von Christian Mentel, Achim Saupe

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1. Juni 2012

Im Herbst 2007 veranstaltete das Bundeskriminalamt (BKA) eine vielbeachtete Kolloquienreihe, in der die Frage nach der Bedeutung des Nationalsozialismus für das 1951 gegründete BKA gestellt wurde.[1] Aus diesen Veranstaltungen ging ein Forschungsauftrag an den Historiker Prof. Dr. Patrick Wagner von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hervor, seit Anfang 2012 liegt mit Schatten der Vergangenheit – Das BKA und seine Gründungsgeneration in der frühen Bundesrepublik nun das Ergebnis der dreijährigen Forschungsarbeit vor.[2]

Zeitgeschichte-online (ZOL) sprach mit dem Projektleiter Patrick Wagner und seinen Mitarbeitern Herbert Reinke, Imanuel Baumann und Andrej Stephan über ihre Studie, die gemachten Erfahrungen, ihre Erwartungen und Hinweise an andere (Auftrags-)Forschungsprojekte sowie über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Historikern und Kriminologen. Geführt von Christian Mentel und Achim Saupe, fand das Gespräch am 20. April 2012 in Halle an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg statt, die Transkription besorgte Jana Michaelis.

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ZOL: Herr Wagner, wie hat sich der Auftrag des Bundeskriminalamtes (BKA) an Sie ergeben? Gab es bereits Kontakte durch Ihre früheren Studien zur Reichskriminalpolizei?

Wagner: Ich hatte zunächst keinerlei Kontakte zum BKA, auch nicht in der Zeit, in der ich zur Geschichte zur Polizei des Nationalsozialismus geforscht hatte. Ich habe diese auch gar nicht gesucht, weil mir das BKA lebensweltlich doch eher fern und ich nicht unbedingt sehr gierig danach war, das Amt von innen zu sehen. Das lag auch ein bisschen daran, dass das BKA bis ungefähr 2007 eine eher restriktive Haltung gegenüber der Beschäftigung mit seiner eigenen Vergangenheit entwickelt hatte. Seit den siebziger Jahren hat es zwar immer wieder interne und externe Versuche gegeben, die Geschichte des BKA mit Bezug auf die NS-Vergangenheit seines frühen Personals zu schreiben, doch diese sind entweder dadurch gescheitert oder entscheidend gehemmt worden, dass sie sowohl in der Spitze als auch in den Reihen des Amtes selbst auf Abwehr gestoßen sind.

Das hat sich erst nach 2004 geändert, als der jetzige BKA-Präsident Ziercke ins Amt gekommen ist. Mit dem Argument, dass die Polizeibehörde eine hohe Verpflichtung hat, Transparenz auch gegenüber der Vergangenheit herzustellen, hat er versucht, ein solches Projekt zur Geschichte seiner Behörde in Gang zu bringen. Dazu wurden 2007 zunächst zwei öffentliche Kolloquien veranstaltet, auf denen der Stand des bestehenden Wissens gesammelt werden sollte. Diese waren sehr heterogen zusammengesetzt – es waren Forscher dabei, Vertreter früherer Verfolgter wie der Sinti und Roma und des Amtes selbst. Das Ergebnis dieser Kolloquien war, dass die Geschichte des BKA und seiner Gründungsgeneration noch in weiten Teilen unbekannt ist – was, das unterstelle ich jetzt, der Amtsleitung wohl schon vorher klar war. Nach den Kolloquien ist das Amt dann auf mich zugekommen und hat mich gebeten, einen Vorschlag zu erarbeiten, welche Fragen ein solches Projekt beantworten sollte. Das ist ganz wichtig: es wurde nicht etwa ein Auftrag erteilt, dass etwa Fragen des BKA zu beantworten wären, sondern der erste Auftrag an mich war die Erarbeitung von Fragen und wie die zu erforschen wären. Kern meines Konzepts waren zwei Punkte. Zum ersten, dass es nicht ausreicht, aufzulisten, welche Beamten des frühen BKA vor 1945 in der Polizei des Nationalsozialismus gearbeitet haben. Das ist keine Forschungsfrage eigenen Wertes – das Personal der Behörden in der Anfangsphase der Bundesrepublik besteht einfach zu einem großen Teil aus diesem Personal. Eine Forschungsfrage sollte stattdessen sein, was das für konkrete Folgen für die Behörde hatte. Werden also ihre Konzepte und Praktiken dadurch geprägt, dass es Beamte mit noch zu erforschenden spezifischen NS-Erfahrungen gibt? Und: Werden die NS-Erfahrungen in dieser Behörde dann thematisiert? Und wenn ja, in welche Richtung und von wem? Der zweite entscheidende Punkt war, dass es nicht darum gehen konnte, dass ausgesuchte Historikerinnen und Historiker zwar Zugang zu Akten bekommen, diese danach aber erneut unerreichbar für die Forschung und die Öffentlichkeit bleiben sollten. Bestandteil der Abmachung war, dass wir im Falle eines Forschungsauftrags mit den Akten frei arbeiten können und dass genau diese Akten – gerne auch noch mehr – ans Bundesarchiv abgegeben werden und von der interessierten Öffentlichkeit und Kolleginnen und Kollegen benutzt werden können. Bei beiden Punkten hat das BKA zugestimmt und auf dieser Basis konnten wir dann dieses Projekt beginnen.

ZOL: Eine Nachfrage: Warum gerade Sie? Man könnte kritisch und zugespitzt ja sagen, dass das BKA die Kolloquien veranstaltet hat, um sich potentielle Kandidaten in einer Art Vorstellungsgespräch anzuschauen und dann den Historiker auswählt, der dem Amt am genehmsten ist. Wie lief es auf Sie zu?

Wagner: Natürlich kann ich darüber nur spekulieren. Ich gehe aber davon aus, dass ich vielleicht deshalb aus Sicht des Amtes ein genehmer Auftragnehmer war, weil es in meinen bisherigen Arbeiten kein Signal dafür gibt, dass ich besonders polizeiaffin wäre, mich also in irgendeiner Weise als unkritischer Freund der Polizei profiliert hätte. Wohl war es so, dass das BKA jemanden wollte, der zwar fachkompetent ist und sich im Themengebiet behaupten kann, der aber auch institutionell möglichst weit weg ist von der zu untersuchenden Behörde an einer ganz normalen Universität – und nicht an einer Hochschule der Polizei oder der öffentlichen Verwaltung – als Historiker arbeitet. Eine Rolle hat wahrscheinlich auch gespielt, dass ich meine Dissertation über die Geschichte der Kriminalpolizei vor 1945 geschrieben habe und dies in einem späteren Buch in die fünfziger und sechziger Jahre hinein verlängert habe.

ZOL: Wurde auch in Erwägung gezogen, neben Ihnen als einzelnem universitärem Forscher noch andere Wissenschaftler hinzuzuziehen und eine Kommission einzusetzen oder das Projekt öffentlich auszuschreiben?

