Die Gegenwart ist der Fluchtpunkt Ursula Krechels neuen Essaybands Herzasthma des Exils. Krechel, die in diesem Jahr mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde, ist Dramatikerin, Lyrikerin und Autorin. Der 2025 erschienene Band ist ein Sammelwerk aus ihren Notizen der vergangenen Jahrzehnte. Es sind Splitter einer Lektüre seit den 1970er Jahren, als sie ihre eigene kleine Emigration versuchte und in New York in der Bibliothek des Leo-Baeck-Instituts Zeugnisse von Exilierten las. Aus diesen ergibt sich ein Sog sorgsam zusammengetragener Miniaturen. In vierundzwanzig Kapiteln webt sie dabei das Große und das Kleine zusammen, knüpft Verbindungen zwischen Orten, Zeiten und Menschen. So entsteht eine Kulturgeschichte von Flucht und Exil seit der französischen Revolution bis ins 21. Jahrhundert.
Der Anlass ihres Schreibens allerdings ist unverhohlen unsere politische Gegenwart. Sie fragt sich, mit welchen Argumenten wohl die im Nationalsozialismus Flüchtenden heute „ihre Flucht in einem anderen Land hätten begründen müssen, wären die Aufnahmebedingungen, die die EU seit dem Dubliner Übereinkommen 1997 festgeschrieben hat, damals schon gültig gewesen.“[1] Und der Ort, den dieses Schreiben umkreist, bleibt Deutschland. Ihre Texte zielen darauf ab, zu erinnern, wie die Nationswerdung und das nationale Selbstverständnis Deutschlands durch Flucht, Migration und Exil geprägt wurde, ob durch die Lektüre von Goethes Erzählung Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter (1795) oder der Erinnerung an die Fluchtbewegung der rund 10.000 Deutschen nach dem Scheitern des Paulskirchenparlaments 1849 nach Amerika.
Flucht und Krankheit
Der Titel des Bandes, das Herzasthma, ist ein Begriff, den Krechel von Thomas Mann leiht: Mann verwendete ihn 1945 in seinem zunächst privaten, später veröffentlichen Brief an den Schriftsteller Walter von Molo, in dem er begründet, „[w]arum ich nicht nach Deutschland zurückgehe.“ Das Herzasthma, diese irreale Krankheit, die wie das Asthma nicht tödlich ist, aber die zum Leben notwendige Fähigkeit des Atmens einschränkt, wird zur titelgebenden Metapher. Erst, wenn die Abfolge zwischen Ein- und Ausatmen, dieser unbewusste Rhythmus des Körpers, gestört ist, wird der Mangel, das Fehlen, die Störung bewusst. Und trotzdem lässt es sich irgendwie damit leben. Erst ganz am Ende ihres Essaybandes kommt Krechel darauf zurück und zeigt, wie nicht nur Thomas Mann, sondern auch andere Emigrant*innen vom Exil als Krankheit sprechen: Die Autorin Hilde Spiel, der Schriftsteller Saša Stanišić aber auch Berthold Viertel, der das Exil als einen Zustand der Schlaflosigkeit begriff ebenso wie der Kommunist Friedrich Engels, der von der schlaflosen Nacht des Exils schrieb. Und hier sind sie nun, diese Fäden, die Krechel zu spinnen vermag zwischen verschiedenen Protagonist*innen und Zeiten und Orten: „Hat Thomas Mann von fern Friedrich Engels gehört? Ein Echo über ein Jahrhundert hinweg? Vermutlich hat er ihn nicht gelesen.“[2] Krechel gelingt es aber diese so fern scheinenden Bezüge durch ihre Lektüre zusammenzubringen, blickt darin auf die geteilte Erfahrung des Exils.
Ebenso, wie sie die Selbstzeugnisse der Exilierten aufmerksam liest, liest sie auch Gesetzestexte, Politikeraussagen, die Genfer Flüchtlingskonvention, die Website des Innenministeriums, Listen von an der europäischen Außengrenze gestorbenen Geflüchteten. Sie zeigt die Gewalt in der Sprache auf, die in bürokratischen, juristischen, politischen Begriffen wie Zustrombegrenzungsgesetz, oder Rückführungsverbesserungsgesetz zum Ausdruck kommt, die Enthumanisierung, die in der Bezeichnung Schübling für Abzuschiebende steckt. Und auch den Begriff der Remigration, der in der geschichtswissenschaftlichen Forschung gebräuchlich ist und seit dem sogenannten „Potsdamer Geheimtreffen“ im November 2023 in Potsdam unheimlichen Widerhall findet, verteidigt sie: „Remigration als ethnische Säuberung. Remigration als Deportation. Wer heute von Remigration schwafelt, zieht das Ansehen dieser Menschen, ihre Verluste, ihre Konflikte in den Dreck, will Menschen, die heute in unserem Land leben, den Boden unter den Füßen wegziehen, den Boden, auf dem sie sich eine Existenz aufgebaut haben.“[3]
Wie kehrt man aus dem Exil zurück?
