von Katarzyna Chimiak

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1. Juli 2014

Zu einer Generation gehörend, die in den 1990er Jahren zur Schule ging und erwachsen wurde, beginne ich mit einer persönlichen Überlegung: Ich erinnere mich weder an die Zeit der Polnischen Volksrepublik noch an die antideutsche, genauer an die gegen Westdeutschland gerichtete Propaganda, die vor 1990 den offiziellen Diskurs[1] dominierte. Dafür erinnere ich mich daran, wie die Bundesrepublik in den Mainstream-Medien Polens Ende der Neunziger und an der Schwelle zum 21. Jahrhundert dargestellt wurde: Als Land des Erfolges, als ein Land, dem Polen in vielerlei Hinsicht folgen sollte und schließlich: als Anwalt von Polens Bemühungen um einen EU-Beitritt.

Unabhängig davon existierte das Thema des deutsch-polnischen Konflikts aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges in meinem Bewusstsein „schon immer“.

Die Gründe dafür sind naheliegend: Ich bin in Warschau geboren und aufgewachsen. Wenn ich durch die Straßen dieser Stadt gehe, laufe ich an den Inschriften der steinernen Tafeln vorbei, die an die Opfer der Straßenexekutionen in der Zeit der nationalsozialistischen Okkupation erinnern, und die ich – obwohl ich keineswegs Lust dazu habe – unwillkürlich lese. Von diesen Tafeln gibt es in der ganzen Stadt ungefähr 200. Die Tafel, die sich meinem Haus am nächsten befindet, teilt mit, dass die Nationalsozialisten an diesem Ort 27 Zivilisten erschossen haben. Es gibt auch Tafeln, auf denen drei-, vier- oder fünfstellige Zahlen zu sehen sind (ulica Górczewska: 12 000 erschossene Zivilisten[2] im Verlauf einer einzigen Woche, unter ihnen Patienten und Personal des Krankenhauses in der ulica Płocka). Die Daten dieser Verbrechen passen in der Regel in den Zeitraum August bis September 1944, die Zeit des Warschauer Aufstandes.

Außerdem haben meine Großeltern, die zu den Jahrgängen 1918, 1921, 1924 und 1927 gehören, sehr oft vom Krieg erzählt. Jeder von ihnen teilte sein Leben in ein „davor“, ein „während“ und ein „danach“, obwohl sie Familien angehörten, die vom Krieg einigermaßen verschont blieben – mit Ausnahme des Vaters einer Cousine einer meiner Großmütter: Er gehörte zu den Opfern der sogenannten „Intelligenz-Aktion“, die direkt nach der Besetzung Polens durchgeführt wurde und die Ermordung der polnischen Eliten zum Ziel hatte, und war Gefangener im Konzentrationslager Mauthausen. Sein Bruder wurde vom NKWD[3] in Katyń erschossen. Außer diesen beiden Männern wurde keiner meiner nahen Verwandten umgebracht oder starb an Hunger oder kriegsbedingten Krankheiten. Daher war nicht der Verlust von Familienmitgliedern das Hauptthema in den Erzählungen meiner Großeltern, vielmehr war es der Verlust des Zuhauses als eine Folge des von den Deutschen umgesetzten Generalsiedlungsplans, der Zerstörung Warschaus sowie der quasi-freiwilligen Entscheidung der Großeltern, die „Heimat“ in den sogenannten Kresy-Gebieten zu verlassen, um weiterhin in Polen leben zu können und nicht in der UdSSR. Im Prinzip mussten alle meine Verwandten 1945 ein neues Leben beginnen. Ihr einziges Kapital waren Bildung und ein soziales Netzwerk aus Familie, Freunden und Bekannten. So ergab es sich, dass die aus Lemberg stammende Familie der Großmutter väterlicherseits einen günstigen Start hatte. Selbst wenn diese Geschichte aus der Perspektive meiner Familie in ihrer Aussage positiv scheinen mag, gibt sie den Blick frei auf die Situation, in der sich Polen nach dem Zweiten Weltkrieg befand. Kurz nachdem die Deutschen im Januar 1945 Krakau verließen, bekam mein Urgroßvater von den neuen Eliten der Stadt eine große Wohnung, in der problemlos seine gesamte „Weiberschar“, das heißt Ehefrau, Schwiegermutter, Töchter sowie Schwägerinnen Platz fand. Nein, er war kein kommunistischer Würdenträger. Er war ein parteiloser Ingenieur. Die Wohnung stellte allerdings auch die einzige Zulage zu der Dozentenstelle an der Krakauer Akademie für Bergbau und Hüttenwesen dar. Bis 1940 lebte dort eine jüdische Familie, die mit großer Wahrscheinlichkeit in Auschwitz vergast wurde, danach wohnten Deutsche dort.