Wagner: Die Form der Beauftragung bzw. Ausschreibung hat mit den finanziellen Dimensionen zu tun, die ein solches Projekt gewinnt. Für unser Projekt hat das Beschaffungsamt des Bundesinnenministeriums eine Ausschreibung veranlasst. Anders als beim Forschungsprojekt des Bundesamts für Verfassungsschutz war das aber keine Ausschreibung, die großartig publik gemacht wurde, damit sich möglichst viele bewerben, das wurde zurückhaltend gehandhabt. Wie gesagt, das ist auch eine Frage der finanziellen Dimension. Die war in unserem Fall recht bescheiden. Andere Projekte sind von vornherein ganz anders ausgestattet …

Reinke: … üppiger …

Wagner: … ja, üppiger. Man kann natürlich behaupten, die geringe Dimension hatte sachliche Gründe, weil die Geschichte des BKA einfacher zu erforschen und weniger umfangreich ist als etwa die des Finanzministeriums. Aber man muss auch die Frage stellen, wo das Geld eigentlich herkommt. In unserem Fall wurde es so beschafft, dass jede Abteilung des BKA einen bestimmten Prozentsatz ihres Etats dafür abgeben musste – schon aus diesen Gründen war die Gesamtsumme gedeckelt und konnte nicht so üppig ausfallen. Laut der Amtsleitung hatte dies aber auch die didaktische Funktion, dass alle im Haus wissen, dass das Forschungsprojekt ein Projekt des ganzen Hauses ist, und wenn sie es auch nur schmerzhaft dadurch wissen, dass sie einen bestimmten Anteil ihres Jahresetats einsparen müssen.

ZOL: Wurde Ihnen auch ein wissenschaftlicher Beirat zur Seite gestellt?

Wagner: Ja, es hat einen Beirat gegeben. Der bestand aus verschiedenen Wissenschaftlern, teilweise von polizei- und verwaltungsnahen Hochschulen, teilweise von anderer Seite. Wir haben uns halbjährlich mit diesem Beirat getroffen und über unsere neuen Erkenntnisse und Thesen diskutiert. Wir haben uns aber immer auch mit der Amtsleitung bis hin zum BKA-Präsidenten darüber ausgetauscht, allerdings nie in der Form, dass uns gesagt worden wäre, was genehm oder ungenehm wäre, diese Diskussion ist die ganze Zeit über ganz offen gehandhabt worden. Die Gespräche mit dem Beirat waren sehr nützlich, weil dort breitere wissenschaftliche Perspektiven einbezogen wurden und er darüber hinaus ja auch einen gewissen Schutz gegen Begehrlichkeiten von anderen bietet. Der Beirat kann ja schließlich auch sagen: „Keine Sorge, was die Wissenschaftler da machen, ist schon richtig und in Ordnung“. Weiterhin war ganz nützlich, als Historiker von jemandem aus dem BKA, für den das polizeiliche Geschäft Alltag ist, kritische Nachfragen und Hinweise zu bekommen. Wir hatten beispielsweise einen Fall aus den fünfziger Jahren, bei dem wir es seltsam fanden, wie ein bestimmter Vorgang damals gehandhabt wurde. Ein Beamter meinte dazu, dass dies nicht besonders sei, weil Polizisten während der Ermittlungsarbeit diesen speziellen Fehler häufig machen würden. Dieser Hinweis hat uns in der Interpretation zwar nicht wirklich beeinflusst, aber es war wichtig, auch solche Binnenperspektiven miteinbeziehen zu können.

Reinke: Zu Ihrer Frage sollte man noch ergänzen, dass die BKA-Studie sich angedockt hat an eine sehr breite Aufarbeitungsbewegung bei der Polizei selbst – in den letzten Jahren sind ja eine ganze Reihe von lokalen Studien – etwa zu Köln, Hannover und Bonn – zwischen Polizei und universitären Wissenschaftlern entstanden. Herr Ziercke hat ja auch schon in seiner Eigenschaft als Chef der Polizei in Schleswig-Holstein ein ähnliches Projekt lanciert. Dieser Kontext der BKA-Studie unterscheidet sich von dem Kontext der Studien der Bundesministerien und anderer Institutionen.

ZOL: Was in diesem Zusammenhang auffällt, ist die Positionierung des Bundesministeriums des Inneren (BMI), der übergeordneten Behörde des BKA. Seit Jahren wehrt das Ministerium alle Forderungen nach der Aufarbeitung seiner Geschichte vehement ab, gleichzeitig finden aber mehrere einschlägige Vorhaben in seinem Geschäftsbereich statt und das BMI brüstet sich geradezu damit. Hat diese Diskrepanz in der Aufarbeitungsbereitschaft in der ober- und untergeordneten Behörde für Sie Konsequenzen gehabt?

Wagner: Allgemein würde ich sagen: Nein. Wobei sicher wahr ist, dass das BMI zum Zeitpunkt des Beginns unseres Projekts sehr reserviert, skeptisch und ablehnend solchen Initiativen gegenüberstand. Ich glaube nicht, dass Herr Ziercke im Innenministerium mit seiner Initiative offene Türen eingerannt hat. Dass das BMI inzwischen den Projekten etwas aufgeschlossener gegenübersteht ist nach meiner Wahrnehmung ganz stark an die Diskussionen um Das Amt und die Vergangenheit gekoppelt. Ich habe den Eindruck, dass Bundesinstitutionen sich danach entweder verpflichtet oder aber gar keinen Ausweg mehr gesehen haben, als die NS-Aufarbeitung anzupacken. Zu dem Zeitpunkt, als wir beauftragt wurden, war das aber noch nicht so und die Stimmung wahrscheinlich im Ganzen ungünstiger als sie jetzt sein mag. In unserer konkreten Arbeit ist mir, wie gesagt, kein Problem mit dem BMI erinnerlich.

Baumann: Auch mir ist das nicht bewusst. Ich könnte aber auch nicht beurteilen, ob die Haltung des BMI irgendeinen Einfluss beim BKA hatte. Was wir eher beurteilen können, wäre das Verhältnis von Belegschaft und Amtsleitung. Dabei war es in meiner Erfahrung immer sehr hilfreich zu wissen, dass der BKA-Präsident voll und ganz hinter dem Projekt steht, und zwar die ganze Zeit über. Dieses Wissen um die Unterstützung des Präsidenten hat wohl auch dabei geholfen, anfängliche Reserviertheiten zu überwinden, die einige im BKA nachvollziehbarerweise hatten, wenn es darum ging, mit uns über sicherheitsempfindliche Dingen zu sprechen.

Reinke: Man muss auch hier den Kontext im Hinterkopf haben: Polizeibehörden haben gelernt, dass diese Art von Offenheit gut für die Corporate Identity und die Öffentlichkeit ist …

Stephan: Die unterschiedliche Auffassung des BMI und des BKA hätte zum Problem werden können, wenn das BMI die Position eingenommen hätte, dass wir uns auch ausschließlich mit den Akten des BKA beschäftigen sollten. Im Verlauf der Arbeit hatten wir Bedarf an Akten des Arbeitskreises II der Innenministerkonferenz zur Inneren Sicherheit, und Herr Ziercke hat dort einen Umlaufbeschluss erwirkt, sodass wir als Historiker auch jenseits des BKA Akten bei anderen Behörden einsehen konnten. Ob es da Haltungen gab in der Richtung, ob das alles nötig sei, können wir leider nicht beurteilen. Das kann vielleicht erst in 20, 30 Jahren geklärt werden, in einem Projekt über unser Projekt.

Wagner: Ergebnis war aber auf jeden Fall, dass alles in relativ kurzer Zeit genehmigt wurde und wir alles sehen konnten.