Wie kehrt man eigentlich aus dem Exil zurück? Das ist auch die Frage, die mich in meiner eigenen Arbeit zu Fotoalben von jüdischen Rückkehrer*innen ins Nachkriegsdeutschland umtreibt. Interessanterweise ist Krechels literarisches Verfahren selbst albumhaft, die vierundzwanzig Kapitel Miniaturen, jedes (auch) ein Essay für sich. Mit diesen Auslotungen verschiedener Dimensionen der Fluchterfahrung setzen sich die Kapitel wie Bilder auf einer Albumseite zusammen und täuschen dabei nicht darüber hinweg, dass jedes Bild immer nur ein Fragment ist und die Albumseite gekennzeichnet bleibt durch Sprünge zwischen dem Versetzten, zwischen den einzelnen Fotografien. Es sind Teile, die kein Ganzes bilden. Krechel hält die Differenz aufrecht, „[a]ls könnte ich schreibend Kohärenz herstellen, die es nicht gibt, etwas zusammenleimen, das nicht oder nur in Bruchstücken vorhanden ist“.[4] Das Album scheint sich hier, in seiner assoziativen, unabgeschlossenen, unlinearen Charakteristik, als die passende Form auch für das Schreiben über die Erfahrungen des Exils anzubieten. Schon andere Forscher*innen haben diese Beziehung zwischen Album und Exil reflektiert.[5]
Die Geschichte der zurückgekehrten Exilierten ist eng mit der Geschichte der Demokratisierung beider postfaschistischer Gesellschaften verbunden. Wie unerwünscht die Zurückgekehrten waren, darauf hat unlängst die Historikerin Stefanie Schüler-Springorum eindrücklich hingewiesen.[6] Wie mutig sie waren und wie unterschiedlich ihre Rückkehr verlief, erzählt Krechel in ihren Darstellungen unter anderem von Hedda Zinner, Hilde Domin und Reinhard Florian. Nicht ohne Grund sind diese Figuren kaum mehr als einem Fachpublikum bekannt. Auch hier ist Krechels Band eine Bereicherung in der Vielzahl der Lektüren, die sie verbindet und der Literaturhinweise, die sie gibt.
Krechel zeigt die unterschiedlichen Erwartungen, Erfahrungen und Enttäuschungen, die mit einer Rückkehr aus dem Exil verbunden waren. Während Hilde Spiel bei ihrem ersten Besuch zurück in Wien als Teil der Besatzungsmacht in britischer Uniform die Distanz aufrechterhält, liest sie Hilde Domins Texte als eine Anstrengung Nähe (wieder) her- und die eigene Rückkehr als gelungen darzustellen. Es sind diese ambivalenten, widersprüchlichen und auch verborgenen Beziehungen zwischen Nähe und Distanz, zwischen Vertrautem, nunmehr fremd gewordenem, die sich auch in der privaten Fotografie widerspiegeln. Selten sind diese Beziehungen dabei klar und offen formuliert, häufig finden sie im Bild versteckter Ausdruck als im Wort.
Nähe und Distanz in privater Fotografie
Josef Wechsler kehrte als ein anderer zurück in seine Heimatstadt Nürnberg: Er hieß nun Joseph W. Eaton (1919-2012). Als fünfzehnjähriger floh er 1934 aus Nazi-Deutschland, zurück kehrte er im Dienste der US-Armee in einer Einheit für psychologische Kriegsführung und gab nach der Befreiung 1945 die Regensburger Post heraus.[7] Zwei Albumseiten in einem von drei Alben widmete er seiner Rückkehr nach Nürnberg im Juli 1945. In vier von fünf Fotografien auf einer Seite setzt er sich selbst vor dem Hintergrund der zerstörten Ruinenstadt in Szene. Er ist den von ihm ausgewählten Orten ganz nah, tritt selbst hinein in die ausgebombten Häuser, schaut aus den leeren Fenstern.
