von Florian Peters

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1. Februar 2015

Gleich zwei ambitionierte historische Museen öffneten in den letzten Monaten östlich der Oder ihre Pforten: Zuerst das Europejskie Centrum Solidarności (Europäisches Solidarność-Zentrum) auf dem Gelände der einstigen Leninwerft in Danzig, kurz darauf das Muzeum Historii Żydów Polskich (Museum der Geschichte der polnischen Juden) in Warschau. Mit ihrem entschiedenen Bekenntnis zu einem pluralistischen und dialogorientierten Umgang mit der polnischen Geschichte, vor allem aber mit ihrer Orientierung auf eine transnationale, europäische Perspektive markieren beide Museen einen qualitativen Sprung in der polnischen Geschichtskultur. Dessen Dimensionen und Grenzen lassen sich jedoch erst dann recht ermessen, wenn man die jüngst eröffneten Häuser zum einen als Fortsetzung des anhaltenden Museumsbooms in Polen versteht und sie zum anderen vor dem Hintergrund der scharfen historischen Deutungskonflikte betrachtet, die aufs Engste mit dem spezifischen polnischen Weg aus dem Staatssozialismus verbunden waren.

Nicht zufällig entstanden beide Museumsneubauten an symbolisch aufgeladenen Orten der Streitgeschichte der letzten Jahrzehnte. Das  Solidarność-Zentrum steht in unmittelbarer Nähe des früheren Haupttors der inzwischen großenteils abgewickelten Danziger Werft, deren Belegschaft dem Regime mit ihrem Besetzungsstreik im August 1980 die Gründung der ersten unabhängigen Gewerkschaft des Ostblocks abtrotzte. Überragt wird es von den 40 Meter hohen Kreuzen des monumentalen Denkmals für die Werftarbeiter, die bei Massenprotesten im Dezember 1970 von Sicherheitskräften ermordet worden waren (Pomnik Poległych Stoczniowców 1970). Dieses Denkmal war im Dezember 1980 auf Betreiben der frisch gegründeten Solidarność eingeweiht worden und erinnerte nicht bloß an die zehn Jahre zuvor getöteten Arbeiter, sondern wurde selbst zum Symbol der größten Massenbewegung der jüngeren europäischen Geschichte. Nach deren Niederschlagung blieb es den politischen Eliten bis 1989 ein Dorn im Auge.

Auch das Warschauer Museum für die Geschichte der polnischen Juden wurde im direkten Umfeld eines höchst symbolträchtigen Denkmals errichtet: Sein Eingang befindet sich gegenüber dem Denkmal für die Helden des Warschauer Ghettos (Pomnik Bohaterów Getta) aus dem Jahre 1948. Ebenso wie das Danziger Werftarbeiterdenkmal war auch dieser Gedenkort lange hart umkämpft: Viele katholische Polen nahmen es den Kommunisten übel, dass der jüdischen Kämpfer des verzweifelten Ghettoaufstands vom April 1943 prominent gedacht wurde, die Soldaten und Opfer des ungleich größeren und verlustreicheren Warschauer Aufstands im August und September 1944 jedoch offiziell totgeschwiegen wurden. Die polnischen Kommunisten wiederum interpretierten den Ghettoaufstand zunächst als Teil des antifaschistischen, sprich: kommunistischen Befreiungskampfes, bis sie in den 1960er Jahren im Zuge der zunehmenden Nationalisierung ihrer Herrschaftslegitimation begannen, ihn zum Ort des polnischen Freiheitskampfes umzudeuten. Beides stieß auf erbitterte Kritik vonseiten Israels und der jüdischen Diaspora im Westen, denen der Ghettoaufstand als Ikone zionistischen Kampfgeistes galt. Als Willy Brandt im Dezember 1970 vor dem Ghetto-Denkmal in die Knie ging, war also durchaus nicht für alle Seiten klar, welchen Helden oder Opfern der deutsche Bundeskanzler mit dieser spektakulären Geste seine Reverenz erwies. In den 1980er Jahren schließlich, als die jüdische Identität des Gedenkortes überwiegend Akzeptanz gefunden hatte, konkurrierten hier Kommunisten und Solidarność-Opposition mit jeweils eigenen Gedenkveranstaltungen um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit.[1]