Stephan: Der Grad der Reserviertheit war bei den Mitgliedern im Arbeitskreis II größer als im BKA selbst, aber das ist auch nachvollziehbar, da sie überhaupt nicht wussten, um was es uns geht. Dort wird man sich gefragt haben: „Warum wollen die Schriftwechsel sehen, die mit dem BKA gar nichts zu tun haben?“

Wagner: Das ist insgesamt ein Phänomen, das uns immer wieder begegnet ist. Wir haben mit Kooperationspartnern zu tun gehabt, die keine genaue Vorstellung davon gehabt hatten, was Historikerinnen und Historiker eigentlich tun. Es ist eine andere Atmosphäre, wenn man mit einem Polizeibeamten zusammenarbeitet, als mit Archivaren, die ja selbst als Historiker ausgebildet sind. Der polizeiliche Berufsalltag ist ja anders geprägt – da wird gefragt, wer hat wann was getan und was ist strafrechtlich relevant. Uns als Historikern geht es aber nicht darum, Individuen zu finden, denen wir dann öffentlich Schuld zuweisen, wir führen auch kein historisches Strafverfahren durch. Es hat lange gedauert, bis wir das schrittweise vermitteln konnten, weil es in der Alltagswelt eines Polizeibeamten zunächst nicht sofort logisch ist. Wenn das gelungen ist, dann sind aber auch schrittweise Reserviertheiten gefallen.

ZOL: Nochmals zurück zum Anfang Ihres Projekts, Herr Wagner: Wie haben Sie Ihre Mitarbeiter gefunden, wie stellt man so ein Projektteam zusammen?

Wagner: Ich glaube, man muss eine Mischung aus verschiedenen Kompetenzen herstellen. In diesem Projektteam ist es ganz offensichtlich, dass es ganz verschiedene Qualifikationen, Zugänge und Erfahrungen sind, die zusammenkommen. Herbert Reinke hat sich als Historiker schon jahrzehntelang mit der Polizeigeschichte beschäftigt und auch schon mehrere Projekte mit Polizeibehörden zur Aufarbeitung ihrer Geschichte betrieben. Zugleich ist er auch Kriminologe, was ganz wichtig ist, wenn man konzeptionelle Denkstrukturen in einer Behörde wie dem BKA analysieren will. Dann Imanuel Baumann, der als Historiker seine Dissertation zu der Geschichte der Kriminologie in Deutschland geschrieben hat und danach längere Zeit in der Gedenkstätte in Buchenwald tätig war, und Andrej Stephan, der sich sowieso mit einer Studie über die Geschichte des Politikfeldes „Innere Sicherheit“ beschäftigen wollte. Diese verschiedenen Zugänge haben sich am Ende hervorragend in diesem Team ergänzt. Wir haben zwar in der Abschlusspublikation aus gutem Grund Wert darauf gelegt, wer welchen Text geschrieben hat, aber natürlich ist klar, dass es in so einer Gruppe immer Wissens- und Erfahrungstransfers gibt, also dass Herr X zwar der Autor eines Kapitels ist, aber zugleich auch viele Gedanken von Herrn Y drin stecken.

ZOL: Diese detaillierte Ausweisung, wer welches Kapitel oder Unterkapitel verfasst hat – ist das auch eine Konsequenz aus der Debatte um Das Amt und die Vergangenheit?

Wagner: Das hatten wir eigentlich als Selbstverständlichkeit oder als Regel wissenschaftlichen Arbeitens betrachtet. Hier haben uns spätere Debatten also weder eines Besseren noch eines Schlechteren belehrt. Ich halte für selbstverständlich, dass diejenigen, die forschen und schreiben die Lorbeeren dafür ernten, gleichzeitig aber auch die Verantwortung dafür tragen. Beides gehört zusammen und das kann man meines Erachtens nur dadurch erreichen, indem man klar ausweist, wer was geschrieben und was verfasst hat.

Reinke: Es war eine sehr basisdemokratische Autorennennung, in alphabetischer Reihenfolge des ersten Buchstabens des Nachnamens, wobei man in meinen Fall sagen muss, dass mein Anteil am Text des Buches weitaus kleiner ist derjenige der anderen.

Wagner: Natürlich, man kann die Seiten auszählen und dann feststellen, dass Herr Reinke viel weniger geschrieben hat als die anderen. Wenn man sich aber an den Prozess des Forschens erinnert, dann war es aber auch sehr wichtig, dass jemand mit so viel Erfahrung in der Arbeit mit diesen Unterlagen in diesem speziellen Themenbereich präsent ist. Davon profitieren alle anderen, und das kann man nicht in Seiten ausweisen und klare Zuweisungen treffen.

ZOL: Herr Baumann, sie haben vor dieser Projektarbeit Ihre Dissertation geschrieben. Es war sicherlich eine intersubjektive Herausforderung, dann an so einem Gemeinschaftsprojekt arbeiten zu können – schränkt dies, im Vergleich zur individuellen Dissertation, vielleicht auch bei der Formulierung von Thesen oder bei der Narration ein, wenn man sich mit drei Forscherkollegen absprechen muss?

Baumann: Es war unglaublich anstrengend, aber absolut fruchtbar. Die Kritik am Text kam im Übrigen auch schon aus dem Beirat, was schon sehr hilfreich war, und dann ganz intensiv aus der Gruppe selbst. Natürlich muss man eine These modifizieren, wenn man erkannt hat, dass die Belege nicht tragfähig sind, dass die Argumentationsstruktur nicht plausibel und nachvollziehbar ist, obwohl man sie eigentlich für plausibel hielt. Ich würde diese Erfahrung nicht missen wollen. Bei der Dissertation kann man Kritik aufnehmen oder auch nicht, aber bei so einem Buch ist man gezwungen, auf Kritik zu reagieren und das hilft letztlich dem Text.

Stephan: Dem kann ich nur zustimmen – für mich am fruchtbarsten war das Kapitel zu Horst Herold [dem Präsidenten des BKA von 1971–1981, ZOL], das wir beide gemeinsam geschrieben haben. Der Text ging fünf oder sechs Mal hin und her, dann ging er zum Projektleiter und dann noch mal ins Korrektorat. Es war sicherlich anstrengend und die Dateiversionen hatten dann irgendwann Nummern wie 77b, aber am Ende stand ein sehr gutes Ergebnis, das viele Hürden übersprungen hat.

ZOL: Gab es bei so einem Gemeinschaftswerk und trotz der individuellen Ausweisung der jeweiligen Autoren auch die Überlegung, das Ganze noch mal etwas diskursiver zu präsentieren, mit einem entsprechenden Schlusswort von Ihnen, Herr Wagner? Oder war es ein Thema, statt einer Zusammenfassung vielleicht jeweils individuelle Perspektiven auf die Institution anzubieten?

Wagner: Wenn wir ernsthafte Interpretationsdifferenzen gehabt hätten, hätten wir das sicher so gemacht, die Meinungen oder Deutungsalternativen nebeneinander zu stellen. Aber wenn man letztendlich nach zwei Jahren Arbeit glaubt, zu einer fundierten gemeinsamen Aussage gelangt zu sein, kann man das ja nicht – nur damit es diskursiver und kontroverser aussieht – künstlich herstellen. Wir haben ein plausibles Narrativ gemeinsam entwickelt und hatten trotz aller professionellen Reserviertheit gegenüber klar erscheinenden Narrativen am Ende dennoch den Eindruck, dass die Gesamtaussage so richtig ist. Natürlich haben wir bei einzelnen Punkten eigene Interpretationen, ob das der Umgang mit den Sinti und Roma ist, der polizeiliche Staatsschutz oder die Personalpolitik. Die Interpretationen der einzelnen Autoren sind im Kern auch stabil geblieben – ich könnte mich nicht entsinnen, dass diese im Diskussionsprozess noch in eine völlig andere Richtung gelenkt worden wären.

ZOL: Sie haben kürzlich in einem Aufsatz geschrieben, dass staatliche Stellen die Aufarbeitung ihrer frühen NS-Bezüge in ein positives Gesamtnarrativ einbinden, und zwar nach dem Muster, je dunkler die Anfangsjahre, desto heller erscheint die demokratische Aufbauleistung. Folgen Sie diesem Narrativ nicht auch? Und inwiefern können Sie sich bestehenden Narrativen – etwa, dass mit Horst Herold ein Quantensprung eingesetzt habe – anschließen oder auch nicht?