Doch die von ihm ausgewählten Orte zeigen die Ruinen nicht nur als Ausdruck des Triumphes über Nazi-Deutschland, sie bezeugen vielmehr die vollständige Zerstörung jüdischer Orte und somit auch jüdischen Lebens in der Stadt. Die eingeklebten, maschinengeschriebenen Beschriftungen der Fotografien halten genaue Adressen fest. Lakonisch spannen sie im Verhältnis zu den Fotografien ein Netz zwischen dem Sichtbaren und dem notwendigerweise Unsichtbaren, zwischen dem, was übriggeblieben ist und dem, was nicht mehr da ist: In der Maxfeldstrasse war die erste Wohnadresse der Familie Wechsler, bevor sie in die Fürtherstrasse umzog. In der ehemaligen Jüdischen Grundschule ging Eaton zur Schule und in der Essenweinstrasse war die orthodoxe Synagoge der Stadt, in welcher die Wechslers Gemeindemitglieder waren.[8] Seine Beziehung zum Ort kommt allein in der letzten Fotounterschrift zum Ausdruck, in der Eaton zum ersten Mal in der ersten Person Singular spricht: “Nuremberg as I did not remember it.” Die Aufnahme rückt die in Trümmern liegende Stadt in den Fokus. Auf einer Anhöhe stehend, blickt Wechsler auf ausgebombte Straßenzüge und Häuser aus der Distanz, die Hand auf dem Geländer, den Blick von der Kamera ab- und den Trümmern zugewandt, übrig, left in the midst of ruins. Nach seinem Einsatz kehrte er nicht nach Deutschland zurück, sondern promovierte an der Columbia University und wurde später Professor für Soziologie.
Die Rückkehrer*innen waren in den jungen deutschen Staaten lästig, wie Krechel betont, sie standen in Konkurrenz zu den Geflüchteten aus den Ostgebieten. „Als Helfer oder Sprachrohr der Alliierten, als Besserwisser oder als saure Moralisten waren sie ein wandelnder Vorwurf. Sollen sie dortbleiben, wohin sie gegangen sind – Deutschland im Rücken.“[9] Es ist auch hier die Sprache das Moment, das Verbindungen schafft, da insbesondere Emigrant*innen zurückkamen, deren Berufsfeld darauf fußte: Rechtsanwält*innen, Schriftsteller*innen, Akademiker*innen.
Doch das Herzasthma ist eine unheilbare Krankheit. Alle von Krechel erwähnten Zurückgekehrten blieben fremd. Sie traf, was der Forscher Ernst Grünfeld als doppelte Heimatlosigkeit bezeichnet hat. Es sind auch diese Lektüren des Exils, die widerhallen, wenn heute allzu eilfertig über die Rückkehr von syrischen Geflüchteten gesprochen wird. Diese Gegenwart ist noch offen, noch zu gestalten. Und so verstehe ich auch Krechels Essays als eine historische Tiefenbohrung in die Erfahrung von Flucht und Exil und als politisches Plädoyer, damals, heute.
[1] Ursula Krechel: Herzasthma des Exils. Klett-Cotta, Stuttgart, 2025, S. 74.
[2] Ebd., S. 161.
[3] Ebd., S. 157.
[4] Ebd., S. 51.
[5] Siehe die Beiträge von Sibylle Schönborn: „Fahrkarte, Touristeninformation, Hotelrechnung: Max Herrmann-Neißes Foto- und Collage-Alben als Archive des Exils“ (268-280) und Annegret Pelz: „Wohnung beziehen – im Album“ (213-222) in Doerte Bischoff und Joachim Schlör: Dinge des Exils. De Gruyter, Berlin/Boston, 2021.
[6] Stefanie Schüler-Springorum: Unerwünscht. Die westdeutsche Demokratie und die Verfolgten des NS-Regimes. S. Fischer, Frankfurt am Main, 2025.
[7] Siehe Informationen des United States Holocaust Memorial Museums (USHMM) zum Nachlass Joseph W. Eaton, 2009.401.1.
[8] Vgl. Wechsler family — Nuremberg archives, circa 1930s, 1990-2000, Box: 2, Folder: 59. Joseph W. Eaton Collection, AR 10028. Leo Baeck Institute.
[9] Krechel: Herzasthma, a.a.O., S. 124.
Zitation
Laura Schilling, Lektüren des Exils. Ursula Krechels Miniaturen über das Erleben von Flucht und Rückkehr, in: Zeitgeschichte-online, , URL: https://www.zeitgeschichte-online.de/lektueren-des-exils