Nach dem Krieg gab es in Polen einen großen Mangel an Ingenieuren. Deshalb wurden Ingenieure, die vor September 1939 in der Industrie gearbeitet hatten, gelegentlich ermutigt, als außerordentliche Lehrstuhlinhaber in das Hochschulwesen zu wechseln. So auch mein Urgroßvater, der in der Zwischenkriegszeit Angestellter des Unternehmens „Hipolit Cegielski“ in Posen gewesen war und Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre nicht nur regelmäßig an der Akademie für Bergbau und Hüttenwesen, sondern auch an zwei weiteren Technischen Hochschulen unterrichtet. Doch nicht nur in der Berufsgruppe der Ingenieure hat es während des Krieges unglaubliche Verluste gegeben. Man schätzt, dass zwischen 1939 und 1945 infolge der deutschen Besatzung und des Holocaust etwa 20 % der polnischen Lehrer, 21,5 % der Richter und Staatsanwälte, 25 % der Architekten, 30 % der wissenschaftlichen Angestellten, 39 % der Ärzte und 57 % der Anwälte ums Leben kamen.[4]

Der Zweite Weltkrieg prägt die Erinnerungen der Polen, auch meiner Generation. Grundlegend für die Erinnerung an jene Zeit ist der Gedanke, dass Polen als Staat und die polnische Bevölkerung zu den am schwersten betroffenen Opfern dieses Krieges gehören.

Vor diesem Hintergrund ist es nur allzu verständlich, dass die Rezeption des Films „Unsere Mütter, unsere Väter“ in Polen generell sehr negativ war. Deutlich wird hier die Diskrepanz zwischen dem Selbstbild der Polen als Opfer und der Darstellung im Film, der die Rolle der Polen als Täter sehr stark akzentuiert, vor allem hinsichtlich der Judenverfolgung. Das heißt nicht, dass dieses dunkle Kapitel der neuesten polnischen Geschichte nicht thematisiert werden sollte. Problematisch ist allein, wie der Film damit umgeht. Die Produzenten des Dreiteilers haben allem Anschein nach nur wenig Kenntnis der Geschichte und verwischen dadurch die Grenzen zwischen den Opfern und den Tätern. Symptomatisch dafür ist vor allem die Darstellung der Heimatarmee (AK), der größten militärischen Widerstandsorganisation im besetzten Polen. In ihren Reihen fanden sich Repräsentanten der unterschiedlichsten weltanschaulichen Orientierungen und einige von ihnen waren an Rettungsaktionen für Juden beteiligt.  Der Film schildert sie jedoch als ein Haufen radikaler Antisemiten – so radikal, dass sie fast so barbarisch wie die SS erscheinen und unmenschlicher als die Wehrmacht.[5]

Problematisch ist zudem, dass der Holocaust als Kontext der polnisch-jüdischen Beziehungen während des Zweiten Weltkrieges fast total ausgeblendet wurde. Schließlich ist es kein Zufall, dass die Gewalt gegen Juden durch Polen erst nach der deutschen Besatzung eskalierte. Die Nationalsozialisten stärkten den polnischen Antisemitismus mit ihrer Politik der Entwürdigung der Juden und indem sie zeigten, dass man Juden wie Tiere töten kann.

Überhaupt enthält der Film viele Szenen, die suggerieren, dass die Deutschen heute generell sehr wenig davon wissen, was auf polnischem Boden in den Jahren von 1939 bis 1945 außer der Vernichtung der Juden noch geschah. Das ist nicht zuletzt deshalb irritierend, weil es als Zeichen mangelnden Respekts gegenüber Polen gedeutet werden kann.