Beide Museen zehren also nicht so sehr von der Authentizität historischer Orte, sondern beziehen ihre symbolische Bedeutung von den authentischen Orten der Gedenkkultur, an denen sie erbaut wurden. So ist von den ausgedehnten Anlagen der in den Stürmen des Weltmarktes stark zusammengeschrumpften Danziger Schiffbauindustrie am Museumsstandort heute kaum mehr etwas zu sehen. Noch weniger lässt sich im heutigen Warschauer Stadtbild die Trümmerwüste erahnen, welche deutsche Einheiten nach der Niederschlagung des Ghettoaufstands hinterließen.  Zu vereinzelten Überresten der historischen Bebauung wie dem Arbeitsschutzsaal (Sala BHP) der Danziger Werft, in dem im August 1980 das historische Abkommen zwischen Streikkommission und Regierungsvertretern ausgehandelt und unterzeichnet wurde, setzt sich die expressive moderne Architektur der beiden Museumsneubauten kaum in Beziehung. Stattdessen verweisen sowohl das Solidarność-Zentrum als auch das jüdische Geschichtsmuseum auf die benachbarten Denkmäler sowie auf den Nimbus des zähen Ringens um das Gedenken und um die Deutung der Vergangenheit, der sich mit diesem verbindet.

Der polnische Museumsboom

Dieses unmittelbare räumliche und symbolische Nebeneinander von alten, lange Zeit polarisierenden Denkmälern und neuen, pluralistisch konzipierten Museen sticht besonders hervor, wenn man die beiden Neueröffnungen im Kontext des gegenwärtigen Museumsbooms in unserem östlichen Nachbarland betrachtet. Sie wären in ihrer heutigen Form kaum denkbar ohne den Bezug auf das bereits 2004 eröffnete Museum des Warschauer Aufstands (Muzeum Powstania Warszawskiego), das sich rasch zu einem wirkmächtigen Besuchermagneten entwickelte und damit unbestreitbar eine Vorreiterrolle für spätere Museumsprojekte in Polen einnahm. Dazu zählen außerdem das 2010 eröffnete Museum in der Krakauer Schindler-Fabrik, das noch im Bau befindliche Museum des Zweiten Weltkriegs (Muzeum II Wojny Światowej) in Danzig sowie schließlich das in Warschau geplante Museum der Geschichte Polens (Muzeum Historii Polski). Obwohl das Danziger Solidarność-Zentrum und das Museum der Geschichte der polnischen Juden anderen historischen Ereignissen gewidmet sind, entspringen sie doch demselben geschichtskulturellen Zusammenhang wie die Weltkriegsmuseen: Auch sie sind Ausdruck der voranschreitenden Musealisierung der polnischen Streitgeschichte und leiten daraus ihre gesellschaftliche Relevanz ab.