Wagner: Auf der Leitungsebene war wohl die Erwartung da, dass sich in unserer Studie herausstellen würde, dass mit Horst Herold in den siebziger Jahren das Amt all der Probleme ledig wird, die die NS-Vergangenheit mit sich gebracht hat und zu einer völlig anderen, rechtsstaatlich einwandfreien Behörde wird. Das hat auch mit den Biographien derjenigen auf der Leitungsebene zu tun – viele sind zu diesem Zeitpunkt als junge Menschen in diese Behörde und in andere Polizeibehörden eingetreten, für das BKA gilt diese Zeit als Aufbruchsphase, da scheint alles anders zu werden und keine Verbindung zur Vergangenheit mehr zu geben. Wir entziehen uns diesem Narrativ dann, wenn wir denken, es geht nicht auf. Denn was sich zunächst so positiv darstellt – der Neuanfang, die schwindende Bedeutung der NS-Erfahrung für das polizeiliche Handeln und Nachdenken – hat eine dunkle Seite. Diese besteht im systematischen und strukturierten Vergessen der Vergangenheit, dass das BKA noch vor kurzem eine von ehemaligen Nationalsozialisten aufgebaute Polizeibehörde war und dass es noch NS-Konzepte innerhalb der Behörde gab. In dieser Phase des Neuanfangs und des Aufbruchs sind in kurzer Zeit viele problematische historische Zusammenhänge unterschiedlicher Felder des polizeilichen Einsatzes vergessen worden. Unser Eindruck war, dass die Kritik am BKA Anfang der achtziger Jahre – also die Proteste der Sinti und Roma, dass sie noch immer ethnisch stigmatisierend erfasst würden und die Polemik, die Terrorismusbekämpfung sei „wie bei der Gestapo“ – ganz ehrlich nicht verstanden wurde. Unser Eindruck war, dass die BKA-Vertreter sich nicht verstellen, sondern dass da tatsächlich Erfahrung und Kommunikation über historische Zusammenhänge abgebrochen ist, sodass sie in allen Bezügen auf diese Vergangenheit nun relativ rat- und hilflos dastehen. Das kann man dann als eine negative Seite dieser Aufbruchsstimmung der siebziger Jahre verstehen. Mir scheint, dass auch in anderen Institutionen der Aufbruch der siebziger Jahre mit systematischem Verdrängen und Vergessen der NS-Vergangenheit einhergegangen ist – diese erneute Entkonkretisierung der NS-Vergangenheit nach der Konkretisierung in den sechziger Jahren ist insofern ein Rückschritt. 

ZOL: Dies führt unmittelbar zur Frage nach dem Untersuchungszeitraum und zur Periodisierung. Es ist ja interessant zu vergleichen, wie sich die Zeiträume bei den unterschiedlichen momentan laufenden Projekten unterscheiden. Wir reden hier über eine Spanne von immerhin 15 Jahren, von Ende der sechziger bis – wie bei Ihrem Projekt – Anfang der achtziger Jahre. Wieso gibt es diese Unterschiede und inwiefern sind sie im Untersuchungsgegenstand begründet?

Reinke: Institutionen haben alle auch ihr eigenes Leben, von daher ist die Periodisierung sicherlich unterschiedlich anzusetzen. Auch gibt es unterschiedlich umfangreiche Vorkenntnisse über Generationswechsel und welche Folgewirkungen dieser hat. Vor diesem Hintergrund war mir zumindest die Periodisierung für dieses Projekt plausibel – im Gegensatz etwa zu den Projekten im Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz verfügten wir in dieser Frage ja über mehr Vorinformationen.

Wagner: Die Definition eines Untersuchungszeitraums setzt ja Prämissen oder geht von Prämissen aus. Man hätte auch sagen können, wir hören mit dem Amtsantritt von Horst Herold auf, mit dem Zeitpunkt, als nur noch eine ganz kleine Minderheit der Beamten eine NS-Erfahrung hat. Unsere Prämisse war jedoch, dass es zunächst eine Hypothese ist, dass mit dem Ausscheiden von NS-belasteten Menschen die Fortwirkung von entsprechenden Erfahrungen und Traditionen zu einem Ende kommt. Es kann ja durchaus sein, dass das über eine Generation hinweg tradiert wird, dann muss man einen längeren Zeitraum in den Blick nehmen. Wir hatten zwar die ungefähre Vorstellung, bis Anfang der achtziger Jahre zu gehen, aber je nach Themenfeld konnte und musste man das verschieden zuschneiden. Zum Beispiel hat sich beim Thema Sinti und Roma herausgestellt, dass es gar keinen Sinn macht, irgendwelche Grenzen zu definieren, deshalb haben wir gesagt, dass wir das Thema so lange bearbeiten, wie es als Thema in der Praxis der Behörde virulent ist.

ZOL: Bis zu welchem Zeitpunkt hat Sie das geführt, Herr Stephan?

Stephan: Bis in die Gegenwart. Als Begleiterscheinung unserer Studie gab es Anfang 2011 eine kleinere Kontroverse in der Bild, weil das BKA zukünftig darauf verzichtet, in Fahndungsausschreibungen als einzige ethnische Gruppe Sinti und Roma entsprechend zu benennen. Die Bild hat Herrn Ziercke daraufhin zum „Verlierer des Tages“ erklärt und spottend gefragt, wann sich denn der Zentralrat der Sinti und Roma umbenennen würde. Aber zur Periodisierung und den damit zusammenhängenden Problemen: Wenn wir die Studie so gemacht hätten, wie wir es wahrscheinlich alle gewollt und wenn wir die Mittel dazu gehabt hätten, dann wäre wohl eine Gesamtgeschichte des BKA dabei herausgekommen. Darin würden die frühen siebziger Jahre als durchaus belebt erscheinen, und man müsste wohl konstatieren, dass trotz Kompetenzerweiterung das BKA inzwischen unter einen erheblichen äußeren Druck geraten ist, mit dem Abzug von Experten im Zuge der Wiedervereinigung, der Umgestaltung des Chefpostens zu einem politischen Posten und ganz besonders seit dem Umzug nach Berlin und den Ergebnissen der Werthebachkommission [die für die Evaluierung der deutschen Sicherheitsbehörden zuständig ist, Anm. ZOL]. Das führte dazu, dass sich ein Wagenburgdenken entwickelt hat, das Amtsleitung und Personalrat zusammenschweißt und Herold verklärt. Im Grunde ist das, was Herold versucht hat und heute an ihm als visionär gepriesen wird, nicht politische Realität geworden.

ZOL: Einer der spannenden Punkte, auf den Sie immer wieder hinweisen, ist, wie sich mental maps trotz des kontinuierlichen Abbaus NS-belasteten Personals tradieren. Wie kann man als Forscher darauf überhaupt zugreifen? Und welchen Einfluss haben semantische oder kriminologische Veränderungen auf das Denken im BKA, etwa die Kritische Kriminologie, wenn zum Beispiel Vorstellungen vom „Berufs- und Gewohnheitsverbrecher“ verschwinden?