Ich gehe davon aus, dass bei genauerer Kenntnis der Geschichte ein derart unsensibler Umgang mit den Gefühlen der Polen durch die Filmemacher kaum möglich gewesen wäre. An dieser Stelle sei nur ein Beispiel für die groben Vereinfachungen genannt: In der Mitte des drittens Teils äußert der Erzähler Folgendes: „Juli 1944. Wir sind wieder da, wo wir vor drei Jahren begonnen haben. Die Heeresgruppe Mitte ist vollkommen aufgerieben. Eine halbe Million Männer. Die Rote Armee steht an der Weichsel. Bald wird Warschau fallen (…)“ Warschau wird „fallen“? Warschau konnte nicht „fallen“, da es keine Festung war, die die Wehrmacht vor der Roten Armee verteidigte. Im August und September 1944 waren die dort stationierten deutschen Streitkräfte mit der Eindämmung des Aufstandes beschäftigt, den die Heimatarmee organisiert hatte, was mit der massenhaften Ermordung der Zivilbevölkerung einherging. Es wurden etwa 150 000 Menschen getötet, 16 000 Aufständische fielen im Kampf.

Die Mehrheit der Tafeln, von denen ich am Anfang sprach, erinnern an genau diese Ereignisse. Nach der Kapitulation der Aufständischen begannen die Deutschen, den Befehl Hitlers umzusetzen und die polnische Hauptstadt dem Erdboden gleichzumachen: Haus um Haus wurde zerstört, historische Objekte wurden gesprengt, Bibliotheken und Archive in Brand gesteckt. Die Rote Armee, die sich tatsächlich schon im Juli 1944 unweit von Warschau befand, nahm die Stadt erst am 17. Januar 1945 ein, erst nach dem Rückzug der Deutschen.[6]

Ein anderes Problem des Films ist die negative Stereotypisierung nicht nur der Polen, sondern ganz generell der Osteuropäer d. h. der Ukrainer, Russen und Weißrussen. Es fällt auf, dass fast alle osteuropäischen Charaktere des Films sehr einfache Menschen sind und dass die Szenen in Osteuropa fast ausschließlich in Dörfern, Wäldern oder auf Feldern spielen. Dagegen gehören fünf der Hauptprotagonisten, ebenso wie manch zweitrangige udeutsche Figur der großstädtischen Elite an. So führen etwa die Schützen der Wehrmacht, wenn sie nicht kämpfen, philosophische Dispute. Einer der Soldaten erklärt gar, dass er plant, Heideggers Schüler zu werden, andere lesen Bücher oder lernen Fremdsprachen. In gewissem Maße gibt diese kontrastreiche Darstellung auch historische Tatsachen wieder. Die Gesellschaftsstruktur sowohl Polens als auch der Sowjetunion vor dem Zweiten Weltkrieg wurde von Bauern dominiert. Sie machten ca. 70 % der Bevölkerung[7] aus und waren zudem bedeutend ärmer als deutsche Bauern, während die Mehrheit der Deutschen (ca. 60 %) in Städten lebte. Der besprochene Film enthält jedoch einige grobe Vereinfachungen und Fehler, wie ich es am Beispiel der Ausblendung des Themas des Warschauer Aufstandes verdeutlicht habe, was zeigt, dass sich hier nicht der Willen zum Realismus widerspiegelt, sondern eben Stereotype des „wilden Ostens“ und nicht zuletzt postkoloniale Denkmuster.

In einer Rezension in der linken Zeitschrift „Dziennik Opinii“ hieß es: «Die Darstellung des Slawentums weckt hier die Assoziation an den Roman Joseph Conrads „Herz der Finsternis“, wobei die einheimische polnische Bevölkerung die Rolle der Schwarzen einnahm. Es ist als klingen einem die Worte Otto Bismarcks in den Ohren, der auf die Frage, warum die Deutschen sich nicht in den kolonialen Wettlauf der Supermächte einfügen, geantwortet haben soll: „Mein Afrika liegt in Osteuropa”.»[8]

Zusammenfassend läßt sich sagen, dass der Film „Unsere Mütter, unsere Väter“ ein grundlegendes Problem der deutsch-polnischen Beziehungen illustriert: Polen ist noch immer für viele Deutsche ein unbekannter – und deshalb unverstandener und durch das Prisma von negativen Stereotypen betrachteter – Nachbar.