Auffällig ist jedoch, dass der räumlich-symbolische Nexus zwischen bestehendem Denkmal und neu errichtetem Museum, der für die beiden neuen Häuser konstitutiv ist, beim beispielgebenden Museum des Warschauer Aufstands fehlt. Mehr noch: Anstatt Denkmal und Museum als formal und funktional verschiedene Orte der Geschichtskultur komplementär nebeneinander zu stellen, verfolgt das Aufstandsmuseum in seiner architektonischen und inszenatorischen Konzeption geradezu das Ziel, beides in eins fallen zu lassen. So wurde das für sich genommen nicht außergewöhnlich imposante historische Gebäude des ehemaligen Elektrizitätswerks, in dem das Museum untergebracht ist, um einen Turm ergänzt, auf dem weithin sichtbar das aus den Buchstaben „P“ und „W“ (für Polska Walcząca – Kämpfendes Polen) zusammengesetzte Symbol des polnischen Untergrundstaats und die polnische Nationalflagge prangen. Um das Museumsgebäude herum wurde mit dem so benannten „Park der Freiheit“ eine veritable Memoriallandschaft angelegt, die klassische Formen des Totengedenkens wie eine „Mauer des Gedenkens“ mit den Namen aller im Aufstand gefallenen Kämpfer und eine Gedenkglocke integriert. Auch in den Ausstellungsräumen nehmen denkmalartige Elemente eine zentrale Rolle ein, so ein über mehrere Stockwerke reichender, als „Monument“ bezeichneter metallener Block, aus dessen Innerem ein durchdringendes Herzschlag-Geräusch ertönt.[2]

Das Aufstandsmuseum setzt sich mithin nicht in Beziehung zu bestehenden Gedenkorten, von denen es im Warschauer Stadtgebiet eine Vielzahl gibt – sondern es versucht, diese zu ersetzen. Es beruft sich auch nicht auf einen authentischen historischen Ort,[3] sondern verfolgt in erster Linie eine emotionalisierende Inszenierung der historischen Ereignisse. Indem die zum Zeitpunkt seiner Eröffnung existierende vielgestaltige Erinnerungslandschaft konsequent ausblendet wird, verzichtet es bewusst auf eine geschichtskulturelle Kontextualisierung seiner Botschaft. Stattdessen wird diese mithilfe eigens konstruierter memorialer Elemente absolut gesetzt. Paradoxerweise bleibt das Museums-Denkmal damit den Konventionen jener geschichtskulturellen Auseinandersetzungen verhaftet, die es mit allen Mitteln zu überwinden angetreten war: Das Museum macht sich zur Partei in dem bestehenden Deutungskonflikt, anstatt diesen zu historisieren.

Der überwältigende Publikumserfolg des Aufstandsmuseums rief deshalb Konkurrenzprojekte wie das in Danzig geplante Museum des Zweiten Weltkriegs auf den Plan, welches sich zwar mit seinem inszenatorischen Konzept durchaus an dem Warschauer Vorbild orientiert, inhaltlich jedoch eine reflexive, weniger polonozentrische Perspektive auf die Geschichte präsentieren will.[4] Dies schließt bezeichnenderweise auch eine historisierende Bezugnahme auf die vor Ort vorgefundene Memorialkultur ein: So richtete das Museum auf dem Gelände der Danziger Westerplatte, einem herausgehobenen Gedenkort der staatssozialistischen Ära, im Jahre 2009 eine Freilichtausstellung ein, die sowohl die historischen Überreste der dortigen Kämpfe in den ersten Septembertagen 1939 als auch deren gedenkkulturelles Nachleben bis hin zum monumentalen Westerplatte-Denkmal von 1966 aufbereitet und kontextualisiert.[5]

Die Ursprünge der umkämpften Geschichtskultur in den 1980er Jahren

Auch wenn die Museumsmacher den Herausforderungen des geschichtskulturellen Erbes also sehr unterschiedlich begegnen, bewegen sie sich doch stets in dem gemeinsamen Bezugsrahmen der hoch politisierten Auseinandersetzungen um die Deutung der polnischen Geschichte. Die besondere politische Aufladung historischer Kontroversen geht im Kern auf das letzte Jahrzehnt vor 1989 zurück, als Geschichte einen integralen Bestandteil des politischen Konfliktes zwischen Regime und Oppositionsbewegung bildete. Das „Entlügen“ (odkłamanie) der von den Kommunisten manipulierten Geschichte gehörte zu den wichtigsten Zielen, die sich die damaligen Oppositionellen auf die Fahnen geschrieben hatten. Nicht zufällig werden in den heutigen Museen eben jene historischen Ereigniskomplexe thematisiert, die auch damals schon im Mittelpunkt der Auseinandersetzung standen: der Zweite Weltkrieg vom Hitler-Stalin-Pakt bis zum Warschauer Aufstand sowie die Geschichte des antikommunistischen Protests in der Volksrepublik.

