von Barbara Stollberg-Rilinger

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4. Februar 2022

Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatement von Barbara Stollberg-Rilinger bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen".  Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Wintersemester 2021/22 im online-Format statt. Zeitgeschichte|online veröffentlicht die Eingangsstatements der Veranstaltung in einem Dossier. Die Vorträge wurden bis auf wenige Ausnahmen von der Audioaufnahme transkribiert und überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.


 

Geschichtliche Grundfragen
Teil I:

Nach welchen Kriterien bestimmen wir die Relevanz historischer Forschung? Kann man Erkenntnisinteressen hierarchisieren?
Diskussion am 29. November 2021 (online)

Eingangsstatement von Barbara Stollberg-Rilinger (Wissenschaftskolleg zu Berlin)

Ich finde es sehr gut und wichtig, dass Sie diese sehr grundsätzlichen, scheinbar sehr einfachen, aber dann doch sehr grundsätzlichen und komplizierten Fragen zur Diskussion stellen. Ich würde gern vorausschicken, dass diese Fragen von zwei Seiten angegangen werden können: von einer wissenschaftspolitischen und einer eher geschichtstheoretischen Seite.

Aus wissenschaftspolitischer Sicht geht es um eine Antwort auf die Frage „Wer bestimmt über Fragen der Relevanz und über die Kriterien für die Relevanz historischer Forschung?“. Diese Frage würde ich zunächst ganz grundsätzlich so beantworten, dass wir als Historiker und Historikerinnen das zu definieren haben. Das heißt, wir sollten uns auf jeden Fall dagegen verwahren, von außen an uns herangetragene Relevanzfragen beantworten zu wollen, uns also von außen die Fragen und die Kriterien mehr oder weniger diktieren zu lassen, die gesellschaftspolitisch relevant scheinen. Wir sollten vielmehr grundsätzlich die Wissenschaftsautonomie verteidigen und sagen, das muss die historische Wissenschaft intern beantworten. Es scheint mir im Übrigen so, dass andere Fächer sich sehr viel leichter damit tun, diese Selbstverständlichkeit zu verteidigen. Viele Naturwissenschaftler*innen etwa beantworten oft auch Fragen, die nur wissenschaftsintern interessant sind, die von außen aber überhaupt nicht an sie herangetragen werden. Sie haben in der Regel viel weniger Probleme damit als wir Geisteswissenschaftler*innen. Das wäre also zunächst die grundsätzliche Position, die ich vorweg formulieren möchte. Die Kriterien für Relevanz müssen also disziplin- und wissenschaftsintern geklärt werden. Dafür ist es umso wichtiger, dass wir uns diese Frage tatsächlich auch selbst stellen und versuchen, sie intern vernünftig zu beantworten. Schließlich müssen wir rechtfertigen können, warum wir diesen Autonomieanspruch stellen und zeigen, dass wir ihm auch gerecht werden. Und nicht zuletzt müssen wir uns dafür rechtfertigen, dass wir von den Steuerzahler*innen finanziert werden.

Umso wichtiger ist es, dass wir über unsere eigenen Gründe für die Beschäftigung mit einem Thema Rechenschaft ablegen. Nun habe ich versucht, mir die Frage nach den Kriterien und ihrer Hierarchie vorzulegen und festgestellt, dass ich es wahnsinnig schwierig finde, Antworten darauf zu geben. Ich würde die Frage deswegen lieber ex negativo beantworten, nämlich in dem Sinne, dass ich drei klassische Kriterien ganz kurz durchgehe und erkläre, inwiefern ich sie für berechtigt oder eben nicht für berechtigt halte.