Baumann: Bei der Kritischen Kriminologie handelt es sich um ein Missverhältnis – Herold war ein großer Anhänger der Kritischen Kriminologie, des labeling approach, und hat das in unterschiedlichen Texten auch ausgeführt. Mein Eindruck ist aber, dass sich dies in der Praxis eigentlich nicht ausgewirkt hat. Vielleicht hilft hier der Hinweis auf die ganz anderen Probleme mit dem Linksterrorismus weiter, mit deren Lösung Herold beauftragt wurde – vielleicht konnte er darum Ansätze der Kritischen Kriminologie nicht umsetzen. Auf jeden Fall gibt es eine Diskrepanz zwischen theoretischen Konzeptionalisierungen zumindest von Herold und vielleicht auch von anderen im Amt, das kann ich leider nicht beurteilen. Diese Diskrepanz bezieht sich auch auf Herolds Ansätze zur Mitarbeiterführung, die eigentlich sehr offen und demokratisch war, irgendwann aber auf Befehlston umgestellt wurde

Stephan: Die Frage der Tradierung der Kommunistenbekämpfung in die fünfziger Jahre und wie sich dies dann zu den siebziger Jahren verhält, ist eine sehr spannende Frage. In den fünfziger Jahren merkt man sehr stark, dass das Amt sich den gesamtgesellschaftlichen antikommunistischen Vorbehalten anschließt. Da gibt es zahlreiche Beispiele, dass beim polizeilichen Eingreifen die Bürgerrechte noch keine große Rolle spielen. Das, könnte man unterstellen, ist auch bei der Bekämpfung der Roten Armee Fraktion (RAF) etwas Ähnliches und es wäre ein Ansatz zu fragen, ob hier etwas tradiert wird. Der substantielle Unterschied ist aber meines Erachtens, dass das Einschreiten gegen den inneren Gegner KPD oder die FDJ etwas völlig anderes ist als bei der RAF. Von der Sachbearbeiterebene über den Abteilungsleiter hin zum Präsidenten wird das Phänomen des Terrorismus zwar ernstgenommen, aber es gibt auch die die klare Zuschreibung, dass es sich dabei in erster Linie um Gewaltkriminelle handelt, die festzunehmen sind. Erst danach will man sich näher mit dem beschäftigen, um was es denen eigentlich geht.

Reinke: Bei der Frage nach den mental maps und den praktischen Auswirkungen im Hinblick auf das BKA als Strafverfolgungsbehörde muss man im Hinterkopf behalten, dass es ja in den fünfziger und sechziger Jahren ja noch eine relativ kleine Behörde gewesen ist. Das BKA ist sicherlich in der Kommunistenverfolgung sehr intensiv tätig gewesen und als Strafverfolgungsbehörde durch den Generalbundesanwalt auch immer wieder beauftragt worden. Sichtbar wurde, dass es wohl sehr intensive Formen von Kooperationen mit dem Verfassungsschutz gegeben hat, die detaillierter aufzuarbeiten den Rahmen der Studie aber komplett gesprengt hätte. Dieser Punkt, wie die Sicherheitsarchitektur in den fünfziger Jahren entstanden ist und wie sie sich ausgeprägt hat, ist sicherlich ein Punkt, der noch ein Teil der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik sein könnte. Die klassischen Feindbilder werden sicherlich tradiert, aber sie prägen sich neben der Ermittlungstätigkeit eher in Sammeltätigkeiten aus. Da wird dann in Bonn eine Waschküche angemietet und tausende sogenannter Propagandaschriften gesammelt und Sicherheitsbehörden zur Auswertung zur Verfügung gestellt. Diese Kultur der frühen Sicherheitspolitik der Bundesrepublik sollte man auch im Hinterkopf behalten, denn das Vergessen von früheren Praktiken spielt auch eine Rolle. Man weiß von Interviews mit Polizisten, die in den fünfziger Jahren ausgebildet worden sind, dass sie völlig erschüttert waren und auch den Kontext nicht verstanden, wenn im Rahmen von Strafverfolgungsmaßnahmen aus dem Unterricht heraus alte Polizisten verhaftet worden sind. Da gibt es also verschiedene mental maps, die sich im Grunde überlagern und es ist zu klären, welche Wirkungsmacht diese mental maps überhaupt in Relation zur Größe der Institution gehabt haben.

Wagner: Ich glaube, wir müssen auch berücksichtigen, dass wir es im Wesentlichen mit einer bürokratischen Organisation zu tun haben, die in den Zeiträumen, die wir untersucht haben, relativ wenig exekutive Aufgaben hatte. Die Tradierung von Vorstellungen findet da ganz häufig in Routinen und Formularen statt, in deren Sprache und dem Denken, das Formulare als Struktur vorgegeben. Das ist natürlich unglaublich schwierig, zu untersuchen – wie wird zum Beispiel ein Formular, das von den fünfziger bis in die achtziger Jahre unverändert benutzt wird, 1955 verstanden und wie 1980? Beim Umgang mit den Sinti und Roma merkt man, dass die bewussten weltanschaulich-ideologischen Vorstellungen über die ethnische Gruppe schon relativ früh keine Rolle mehr spielten. Es blieb aber, dass da ist eine Gruppe ist, die routinemäßig mit spezifischen Kategorien als Gruppe erfasst wird. Und weil dies langfristig so geschieht, suggeriert es, dass sie gefährlich sein und das alles seine Richtigkeit haben muss. So tradiert sich über Generationen hinweg eine mental map, die zwar diffus ist, aber die man noch als solche erkennen kann.

Dann möchte ich noch sagen, dass wir ja eine sehr spezifische Fragestellung hatten, nämlich inwiefern nationalsozialistische Vorstellungen von Kriminalität, der Rolle von Staatsfeinden und der Polizei und die während des Nationalsozialismus gemachten Erfahrungen sich später ausprägen. Da muss man ein bisschen vorsichtig sein, denn es gibt eine Neigung, alles das, was es an autoritären Elementen in der bundesdeutschen Geschichte gibt, umstandslos auf den Nationalsozialismus zurückzuführen. Der Antikommunismus der fünfziger Jahre hat z.B. Bezüge zum Nationalsozialismus, er hat aber auch eine davon unabhängige Tradition, die nicht spezifisch nationalsozialistisch und nicht einmal spezifisch deutsch ist. Teilweise haben wir uns schwer damit getan, Spezifika an diesen mental maps zu finden, die auf den Nationalsozialismus zurückzuführen wären.

Reinke: Wir hatten ursprünglich geglaubt, wir könnten in Quellen zur Ausbildung von BKA-Beamten – die haben ihre Leute ja selber ausgebildet –, etwas finden. Leider haben sich nur wenige von diesen Unterlagen aus den fünfziger und sechziger Jahren im Nanobereich auffinden lassen, aber man kann ganz vorsichtig daraus schließen, dass sich da ältere mechanistische Bilder von Demokratie oder dem Gegensatz von Staat und Gesellschaft wiederfinden lassen oder wieder neu aufgelegt werden, die leitende Polizeioffiziere schon in den zwanziger Jahren in dieser Form thematisiert haben.

Wagner: Das könnte man vielleicht als These für die fünfziger Jahre aufstellen: Zurück zu Weimar …

Reinke: … Ja …

Wagner: … in den Konzepten, in den Praktiken. Anfänglich vielleicht noch mit einem deutlicheren autoritären Impetus, aber es wird wieder an Weimar angeknüpft, oder vielmehr daran, wie Weimar verstanden wurde.