Während der sechzehn Monate der legalen Solidarność 1980/81 wurde nicht nur das Danziger Denkmal für den Arbeiteraufstand von 1970 errichtet, sondern es formierten sich auch erste bürgerschaftliche Initiativen, die es sich zur Aufgabe machten, die Geschichte der polnischen Juden dem Vergessen zu entreißen.[6] Auch der Warschauer Aufstand avancierte recht eigentlich im Verlauf der 1980er Jahre zum zentralen Kristallisationspunkt der polnischen Selbstverständigung über die Geschichte. So kam die Idee zur Gründung eines Museums für den Warschauer Aufstand erstmals 1981 auf. In der Rückschau aufschlussreich ist allerdings, dass Denkmal und Museum damals noch als deutlich voneinander unterschiedene Formen der Geschichtskultur wahrgenommen wurden: 1981 gründeten sich unabhängig von den staatlichen Behörden gleich zwei gesellschaftliche Komitees zur Erinnerung an den Warschauer Aufstand – eines sammelte Spenden für den Bau eines Aufstandsdenkmals, das andere strebte die Einrichtung eines Aufstandsmuseums an. Während die Museumsinitiative zunächst unbehelligt mit der Sammlung von Erinnerungsstücken begann und nach der administrativen Eingliederung in das Historische Museum der Stadt Warschau in den Mühlen der Bürokratie versandete, lieferte sich das Denkmalkomitee eine jahrelange heftige Auseinandersetzung mit den Behörden um die ästhetische und politische Ausgestaltung des geplanten Denkmals. Letzten Endes setzte sich das Regime durch, und niemand geringerer als General Jaruzelski legte zum 40. Jahrestag des Aufstands den Grundstein für das im August 1989 enthüllte und bis heute existierende Denkmal auf dem Plac Krasińskich am Rande der Warschauer Altstadt. Dem Aufstieg des Warschauer Aufstands zum unumstrittenen geschichtspolitischen Fixstern des postsozialistischen Polens taten die politischen Vereinnahmungsversuche beider Seiten keinen Abbruch, im Gegenteil.[7]

Im gleichen Zeitraum wurde der innerpolnische Konflikt um die historische Legitimation der kommunistischen Herrschaft von den ersten Ausläufern der in den USA und in Westeuropa aufkommenden Holocaust-Erinnerung überlagert. Weil der Massenmord an den Juden Europas von den deutschen Besatzern zu einem erheblichen Teil auf polnischem Territorium durchgeführt worden war, aber auch wegen des hohen Stellenwerts der eigenen Opferrolle für die kollektive Selbstdeutung der Polen, konnte die polnische Debatte von diesen Fragen nicht unberührt bleiben. Dies galt in besonderem Maße für den zentralen Erinnerungsort Auschwitz, dessen vordem hegemoniale staatssozialistisch-antifaschistische Deutung im Laufe der 1980er Jahre unter dem maßgeblichen Einfluss des polnischen Papstes Johannes Pauls II. in den Hintergrund gedrängt wurde. Gerade die katholisch-nationale Aneignung von Auschwitz beglaubigte freilich aufs Neue den besonderen Rang der Polen unter den Opfern des nationalsozialistischen Terrors und verstellte damit den Blick auf den spezifischen Charakter der antisemitischen Ausrottungspolitik Hitlerdeutschlands.[8]

