von Caroline Arni

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27. Juni 2022

Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatement von Caroline Arni bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen".  Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Wintersemester 2021/22 im online-Format statt. Zeitgeschichte|online veröffentlicht die Eingangsstatements der Veranstaltung in einem Dossier. Die Vorträge wurden bis auf wenige Ausnahmen von der Audioaufnahme transkribiert und überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.


 

Geschichtliche Grundfragen
Teil II

Was ist eigentlich die historische Methode? Was bedeutet Vetorecht der Quellen?
Diskussion am 21. Januar 2022 (online)

Eingangsstatement von Caroline Arni (Universität Basel)
Ein Gedankengang in fünf Schritten

 

1     Das Vetorecht der Quellen

Zuerst eine Definition zur Vergegenwärtigung — ich zitiere Stefan Jordan:

Als „Vetorecht der Quellen" bezeichnet man eine geschichtstheoretische Denkfigur, nach der der quellenkritischen Deutung historischer Überreste die Funktion zukommt, historisch unwahre Aussagen als solche kenntlich werden zu lassen. Der Begriff wurde vermutlich von dem Bielefelder Begriffshistoriker und Geschichtstheoretiker Reinhart Koselleck (1923-2006) im Jahr 1977 eingeführt. Quellen, so Koselleck, „verbieten uns, Deutungen zu wagen oder zuzulassen, die aufgrund eines Quellenbefundes schlichtweg als falsch oder als nicht zulässig durchschaut werden können. Falsche Daten, falsche Zahlenreihen, falsche Motiverklärungen, falsche Bewußtseinsanalysen: all das und vieles mehr läßt sich durch Quellenkritik aufdecken."

Auch vergegenwärtigen will ich den Entstehungskontext der Denkfigur – nämlich die in den 1970er Jahren virulenten Debatten um Parteilichkeit vs. Objektivität (später abgelöst durch Debatten um Fiktionalität vs. Faktizität oder Subjektivität vs. Objektivität). Aus all dem ging folgende Bestimmung historiographischer Arbeit hervor:

1. Historische Deutung bildet nicht Vergangenheit ab, sondern interpretiert Quellen;

2. In die Interpretation fliessen Werte, Perspektiven, Standpunkte der Historiker*innen ein > daraus ergibt sich eine Theoriebedürftigkeit der Interpretation (um diese Faktoren zu explizieren und sie in ihren «ausserwissenschaftlichen» Aspekten zu kontrollieren);

3. der Spielraum der Interpretation ist insofern begrenzt, als manche Deutungen anhand von Quellen falsifiziert werden können (= Vetorecht der Quellen).

Für meinen nächsten Schritt nehme ich den Punkt mit der Theoriebedürftigkeit mit. Er steht selbst in einem Spannungsverhältnis zwischen zwei Positionen:

1. Historische Forschungen braucht zwingend eine Theorie nicht-historiographischer Herkunft (Geschichte nicht theoriefähig, weil sie das Konkrete und Partikulare zum Gegenstand hat).

2. Historiographie hat keinen Theoriebedarf, weil ihr Spezifisches eine Methode ist (=Quellenkritik).

Mich überzeugt beides nicht. Nicht weil die Wahrheit immer in der Mitte liegt, sondern weil die historische Praxis aus dem Hin und Her besteht. Aber ich will hier einen anderen Punkt weiterverfolgen: Was verstehen wir unter "Theorie" — und: woher kommen unsere "Theorien" eigentlich (bzw. das, was wir so nennen).

 

2     "Theorie"

"Theorie" ist in der Geschichtswissenschaft bekanntlich ein doppeldeutiger und im Gebrauch diffuser Begriff. Es gilt zu präzisieren, ob wir von "Geschichtstheorien" oder "Theorien in der historischen Praxis" sprechen, außerdem ob letztere Erklärungsmodelle oder Reflexionsinstrumente sind (ob wir also Theorien anwenden oder theoretisch denken) — und das alles ist nicht immer klar auseinanderzuhalten. Ich bestimme "Theorie" deshalb niederschwellig und verstehe darunter alles, was Historikerinnen einsetzen, wenn sie ihre Begriffe, Fragen und Gegenstandsbildung reflektieren, wenn sie also ihr Vorgehen begründen bzw. explizieren.

In der weiter oben erläuterten Bestimmung historiographischer Praxis kommt solcher Theorie eine Kontrollfunktion zu (neben VRQ). Sie eliminiert Parteilichkeit, Subjektivität und Fiktion nicht, aber hält sie in Schach. Bzw. allgemeiner: Theorie dient dazu, auseinanderzuhalten was in der Quelle steht (= was die Vergangenheit hinterlassen hat) und was die Historikerin in die Interpretation der Quelle einbringt. Im Postulat der Theoriebedürftigkeit verbirgt sich damit eine weitere Denkfigur: nämlich die der Vergangenheit als Reservoir, aus dem der (durch QK falsifizierungsfähige) Stoff für (begründungspflichtige) Fragen der Gegenwart kommt.

 

3     Ich sehe was, was du nicht siehst

Diese Denkfigur ist bedeutsam, weil sie eine spezifische, nämlich asymmetrische Relation zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit einrichtet (also asymmetrisch zu Ungunsten der Vergangenheit).