Reinke: Nochmal zu den Narrativen … Ich habe relativ viel mit ausländischen Polizeien und ausländischen Kolleginnen und Kollegen zu tun und kann sagen, dass die Diskussion über Narrative im Polizei- und Behördenbereich eine sehr deutsche Diskussion ist. Meine ausländischen Kolleginnen und Kollegen wären sehr glücklich, wenn sie überhaupt über diese Narrative diskutieren könnten, in Frankreich oder auch den Niederlanden. Nun, in den Niederlanden ist inzwischen eine sehr breite, fünfbändige Studie über die Geschichte der niederländischen Polizei während der deutschen Besatzungszeit vorgelegt worden, aber in Frankreich geht das nicht. Das hat sicherlich auch mit dem Verständnis von Staat zu tun, wie die politischen Kulturen geprägt sind und wie dies auch in den Geschichtswissenschaften thematisiert wird. Die Kollegen, die 2011 auf der Eröffnungsveranstaltung der Ausstellung „Ordnung und Vernichtung“ zur Polizei während des Nationalsozialismus im Deutschen Historischen Museum in Berlin waren, haben darauf hingewiesen, dass sowohl in Frankreich als auch in den Niederlanden weder eine Studie wie die unsere noch eine solche Ausstellung möglich sei.

ZOL: Sie haben in Ihrer Studie die Namen von BKA-Beamten teilanonymisiert. Bei vergleichbaren anderen Projekten wird das hingegen unterschiedlich gehandhabt – teilweise werden Studien zum früheren Personal aus Datenschutzgründen unter Verschluss gehalten, andere sind überhaupt nicht anonymisiert. Was war Ihre Motivation, nicht durchgängig Klarnamen zu nennen?

Baumann: Es gab zwei Überlegungen. Die eine ist eine klare archivrechtliche Vorgabe – man muss sich verpflichten, wenn man die Akten nutzen will, entsprechend zu anonymisieren. Das andere ist eine konzeptionelle Überlegung. Abseits vom BKA-Präsidenten oder Personen des öffentlichen Lebens ging es uns bei kleinen Sachbearbeitern, die in der Gestapo waren und später Fälle von Kommunistenverfolgung in den fünfziger Jahren behandeln, nicht um diese individuelle Biographie. Es ging uns um die Frage, was es über das Amt aussagt, wenn solche Leute diese Aufgaben übernehmen und ob man an den Berichten dieser Menschen Spuren von NS-Weltbildern nachweisen kann oder nicht. Dabei geht es uns in diesem Moment nicht um diese spezielle Person.

Wagner: Ich möchte das Konzeptionelle noch mal betonen. Wir wollten keine Studie schreiben, die man am Ende so zusammenfassen kann: „Hier haben wir eine Liste, das sind benennbare schlimme Personen und wenn die nicht in der Polizei gewesen wären, dann wäre alles gut gewesen.“ Eine solche Liste von Schuldigen wäre zu einfach und würde den Blick weglenken von den strukturellen Fragen, um die es uns gegangen ist. Diese Bedeutung der strukturellen Fragen wollten wir damit signalisieren, dass wir Namen dort nennen, wo es zur Erhellung von strukturellen Zusammenhängen sinnvoll ist, und wo es nicht sein muss, haben wir sie weggelassen. Wir sind nicht das historische Strafgericht, das die Schuldigen verurteilt und das glaubt, damit sei etwas getan. Das liegt aber auch, zumindest was mich persönlich betrifft, an einer begrenzten Begeisterung für die moralischen Fingerzeig- und Schulterklopfübungen, die in diesen Kontexten üblich geworden sind.

Stephan: In der Studie gibt es einen Abschnitt, in dem es um einen Angestellten geht, der mit Sinti und Roma befasst war. Es war klar, dass wir feststellen müssen, ob diese Person heute noch im Amt ist. Dies war der Fall, und zwar in anderer Funktion und in deutlich exponierter und höherer Stellung. Wir haben mit ihm Kontakt aufgenommen und ihm auseinandergesetzt, dass es uns nicht um seine Arbeit als Sachbearbeiter geht, sondern um das strukturelle Handeln des Amtes hinsichtlich der Sinti und Roma in den achtziger und neunziger Jahren. Wir hatten die Befürchtung, dass es ansonsten zu Gerede im Haus führen würde. Als der Betroffene gemerkt hat, dass wir sehr sorgsam damit umgehen, machte er uns bereitwillig das zugängig, was es an Akten noch gab und stellte Kontakte her, die unser Bild wesentlich erweitert haben. Dass wir überhaupt an diese Person herantreten konnten, verdanken wir im Übrigen einer Vertreterin im Beirat. In anderen Fällen – das ist vielleicht ein Negativbeispiel – haben wir die Namen von Personen genannt, weil diese als Personen der Zeitgeschichte ausreichend exponiert sind. Die Folge dessen ist, dass es im Nachgang sehr viel Post von den Angehörigen gibt, und die Korrespondenz frisst eine ganze Menge an Nerven und Arbeitszeit auf, obwohl die Standpunkte eigentlich ausgetauscht sind.

Wagner: Das ist eine Erfahrung, die viele in solchen Projekten machen. Man trifft teilweise auf Kinder und Enkelkinder, denen – das unterstelle ich allen – es ein ehrliches Anliegen ist, sich mit diesem Aspekt der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Die Perspektiven von Historikern und Angehörigen sind einfach anders, damit muss man umgehen und entsprechend kommunizieren, das gehört zu unserem Geschäft.

ZOL: Verhindert Auftragsforschung bestimmte theoretische Ansätze oder bestimmte Auseinandersetzungen mit Methodenfragen? Man könnte sich im Fall der BKA-Studie zum Beispiel auch eine integrierte Täter-Opfer-Geschichte vorstellen, dass Sie vielleicht mehr auf die Geschichte der verfolgten Kommunisten oder der Homosexuellen eingegangen wären – hat dies mit der Anlage des Projektes als Auftragsforschung zu tun?

Wagner: Einerseits: Nein. Das hat etwas mit den Leitfragen zu tun, die ich am Anfang erarbeitet habe und die dann vom Auftraggeber als solche akzeptiert und übernommen wurden. Das ist das normale Historikergeschäft, dass man Leitfragen zu einem Thema entwickelt und dann im Forschungsprozess neue Perspektiven entdeckt, aus denen man das Thema auch noch beleuchten könnte. Wir haben uns aber dazu entschieden, unserer Leitfrage weiterhin nachzugehen. Auf der anderen Seite: Ja. Wie gesagt, der finanzielle und zeitliche Rahmen für das Projekt war eng gesteckt – da fielen viele Möglichkeiten weg, die ich auch angesichts der Leitfragen methodisch-konzeptionell für sinnvoll erachten würde. Zum Beispiel ein internationaler Vergleich zu einer vergleichbaren Polizeibehörde, die keine nationalsozialistische Vergangenheit hat, wie etwa das amerikanische FBI. Man muss aber auch sagen, dass es ein Glücksfall ist, wenn man diesen ersten Teil der Studie erstens finanzieren und zweitens den Zugang zum Material öffnen kann. In einem nächsten Schritt kann man sich ja für einen zweiten Teil eine andere Finanzierung suchen. Daran hindert uns der Auftraggeber ja nicht, er hat nur dafür kein Geld.

Reinke: Man muss sagen, dass es sicherlich mit Forschungspragmatik zu tun hat, dass eine solche Gesamtschau nicht geleistet werden konnte. Es gibt aber auch einen sehr wichtigen quellenkundlichen Grund. Die in der polizeilichen Ermittlungsarbeit entstehenden Quellen gehören ja eigentlich nicht der Polizei, sondern der Staatsanwaltschaft. Von daher sind Polizeibehörden im Grunde genommen unordentliche Behörden, das heißt also, alles, was sich in einer Ermittlungsunterlage der Polizei befindet, sind Handakten oder Privatakten. Das wiederum bedeutet, dass – wenn man eine integrierte Geschichte der Kommunistenverfolgung hätte schreiben wollen – man noch zwei Jahre lang das Archiv der Generalbundesanwaltschaft hätte durchforsten müssen. Im Keller des BKA ist es genauso unordentlich wie in anderen Behörden auch.