Das erste traditionelle Kriterium wurde schon mehr oder weniger deutlich angesprochen. Es ist ein objektives, auf die Sache bezogenes Kriterium, nämlich das, ob eine historische Frage in irgendeiner Weise das „große Ganze“ betrifft. Und das war natürlich klassischerweise der Nationalstaat. Man könnte vielleicht heute sagen, dass Globalgeschichte dieses Kriterium erfüllt, aber tatsächlich war es ursprünglich eben der Nationalstaat und das heißt, es waren die Bereiche der Politik-, Verfassungs-, Diplomatiegeschichte und so weiter. Im 19. Jahrhundert, als die Geschichtswissenschaft mächtig und einflussreich war, wurde vor allem diesen Themen zugestanden, förderungswürdigen Erkenntnisinteressen zu dienen.
Dagegen ist noch in den 1990er, 2000er Jahren das berühmte Gamaschenknöpfe-Argument vorgebracht worden, also die Idee, dass es in der Geschichte letztlich immer um Fragen der politischen Machtverhältnisse gehen müsse. Und dann hat man sich über die Lächerlichkeit so genannter Gamaschenknopfthemen lustig gemacht. Schon Hegel hat das als Kammerdienerperspektive der Geschichte verunglimpft. Gemeint war alles vermeintlich Private, all das, was nicht die großen, sondern nur die kleinen Individuen betrifft. Auf dieser Position beruhte bekanntlich der große politische Einfluss der deutschen Geschichtswissenschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert.
Warum ist dieses Kriterium illegitim? Meine Antwort darauf wäre: Es kommt nicht auf den einzelnen Gegenstand an, sondern auf die Art und Weise, wie man ihn erforscht. Nämlich nicht selbstgenügsam und isoliert, sondern als Schlüssel zu allgemeineren, abstrakteren Fragen. Und dann kann unter Umständen auch mal der Gamaschenknopf von Interesse sein. Nämlich dann, wenn man ihn kontextualisiert oder pars pro toto behandelt, wie das gegenwärtig etwa die auf materielle Objekte bezogene Historiographie macht, indem sie einen einzelnen Gegenstand einbettet in große wirtschafts-, sozial-, körper- oder geschlechtergeschichtliche Kontexte, in Fragen nach dem sozialen Habitus und so weiter. Dann kann auch ein mikrohistorischer Gegenstand durchaus Aufschluss geben über allgemeine Phänomene, große strukturelle Zusammenhänge, weil ja alles mit allem immer zusammenhängt und man deswegen grundsätzlich an jedem beliebigen historischen Detail eine größere, eine große Geschichte erzählen kann. Schließlich ist auch alles Individuelle immer schon kollektiv eingebettet, weshalb es möglich ist, von der Mikrohistorie einen Weg zur Makrohistorie zu finden, etwa im Sinne des Konzepts vom „außergewöhnlichen Normalen“. Auch oder gerade das Außergewöhnliche kann ja durchaus aufschlussreich sein für die Regel, die Norm, gegen die es verstößt. Dies ist ein Plädoyer für die neugiergetriebene Forschung, aber auch ein Plädoyer dafür, zu erklären, wie das kleine Einzelphänomen in einen allgemeinen Zusammenhang eingebettet ist und warum es eben mehr verrät, als es auf den ersten Blick scheint. Wir müssen also erklären können, warum wir uns für diesen einzelnen, individuellen, womöglich sehr, sehr kleinen, mikroskopischen Gegenstand interessieren.

Das zweite traditionelle Kriterium für eine Hierarchie legitimer Fragestellungen ist die historische Genese der Gegenwart. Ein klassisches Kriterium: wir wollen verstehen, wie die gegenwärtigen Strukturen entstanden sind – ein Kriterium, das auch und gerade für die Klassifikation der verschiedenen Epochen eine wichtige Rolle spielt.  Als Frühneuzeithistorikerin möchte ich dagegenhalten, dass gerade das Interesse für das Fremde, das Ungewöhnliche, das Ferne, Befremdliche, Andersartige erkenntnisfördernd ist, auch wenn es nicht oder nur schwer mit der Genese der Gegenwart in Verbindung gebracht werden kann. Denn gerade die Beschäftigung mit dem Anderen schult den Möglichkeitssinn, den Sinn für unsere eigenen blinden Flecken, für die Kontingenz unserer eigenen Selbstverständlichkeiten. Unter diesem Gesichtspunkt sind es gerade die auf den ersten Blick bizarren und unvertrauten Gegenstände, die ganz besonders lohnend und erkenntnisfördernd sind. Ich halte es zum Beispiel für ein absolutes Missverständnis, wenn manche Mediävisten bis heute glauben, ihre Gegenstände dadurch rechtfertigen und interessant machen zu müssen, indem sie zeigen, dass sich im Mittelalter schon alles so ähnlich verhielt wie heute bzw. schon immer zur Gegenwart hinführte. Genau das Gegenteil scheint mir der Fall zu sein. Ich finde es mindestens genauso sinnvoll, gerade das Fremdartige und Unvertraute an einem historischen Gegenstand zu thematisieren.

Und das dritte Kriterium ist natürlich das der politischen Wünschbarkeit, der „Relevanz“ im engeren Sinne, also das Kriterium, das auf den ersten Blick so besonders plausibel ist. Ich meine die Idee, dass man das erforscht, was uns gegenwärtig in unserer politischen Situation weiterhilft, was irgendwie zur Erkenntnis und damit zur Lösung aktueller Probleme beiträgt. Das ist ein außerordentlich verführerisches Kriterium. Ich will auch gar nicht grundsätzlich dagegen argumentieren. Es ist vollkommen legitim und naheliegend. Ich möchte nur davor warnen, unreflektiert so zu argumentieren, weil dabei die Gefahr des Anachronismus ganz besonders naheliegt. Wenn man etwa die Beschäftigung mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation damit begründet, dass man glaubt, daraus etwas zur Bewältigung gegenwärtiger Strukturprobleme der EU beitragen zu können, oder wenn man versucht, von der Subsistenzwirtschaft des Mittelalters etwas zur Bewältigung der Klimakrise zu lernen, dann ist die Gefahr groß, dass man den Gegenstand anachronistisch verzeichnet, weil man sich gerade auf die Elemente konzentriert, die einem bekannt und vertraut erscheinen. Gegen politisch begründete Erkenntnisinteressen als solche ist grundsätzlich natürlich nichts zu sagen; ich halte das aber nicht für ein Kriterium, das die höhere Würdigkeit eines Erkenntnisgegenstandes vor anderen begründet.
 

Wenn also alle drei Kriterien nicht geeignet sind, die Wahl historischer Gegenstände zu rechtfertigen, was gibt es dann für Auswahlkriterien? Ich würde sagen: keine – es kommt vielmehr auf die Art und Weise an, wie man mit einem Gegenstand umgeht. Neugier genügt.