Im Hochgefühl der eben erst mühsam den moskautreuen Kommunisten abgerungenen Souveränität über die Deutung der eigenen Geschichte fiel es umso schwerer, Stimmen von außen zu akzeptieren, die auf die historische Singularität des jüdischen Schicksals pochten oder gar am polnischen Selbstbild der stets kämpferischen und opferbereiten Nation mit weißer Weste kratzten. Claude Lanzmanns Dokumentarfilm „Shoah“ stieß deshalb 1985 in Polen überwiegend auf Ablehnung – wenngleich die Tatsache, dass er in voller Länge in einigen Kinos und in einer gekürzten Fassung sogar im Staatsfernsehen gezeigt wurde, bereits ein unübersehbares Zeichen der geschichtskulturellen Öffnung gegenüber dem Westen war. Spätestens 1987, als der Krakauer Literaturkritiker Jan Błoński in der liberal-katholischen Wochenzeitung Tygodnik Powszechny (Allgemeines Wochenblatt) erstmals die Frage nach der moralischen Last der polnischen Zeugenschaft am Holocaust aufwarf und damit eine heftige Debatte vom Zaun brach, formierten sich jene weltanschaulichen Lager und reflexhaften Argumentationsmuster, die den wiederkehrenden Streit um Kreuze in Auschwitz und die Diskussionen über die polnisch-jüdische Geschichte weit über 1989 hinaus prägen sollten. Dass die von Jan Tomasz Gross aufgedeckte direkte Mittäterschaft der polnischen Einwohner des ostpolnischen Kleinstädtchens Jedwabne an der Ermordung ihrer jüdischen Mitbewohner im Jahr 2000 in der polnischen Öffentlichkeit eine nochmals deutlich verschärfte Debatte über diese Fragen auslöste, war insofern nur eine logische Fortschreibung der Konstellation, die sich gegen Ende der 1980er Jahre herausgebildet hatte.[9]

Jenseits der Streitgeschichte?

Die in den letzten Monaten eröffneten Museen in Danzig und Warschau erwuchsen aus der Ära dieser Streitgeschichte und markieren zugleich in gewisser Hinsicht ihr Ende. Verschrieb sich das Museum des Warschauer Aufstands noch der Fortsetzung des Kampfes um die historische Deutungshoheit mit anderen, technisch aufwändigeren Mitteln, so bemühen sich beide Neueröffnungen sichtlich um eine reflexivere Herangehensweise. Distanz und Nähe stehen dabei freilich in einem mehrfachen Spannungsverhältnis, das schon in der Wahl der Standorte in unmittelbarer Nähe der symbolträchtigen Denkmäler als hergebrachter Repräsentationen polnischer Streitgeschichte zum Ausdruck kommt. Die Museen antworten unverkennbar auf die Denkmäler und partizipieren an deren Aufladung mit symbolischer Bedeutung, signalisieren aber mit der ganzen Wucht ihrer Stahl und Glas gewordenen Modernität eine neue Qualität im Umgang mit Geschichte und Erinnerung. Einerseits haben die Emotionalität und Dringlichkeit der historischen Debatten der Vergangenheit auch in den multimedial inszenierten Museumswelten von heute ihre Spuren hinterlassen, andererseits treten beide Museen mit dem expliziten Anspruch an, die scharfe Polarisierung und die nationale Fixierung der bisherigen polnischen Geschichtskultur zu überwinden.

Der technische und inszenatorische Aufwand, den die beiden neueröffneten Häuser treiben, um ihren Besucherinnen und Besuchern Geschichte nahezubringen, ist im wahrsten Sinne des Wortes beeindruckend. Mit Blick auf ihre umfangreiche Ausstattung mit multimedialen, interaktiven, in jedem Falle aber erlebnisträchtigen Installationen wird ihnen in Polen gern lobend bescheinigt, sie seien nowoczesny, also modern.[10] Tatsächlich haben sie mit dem Aufstandsmuseum gemein, dass sie von den Möglichkeiten multimedialer Inszenierung intensiv Gebrauch machen und diese in den Dienst einer narrativen, chronologisch organisierten Präsentation von Geschichte stellen. Alle diese Museen wollen den Besucher gleichsam auf eine Zeitreise in die Vergangenheit mitnehmen. Sie unterscheiden sich jedoch erheblich darin, wie kohärent die erzählten Geschichten konstruiert sind, inwiefern sie verschiedene Perspektiven und Reflexionsebenen integrieren und ob sie die Besucherinnen zu eigenen Fragen an die Geschichte inspirieren, anstatt letztgültige Antworten vorzugeben.