Wagner: Es ist eine Illusion, die wohl aus deutscher Staatsgläubigkeit folgt, dass große deutsche Behörden unglaublich ordentlich und systematisch im Umgang mit ihren Akten seien. Oder aber wenn es anders aussieht, dann sei es organisierte ...

Reinke: ... Repression …

Wagner: ... ja: Verheimlichung, Vertuschung, Verschleierung. Das ist aber nicht der Fall, es herrscht einfach ein bestimmtes Maß an Unordnung im Aufbewahren von alten und darum als völlig belanglos betrachteten Unterlagen. Im BKA herrschte über Jahrzehnte das sogenannte Sachbearbeiterprinzip. Alle Akten außer den Ermittlungsakten, die zur Staatsanwaltschaft gehen, verwaltet der jeweils mit ihnen befasste Beamte. Dieser wird im Laufe seiner Dienstzeit vier-, fünfmal in eine andere Funktion und an andere Standorte versetzt, zumindest in ein anderes Gebäude. Ein Teil der Akten wandert mit ihm, ein anderer Teil geht zu diesem Zeitpunkt in den Keller. Wenn er pensioniert wird, nehmen die einen die Akten mit, die anderen legen sie in den Keller oder geben sie ihrem Nachfolger, der Interesse dafür hat oder auch nicht. Diese Akten bei der Recherche zu finden war ein Problem. Nicht weil sie – das ist zumindest unser Eindruck – systematisch versteckt oder unterdrückt würden, sondern weil die Behörde nicht so organisiert ist, dass man darauf vorbereitet wäre, dass eines Tages Historiker kommen werden. Damit ist das BKA, behaupte ich, wohl eine relativ normale Behörde.

Reinke: In diesen Zusammenhängen habe ich alles Verschwörungstheoretische schon lange verloren …

ZOL: Welche Konsequenzen ziehen Sie aus Ihrer Projektarbeit, die Sie auch als Erfahrung an andere Historikerkommissionen und Auftragsforschungsprojekte weitergeben könnten? Gibt es generelle Ratschläge, die Sie geben können und gibt es Fallstricke, vor denen Sie warnen würden? Und an Sie gerichtet, Herr Wagner: Profitieren Sie ganz persönlich von Ihren Erfahrungen des BKA-Projekts, schließlich arbeiten Sie ja bereits in einer anderen Historikerkommission mit?

Wagner: Nun, die Kommission zur Geschichte des Reichsfinanzministeriums ist ja etwas anders gelagert, da das Bundesfinanzministerium zwar den Auftrag erteilt hat, wir uns aber mit dem Reichsfinanzministerium beschäftigen. Es gibt wohl noch einige alte Akten, die qua Nachfolge im Bundesfinanzministerium gelandet sind, aber qualitativ ist das etwas anderes. Auch wenn es beim Bundesfinanzministerium inzwischen das Interesse gibt, über die Zäsur von 1945 hinwegzugehen und auch noch die Zeit nach Gründung der Bundesrepublik in den Blick zu nehmen, ist das noch alles relativ unklar. Das ist ja immer auch eine Frage der Dimension und Ausstattung eines Projekts. Meine primäre Erwartung an andere Auftragsforschung wäre – neben dem, dass die Kolleginnen und Kollegen gute Bücher schreiben sollen – dass die Quellen, mit denen sie arbeiten, spätestens nach Abschluss der Projekte der allgemeinen Forschung und der Öffentlichkeit zugänglich sind. Bei uns ist das relativ unproblematisch gewesen, ich hätte vorher gedacht, dass dies bei unserem Auftraggeber problematischer wäre. Ich kann mir vorstellen, dass es bei Auftraggebern, die noch stärker im Bereich des Geheimen unterwegs sind, schwieriger wird. Aber ich würde dennoch daran festhalten, dass es ein Ziel und eine Bedingung solcher Projekte sein muss, dass die Ergebnisse intersubjektiv nachprüfbar sein müssen. Deswegen sollte man darauf bestehen, dass die Akten, mit denen gearbeitet wurde, hinterher ins Bundesarchiv oder ins jeweils zuständige Archiv wandern, wo sie fortan von anderen Historikerinnen und Historikern genutzt werden können. Dann können andere unsere Forschung kontrollieren und ganz andere Fragen an dieses Material stellen. Die Bücher, die wir schreiben, sind Dinge des Moments – davon redet in fünf Jahren keiner mehr. Das einzige, das bleiben kann, ist der Zugang zu diesen Akten. Was nicht sein darf, ist, dass die Kommissionen dazu dienen, dass eine Behörde schlicht sagt: „So, jetzt haben wir unsere Transparenzpflicht erfüllt, das Buch liegt vor, und damit ist aber auch Schluss“.

Reinke: Wir können natürlich nicht sicherstellen, dass das Bundesarchiv die Archivalien, die wir gesehen und ausgewertet haben, nach Übernahme vielleicht aus archivalischer Sicht als nicht relevant definiert. Auf diesen Prozess haben wir natürlich keinen Einfluss mehr …

Wagner: … aber wichtig ist, dass das nicht ein Polizeibeamter entscheidet, sondern dass ein Archivar darüber befindet, was historisch archivierungswürdig ist.

ZOL: Wenn wir noch mal auf die Kolloquien des Jahrs 2007 zurückkommen, die am Anfang dieses Projekt standen: diese Kolloquien haben ja für viel Medienaufsehen gesorgt. Im Vergleich dazu ist die Medienresonanz auf Ihr Anfang 2012 veröffentlichtes Buch relativ gering. Ist der Skandalisierungsfaktor nicht hoch genug im Vergleich zum Erwartungshorizont, den diese Kolloquien aufbauten, oder wie erklärt sich diese unterschiedliche Resonanz?

Reinke: Nach meinem Eindruck hat ein Normalisierungsprozess eingesetzt, der ganz wichtig ist. Die nachhaltige Wirkung ist mir ganz persönlich wichtig, weil ich, wenn ich mich in der Polizeiforschung engagiere, dieses nicht nur als externer Wissenschaftler tue, sondern auch als Staatsbürger, der das Gewaltmonopol einer Institution überlassen hat. Und von der will ich wissen, was da so passiert. Mir ist wichtig, dass das BKA über seine breit gestreuten Verteiler die Studie vor allen Dingen auch in die Polizei und Institution hinein wirkend verteilt.

Wagner: Ich glaube, dass beim Amt und die Vergangenheit die große Resonanz auch schon von der Präsentationsveranstaltung ausging – ich unterstelle mal, dass nicht alle, die über das Buch geschrieben haben, es sofort gelesen hatten. Nun gut, ich glaube, dass man in der Vermarktung und der Präsentation unseres Buches manches hätte besser machen können. Allerdings, das ist wohl wahr, in unserem Buch steckt keine Sensation drin. Wenn wir Geschichtsschreibung so betreiben würden, dass es unsere Aufgabe wäre, Sensationen für den medialen Markt zu erarbeiten, dann wären wir in einem anderen Segment der Geschichtswissenschaft tätig als in dem, in dem ich mich bewegen möchte.

ZOL: Haben Sie während Ihrer Arbeit eine Entwicklung im Amt wahrgenommen, haben Sie bemerkt, dass sich die Stimmung gedreht hat, dass man Ihnen offener gegenüber trat? Zu Anfang gab es ja durchaus Kritik, als teilweise gefragt wurde, ob das BKA nicht Wichtigeres als diese Studie zu tun habe. Können Sie zur Rezeption Ihrer Arbeit etwas sagen?