Von Warschau ausgesehen, erliegt man leicht dem Eindruck, dass sich die Beziehungen zwischen beiden Ländern in den letzten Jahren vorbildlich gestalteten. „Unsere Mütter, unsere Väter“ erinnert jedoch daran, dass es noch eine sehr asymmetrische Beziehung ist: Die Polen wissen viel mehr über die Deutschen als umgekehrt. Natürlich gibt es auch in Polen Ignoranz. Die öffentliche Diskussion über den ZDF-Mehrteiler in Polen hat mir bewusst gemacht wie gefährlich es ist, dass meine Landsleute sehr wenig über den Prozess der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ in Deutschland wissen, wie viel auf diesem Gebiet erreicht wurde und wie viele deutsche Historiker sich mit den unterschiedlichsten Aspekten der deutschen Besatzung Polens beschäftigen. Ich wundere mich sehr darüber, dass es den Machern von „Unsere Mütter, unsere Väter“ nicht in den Sinn gekommen ist, diese Historiker zu konsultieren – dann hätte der Skandal vermieden werden können.

Ohne dieses Wissen wurde die polnische Bevölkerung anfällig für die Behauptung – die von manchen rechten Journalisten und Politikern aufgestellt worden ist –, dass der Film „Unsere Mütter, unsere Väter“, der ja auch in Deutschland Kritik ausgelöst hat, beispielhaft für den deutschen Zugang zur Geschichte ist, und nicht zuletzt Beleg für eine Tendenz zur Relativierung deutscher Schuld. Die polnischen und deutschen Experten für den bilateralen Dialog haben noch viel zu tun.

 

Übersetzung: Elisa Hiemer und Maren Röger

 

[1] Seit Ende der 1970er Jahre existierte in der Volksrepublik ein inoffizieller Diskurs, das heißt ein Pressediskurs des sogenannten „Zweiten Umlaufs“ (= Untergrundverlagswesen, Anm. d. Übers.).

[2] Dies ist mit Sicherheit eine gerundete Zahl. Die Mehrheit der Opfer des Massakers, das in dieser Gegend Anfang August 1944 stattfand (es wurde auch Massaker von Wola genannt), konnte nicht identifiziert werden, viele Bewohner wurden nach dem Krieg für verschwunden gehalten.

[3] NKWD: Narodnyj komissariat wnutrennych del, Volkskommissariat für innere Angelegenheiten der UdSSR.

[4] Krystyna Kersten: Narodziny systemu władzy. Polska 1943-1948 [Die Geburtsstunde des Machtsystems. Polen 1943-1948], Warszawa 1985, S. 151; Lista strat polskich architektów w wojnie światowej 1939-1945 [Liste der Verluste an polnischen Architekten im Weltkrieg 1939-1945], in: Komunikat Stowarzyszenia Architektów Polskich [Bekanntmachung der Vereinigung Polnischer Architekten], Nr. 8-9, 1979.

[5] Die AK bestand aus ungefähr 400 000 Personen verschiedener Gesellschaftsgruppen mit sehr unterschiedlichen Ansichten. Kurz gesagt: Die AK war Polen im Kleinformat.

[6] Bernd Martin, Stanislawa Lewandowska (Hrsg.): Der Warschauer Aufstand 1944. Warschau 1999, S. 251; Dazu auch: Włodzimierz Borodziej: Der Warschauer Aufstand 1944, Frankfurt am Main 2001.

[7] Jacek Wasilewski, Społeczeństwo polskie, społeczeństwo chłopskie, „Studia Socjologiczne" 1986, nr 1, S. 45-46.

[8] Jakub Majmurek, Mity niemieckie, mity polskie, Dziennik Opinii, 21. Juni 2013 (Letzter Aufruf: 11.12.2019).