltags. Kollektive Erinnerungen, Geschichtsbilder und Vergangenheitskultur in Serbien und Montenegro seit Mitte der 1980er Jahre (= Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas, Bd. 5, hg. v. Andreas Guski und Heiko Haumann). Zürich 2003 (Rezension)
Film: Serbian Epics (1993) by Pawel Pawlowski
Review/Film; At Festival, a Portrait of Serbs
by Stephen Holden, New York Times May 7, 1993

"‘Women don’t wage wars’, Radovan Karadzic’s mother says when her son comes to visit her and tells her about the military situation in Bosnia. A little later, SERBIAN EPICS shows a meeting of the Bosnian-Serbian war cabinet, in which the now notorious Ratko Mladic and Biljana Plavcic are seated. Initially, the tone of this portrait of Karadzic - psychiatrist, poet, businessman and leader of the Bosnian Serbs - is light-hearted, but gradually a shady world of power and delusion emerges. Without comment, with an almost anthropological eye, director Pawel Pawlikowski observes the besiegers of Sarajevo. The Serbian cultural heritage - centuries-old songs and poems - is used to justify the new ethnic struggle, and Karadzic loves to recite poetry."

Film: Bruderkrieg - der Kampf um Titos Erbe
Diese Phoenix-Ausstrahlung ist inhaltlich in großen Teilen identisch mit der Reihe “Bruderkrieg - der Kampf um Titos Erbe”. Allerdings sind die Bild- und Tonqualität wesentlich besser als bei dem VHS-Rip von Bruderkrieg. Beschreibung der Bruderkrieg-Reihe: Die Dokumentationsreihe um den Zerfall Jugoslawiens wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Sie wurde 1995-1996 im Auftrag von ORF und BBC produziert und beinhaltet eine besondere Art der Kriegsberichterstattung. In den sechs Filmen kommen nicht nur alle Staatsoberhäupter der verfeindeten Republiken Ex-Jugoslawiens zu Wort, sondern auch rivalisierende Generäle und Freischärlerführer, von denen mehrere der ethnischen Säuberung und des Völkermordes bezichtigt werden. Sie haben gemeinsam an der Fernsehproduktion teilgenommen, schildern ihre Version der entscheidensten Momente der Krise und erzählen, was sie getan haben und weshalb. “Bruderkrieg - Der Kampf um Titos Erbe” wurde während zweier Jahre in allen sechs jugoslawischen Republiken sowie in den Territorien der aufständischen Serben in Kroatien und Bosnien gedreht. Die Serie verwendet zuvor nie gezeigtes Filmmaterial der jugoslawischen militärischen Spionageabwehr.

Film: Sturm (Regie Hans-Christian Schmid, Deutschland 2009)