Baumann: Ich habe das eingangs schon kurz angedeutet, dass es am Anfang tatsächlich Reserviertheit gab, dass unsere Gesprächspartner aber auch sehr an dem Projekt interessiert waren. Als sie dann von uns gehört haben, wie wir das konzeptionell anpacken wollen, haben sie sich aber auch mehr und mehr geöffnet. Das war eine solche Erfahrung, die wir gemacht haben.

Stephan: Was Herr Baumann gesagt hat, bezieht sich auf einzelne Personen, mit denen man zu tun hat. Ein anderer wichtiger Punkt ist – und dieser ist auch für andere Projekte beachtenswert –, dass die Personalvertretung adressiert und mit eingebunden werden sollte. Als es im Umfeld der Kolloquien 2007 kritische Stellungsnahmen vom GdP-Gewerkschaftsvorsitzenden Vorbeck gab, legte Herr Wagner großen Wert darauf, dass das Projektteam diesen Schritt tut, sich vorstellt und darüber berichtet, was gemacht werden soll – dann erledigen sich Probleme im Regelfall von selbst. Forschungspraktisch: Vormittags von 8 Uhr bis 12 Uhr werden Akten gelesen, dann geht man mit der Abteilung, in der man gerade beschäftigt ist, zum Mittagessen und bekommt dabei auch die dienstlichen Dinge mit, die für den eigenen Horizont nicht ganz so relevant sind. Dann setzt man sich wieder an die Akten und wird irgendwann feststellen, dass einem Aktenordner an den Tisch herantragen werden. Das ist uns mehrfach passiert. Dabei handelt es sich nicht um die Abteilungsleiter oder Referatsleiter, sondern um diejenigen, die seit 40 Jahren im Amt sitzen und jeden kennen.

Reinke: Ein Lakmustest wird sicherlich sein, ob und in welchem Umfang Ergebnisse der Studie auch in die Curricula der Ausbildung im BKA aufgenommen werden. Das kann aber dauern.

Wagner: Aber: Als wir noch gar nicht fertig waren wurden bereits Zwischenergebnisse in der Kommissarsausbildung vermittelt ... Diese Art von direkter Wirkung ist für Historikerinnen und Historiker sicher ein bisschen ungewohnt, und in der Ausbildung eingesetzt zu werden war nicht die erste Verwendungsweise, an die wir gedacht haben.

Reinke: Doch, doch, mir war das schon wichtig.

Wagner: Ich habe offenbar immer noch eine mentale Distanz … (lacht)

ZOL: Eine Frage zum Aufklärungscharakter der Historiographie … Historiker haben sich im Anschluss an die forensische Tradition oftmals als Kriminalisten und Detektive verstanden. Inwiefern gibt es Analogien zwischen den beiden Berufsgruppen – oder hat man sich eine Behörde wie das BKA als einen primär bürokratischen Apparat vorzustellen, der romantische Aufklärungsfiktionen gar nicht erst entstehen lässt?

Reinke: Also ich sehe eine große Parallele zwischen Historikern und Profilern. Profiler arbeiten ja mit einer wissenschaftlichen Methodik und mit dem Erfahrungswissen, das Generationen von Kriminalisten vor ihnen gesammelt haben. Dasselbe trifft auch für uns als Historiker und für unser Wissen zu, mit dem wir durch die Keller gegangen sind. Von daher ist das auch Aufklärungsarbeit gewesen.

ZOL: Nochmals zum Methodischen des Fragen-Stellens, des Einleitens von Forschungsprozessen – unterhält man sich, wenn man sich mit Kriminalisten auseinandersetzt, auch über parallele Methoden?

Baumann: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wir als Historiker das landläufige romantische Bild vom Detektiv verinnerlicht haben und dass man meint, man kann irgendwelche Bruchstücke suchen und zusammensetzen. Das hat letztendlich aber ganz wenig mit der Polizeiarbeit zu tun. Wir haben das gemerkt, in Interviews, die wir geführt haben. Wir beherrschen die Strategien der Befragung nicht so gut, dass wir immer das herausbekommen hätten was wir uns wünschten. Wir haben auch von wirklichen Experten gesagt bekommen, wie die Polizei arbeitet und wie nicht. Ich würde also eher betonen, dass Historiker überhaupt keine Polizisten oder Kriminalisten sind, dass das ein romantisches Bild ist.

Reinke: Mir war völlig klar, wenn wir mit diesen Leuten mit dem dicken Schlüsselbund in den Keller des BKA gehen, dass wir da etwas finden. Und wir haben ja auch wesentliche Sachen im Keller gefunden, wie etwa Telefonverzeichnisse und vieles andere mehr. Aus Vorkenntnissen und Vorerfahrungen weiß man, dass in Institutionen unterschiedliche Quellen immer noch erhalten sind, deswegen habe ich das durchaus auch als Spurensuche empfunden – es ging ja um Kleinigkeiten und Spuren, die hinterlassen worden sind. Darin habe ich durchaus ausgeprägte Analogien zwischen Historikern und Kriminalisten gesehen. Mal abgesehen davon, im BKA in Wiesbaden, wo wir ja großteils gearbeitet haben, gibt es nicht so viele Kriminalisten, die tatsächlich ermitteln.

Wagner: Jetzt werde ich mich beim BKA wohl endgültig unbeliebt machen, aber die Atmosphäre in weiten Teilen des BKA unterscheidet sich nicht sonderlich vom Landschaftsverband Rheinland, der Bundesagentur für Arbeit oder einem anderen öffentlichen Betrieb, der die Akten größerer Massen von Menschen verwaltet. Einer der Historiker, bei denen ich gelernt habe, hat in einer Prüfung gesagt, Geschichte bestünde in der Frage, wer wann wen warum totgeschlagen hat. Wenn das stimmen würde, dann hätten Kriminalisten und Historiker auf den ersten Blick viel miteinander zu tun. Aber der entscheidende Unterschied ist natürlich das Relevanzsystem.

Reinke: … Ja …

Wagner: ... Kriminalisten beschäftigen sich mit dieser Frage angeleitet von Strafgesetzbuch und Strafprozessordnung, sie haben ein klares Wahrnehmungsraster, das auf persönliches, individuelles Verhalten, auf zuschreibbare Verantwortung bezogen ist. Dieses Relevanzkriterium haben Historikerinnen und Historiker in der Regel ja nicht, und genau das führt in der Interaktion mit Kriminalisten dann manchmal zu Missverständnissen. Im Gegensatz zu mündlichen Befragungen, die wir als Historikerinnen und Historiker in der Regel nicht haben, arbeiten wir mit schriftlichen Hinterlassenschaften und haben dann das Problem, wie wir zum Beispiel die Motive von Akteurinnen und Akteuren daraus plausibel rekonstruieren können. Das erreicht fast nie den Level und die Art von Beleg- oder Argumentationsstrukturen vor Gericht. Deswegen gab es teilweise das Missverständnis, dass wir bestimmte Sachen doch gar nicht sagen dürften – weil wir diese nicht nach diesen strafprozessualen Regeln beweisen können. Wir mussten dann klarmachen, dass wir hier keinen Prozess veranstalten, sondern dass es unsere Aufgabe ist, möglichst plausible Deutungen anzubieten – aber das läuft nach anderen Argumentationsregeln ab.

ZOL: Vielen Dank Ihnen allen, dass Sie sich für dieses ausführliche Gespräch Zeit genommen haben.