So wird im Museum der jüdischen Geschichte in Warschau ein vieldeutiges Panorama aus Licht- und Schattenseiten des tausendjährigen jüdisch-polnischen Zusammenlebens entworfen. Die dezidiert narrative Form der Präsentation trägt hier vor allem dazu bei, die jahrhundertelange Verflechtung polnischer und jüdischer Geschichte zu akzentuieren und die Ausstellung als Gegenentwurf zu der in den letzten Jahrzehnten dominierenden exklusiven Fokussierung auf den Holocaust zu positionieren. Gewiss lässt die ästhetisch herausgehobene Präsentation des Abschnitts zum Holocaust keinen Zweifel daran, dass dieser gerade für die polnische Geschichte eine besondere Zäsur bedeutet. Ebenso deutlich wird aber, dass das Museum über die hitzigen Debatten der letzten Jahrzehnte hinausweisen will, anstatt in diesen nochmals Partei zu ergreifen. Dementsprechend wollen die Ausstellungsmacherinnen ihr Haus ausdrücklich nicht als Holocaust-Museum verstanden wissen, sondern vielmehr als „Ausgangspunkt für Debatten sowohl über die hellen als auch über die dunklen Seiten der polnisch-jüdischen Vergangenheit“[11]. Im Rahmen der von ihnen gepflegten gelassenen Darstellungsweise werden auch heikle Aspekte wie der Pogrom von Jedwabne nicht schweigend übergangen, sondern ebenso thematisiert wie die umstrittene Geschichte des Ghettodenkmals und die letztlich offene Frage nach Gegenwart und Zukunft der gemeinsamen polnisch-jüdischen Geschichte.

Auch die von unverkennbarem Stolz auf das Erbe der Solidarność-Bewegung geprägte Danziger Ausstellung ist mehr als eine technisch modernisierte Variante des pathetischen Denkmals von 1980. Zwar bleibt die monumentalische Geschichtsauffassung hier nicht gänzlich vor der Tür. Indem die Ausstellungsmacher ihre Erzählung der Geschichte der Solidarność mit einem teleologischen „Triumph der Freiheit“ enden lassen, legen sie eine recht eindeutige Deutung des Vergangenen nahe. Dennoch ist auch ihre Erzählhaltung nicht mehr vom Pathos des Kampfes um die historische Wahrheit bestimmt, der ein für alle Mal zum Durchbruch verholfen werden soll. Anstatt sich an den Gegnern von gestern abzuarbeiten, will das Solidarność-Zentrum eher Fragen nach der Verantwortung für morgen anregen. Inwiefern dies gelingt, wird sich neben der historisch ausgerichteten Dauerausstellung auch an dem umfangreichen wissenschaftlichen, didaktischen und kulturellen Programm des Zentrums erweisen müssen.[12]

Ausschlaggebend für die inhaltliche Öffnung und Pluralisierung ist hier wie dort, dass beide Museen sich nicht als Fortsetzung eines innerpolnischen Selbstgesprächs verstehen, sondern sich explizit auch an ein europäisches und internationales Publikum wenden. Das Europäische Solidarność-Zentrum trägt diesen Anspruch bereits im Namen und im Museum der Geschichte der polnischen Juden war für die Gestaltung der Dauerausstellung sogar eine internationale Kuratorengruppe verantwortlich. Hier lässt sich der transnationale Charakter des Projekts außerdem an seiner Träger- und Finanzierungsstruktur ablesen: Neben Zuwendungen des polnischen Kulturministeriums und der Stadt Warschau wurden die Kosten in nennenswertem Umfang aus privaten Spendenmitteln aufgebracht, die das Warschauer Jüdische Historische Institut mithilfe seiner Trägerstiftung weltweit eingeworben hatte. Dass sowohl in Danzig als auch in Warschau in finanzieller Hinsicht nicht gekleckert, sondern geklotzt wurde, lässt sich ebenfalls nicht zuletzt auf die internationale Strahlkraft zurückführen, die man sich in Polen von beiden Museen erhofft. Ohne den Wunsch nach internationaler Sichtbarkeit hätten die in die Neugründungen investierten Millionenbeträge wohl kaum mobilisiert werden können.[13]