Mit Blick auf das VRQ erscheint das widersinnig. Schließlich muss die Historikerin stets bereit sein, sich korrigieren zu lassen, nämlich von einer Quelle, sprich: einer Hinterlassenschaft der Vergangenheit. Warum? Weil ihr diese Vergangenheit mehr oder weniger zugänglich, aber nicht verfügbar ist. Was geschehen ist, ist geschehen, die vergangenen Tage sind vergangen, die Toten tot. Ändern lässt sich nichts mehr. Diese Unverrückbarkeit begründet das Vetorecht der Quellen.

Worin also besteht die Asymmetrie zu Ungunsten der Vergangenheit? Sie besteht im epistemologischen Vorsprung, der in der Denkfigur der Vergangenheit-als-Antwortreservoir der Gegenwart als Ursprung von Fragen zukommt bzw.: der Gegenwart als Inhaberin der Hoheitsrechte über die Frage: "Worum geht es?" (was ist Gegenstand, was ist die Frage)

Nicht nur in der Geschichte gibt es so einen epistemologischen Vorsprung. Er ist auch sozialtheoretisch etabliert: in Strukturtheorien (die im Rücken der Akteure ihr Werk verrichten), auch in Theoremen des amor fati, des falschen Bewusstseins, der ideologischen Täuschung etc. In der Geschichte kommt dazu der zeitliche Abstand, der die Historikerin von ihrem Stoff trennt. Sie ist es, die die Folgen von Handeln — seien diese intendiert oder nicht, ausgeblieben oder eingetroffen — sieht.

 

4     Kritik des epistemologischen Vorsprungs

Nicht zufällig hat EP Thompson Kritik am Besserwissen der Historikerin in Zeitbegriffen formuliert: „These women (and these men) were for themselves and not for us: they were proto-nothing.“ Es geht an dieser Stelle um das Argument, Frauen in der Heimindustrie des 18. Jahrhunderts hätten nach dem Gleichheitsprinzip agiert, seien eine Art Proto-Feministinnen gewesen.[1] Doch, so Thompson: "They were not bugged by notions of equality (…)". Unsere Frage ist also nicht ihre Frage. Anstatt beides miteinander zu verwechseln, sollten wir uns dafür interessieren, welche Antworten die Menschen der Vergangenheit auf ihre Fragen gaben (Wertigkeit der Arbeit). > Die Frage, die Thompson nicht stellt: Wenn unsere Frage nicht ihre ist - könnte umgekehrt ihre Frage unsere sein?

Ich komme gleich darauf zurück, zunächst: Thompsons Kritik teilt mit der Kritik an den sozialtheoretischen Konfigurationen des epistemologischen Vorsprungs, dass sie eine Haltung einnimmt: Sie gesteht den untersuchten Akteuren zu, gleich gut über sich Bescheid zu wissen wie die Wissenschaftlerin. So hat Luc Boltanski gegen die Bourdieu’sche "kritische Soziologie" das Programm einer "Soziologie der Kritik" gerichtet, in dem nicht der Soziologe, sondern die Akteure ihre Verhältnisse aufklären. Es gilt auch für aktuelle sozialanthropologische Debatten im Zeichen der "Symmetrisierung". "Always leave a way out for the people", formuliert Eduardo Viveiros de Castro.

Allerdings geht die sozialanthropologische Diskussion einen Schritt weiter: Es gilt nicht nur den ‚native’s point of view‘ als solchen zu respektieren bzw. in seiner Eigenlogik zu erschliessen. Vielmehr gilt es darin theoretische Konzeptionen zu erkennen, die als solche ins sozialwissenschaftliche Repertoire aufgenommen und zur Analyse anderer Gesellschaften eingesetzt werden können (Fragen eröffnen oder Gegenstände vorschlagen). So dass eine Art konzeptuelle Rekursion in Gange kommt.

Für das Thompson-Beispiel würde das heißen: Es geht nicht nur darum, die Menschen der Vergangenheit vor einer Inanspruchnahme für Fragen der Gegenwart zu schützen (anders gewendet: es geht nicht einfach um radikale Historisierung bzw. die Vermeidung von Anachronismen). Vielmehr könnten wir uns dafür interessieren, wie ihre Konzeption von gerechter Arbeit die Analyse unserer Gegenwartsverhältnissen bereichern könnte. (Also umgekehrter Anachronismus.)

 

5     Schluss

Ich habe mich mit all dem vor ein paar Jahren in einem Aufsatz befasst. Mich hat dort interessiert, wie sich die Historische Anthropologie wieder stärker an sozialtheoretische Debatten anschließen ließe. Es hat mich aber auch interessiert – und es interessiert mich weiterhin:

1. Ob sich das Postulat einer Symmetrisierung auf das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart anwenden lässt. Denn dieses Verhältnis ist nicht gegeben (z.B. als «Gewordensein» der Gegenwart aus der Vergangenheit), vielmehr ist es Resultat einer In-Beziehung-Setzung. Auch das scheint mir eine geschichtliche Grundfrage.

2. Ob eine historiographische Praxis im Modus der Rekursion denkbar ist (wenn wir nicht nur Fragen der Gegenwart an den Stoff der Vergangenheit tragen, sondern auch Fragen der Vergangenheit an Stoff der Gegenwart).

Theoretische Impulse wären dann nicht nur eine Frage des Verhältnisses der Geschichte zu andern Disziplinen (im Modus der Abhängigkeit oder Autonomie). Und «Symmetrisierung» ginge nicht in einer Ethik der Anwaltschaft auf, sondern sie wäre theoretisch produktiv: bringt Fragen und Gegenstände ein.


 

[1] E.P. Thompson, Customs in Common, Penguin Books 1993, S. 320.