Indem sie die nationale Bauchnabelperspektive zugunsten einer breiteren, europäisch kontextualisierten Sichtweise zu überwinden suchen, stellen beide Museen einen geschichtskulturellen Quantensprung dar, der über die vermeintlichen Segnungen der multimedialen Moderne weit hinausgeht. Ihr Bekenntnis zu einer selbstkritischen und dialogorientierten Auseinandersetzung mit liebgewonnenen nationalen Geschichtsbildern fällt gerade in diesen Tagen umso deutlicher ins Auge, als einige hundert Kilometer weiter östlich in Russland und der Ukraine die ungebrochene Berufung auf die sowjetischen Mythen des „Großen Vaterländischen Krieges“, die geschichtskulturell tief verankerte Warnung vor „ukrainischen Faschisten“, aber auch die Rehabilitierung zweifelhafter nationaler Vorkämpfer wie Stepan Bandera erneut Hochkonjunktur haben.[14] Vor diesem Hintergrund sind die neueröffneten historischen Museen in Warschau und Danzig zugleich beredter Ausdruck des gewachsenen Selbstbewusstseins Polens, das sich seines Platzes in Europa neu versichern möchte.

Nachdem sich die europäische Dimension der polnischen Geschichte im 20. Jahrhundert lange darauf beschränkte, dass hier paradigmatische Ereignisse der europäischen Geschichte ihren Ort fanden – vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs über den Holocaust bis hin zum 1989 von Erfolg gekrönten friedlichen Widerstand gegen den Staatssozialismus –, schicken sich die neuen Museen nun an, das europäische Geschichtsbild mit der polnischen Sicht der Dinge zu bereichern. Die Geschichte, die Polen seinen Nachbarn und Gästen zu Gehör bringen möchte, erzählt also nicht nur von der Solidarność-Bewegung und tausend Jahren polnisch-jüdischer Vergangenheit. Sie lässt sich auch als vorläufige Bilanz der umkämpften Selbstverständigung über die eigene Geschichte in den letzten Jahrzehnten verstehen. Für Anhänger protestantisch-mühseliger „Aufarbeitung“ der Vergangenheit und DIN-normierter geschichtsdidaktischer Nüchternheit mag das musealisierte Erbe dieser Streitgeschichte überraschend munter, emotional und zuweilen ein wenig suggestiv daherkommen - dennoch lohnt es sich zuzuhören.

 

Mehr zum Thema:

Monika Heinemann: Das Museum des Warschauer Aufstands
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HSK-Rezension: Ruth Leiserowitz: POLIN. Museum der Geschichte der polnischen Juden... 

 

 

 

 

 

 

 

 

[1]  Vgl. Stephan Stach: Dissidentes Gedenken. Der Umgang Oppositioneller mit Holocaustgedenktagen in der Volksrepublik Polen und der DDR in den 1980er Jahren. In: Peter Hallama / Ders. (Hg.): Gegengeschichte. Zweiter Weltkrieg und Holocaust im ostmitteleuropäischen Dissens. Leipzig 2015 (im Erscheinen); Renata Kobylarz: Walka o pamięć. Polityczne aspekty obchodów rocznicy powstania w getcie warszawskim 1944-1989 [Kampf um die Erinnerung. Politische Aspekte der Feierlichkeiten zum Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto 1944-1989]. Warszawa 2009.
[2] Detailliert dazu Monika Heinemann: Das Museum des Warschauer Aufstands. In: Zeitgeschichte-online, Juli 2014 (Zugriff 22.12.2014).
[3] Zwar fanden während des Warschauer Aufstands auch in der Umgebung des heutigen Museumsgebäudes Kampfhandlungen statt, wie nach Eröffnung des Museums bekannt wurde. Diese waren aber weder von besonderer Bedeutung für den Aufstand als ganzen, noch werden sie in der Ausstellung des Museums thematisiert oder gar als Authentifizierungsinstrument genutzt (abgesehen von einer nachträglich angebrachten Gedenkplakette am Gebäude). – Für diesen Hinweis danke ich Monika Heinemann.
[4] Siehe Paweł Machcewicz: Das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig. Die polnische und europäische Idee, die gemeinsame Geschichte zu erzählen. In: Polen-Analysen Nr. 56 vom 1.9.2009, S. 2-8, (Zugriff 22.12.2014).
[5] Informationen zu dieser Freilichtausstellung finden sich auch in englischer Sprache auf der Webseite des Museums (Zugriff 22.12.2014). – Das noch im Bau befindliche Museumsgebäude entsteht ebenfalls in Sichtweite eines prominenten Gedenkortes aus der staatssozialistischen Zeit, nämlich der Polnischen Post in Danzig. Es bleibt abzuwarten, ob und wie diese räumliche Nähe in der künftigen Dauerausstellung aufgegriffen wird.
[6] Vgl. Michael C. Steinlauf: Bondage to the dead. Poland and the memory of the Holocaust. Syracuse 1997, S. 93-121.
[7] Siehe dazu detailliert Florian Peters / Joanna Urbanek: Traditionen des Widerstands und des Warschauer Aufstands in der Oppositionsbewegung im spätsozialistischen Polen. In: Hallama / Stach (Hg.): Gegengeschichte (wie Anm. 1).
[8] Vgl. Jonathan Huener: Auschwitz, Poland and the politics of commemoration, 1945-1979. Athens 2003, S. 200-225.
[9] Vgl. Piotr Forecki: Reconstructing memory. The Holocaust in Polish public debates. Frankfurt/Main 2013; Geneviève Zubrzycki: The crosses of Auschwitz. Nationalism and religion in post-communist Poland. Chicago 2006.
[10] Vgl. dazu kritisch (am Beispiel ethnographischer Museen) Paweł Krzyworzeka: Muzea w pogoni za nowoczesnością. O możliwościach wykorzystania etnografii w zarządzaniu i zarządzania w etnografii [Museen auf der Jagd nach Modernität. Über die Nutzungsmöglichkeiten von Ethnografie im Management und von Management in der Ethnografie]. In: Zbiór wiadomości z antropologii muzealnej [Nachrichten aus der Museumsanthropologie], 2014, Nr. 1, S. 177-198,  (Zugriff 22.12.2014).
[11] So die Selbstbeschreibung auf der Webseite des Museums (Zugriff 22.12.2014).
[12] Für eine detaillierte Besprechung der Ausstellung siehe meinen Beitrag für H-Soz-Kult, 10.01.2015, .
[13] Allein die Baukosten für das Solidarność-Zentrum beliefen sich auf 231 Millionen Złoty (gut 55 Mio. Euro, davon fast die Hälfte aus EU-Mitteln); die Ausstellung kostete weitere 38 Mio. Złoty (9 Mio. Euro). In den Neubau des Museums der Geschichte der polnischen Juden wurden 180 Mio. Złoty (43 Mio. Euro) aus öffentlichen Mitteln investiert, während die spendenfinanzierte Dauerausstellung sogar mit 140 Millionen Złoty (knapp 34 Millionen Euro) zu Buche schlug. Die Bundesrepublik Deutschland beteiligte sich hier mit 5 Mio. Euro an den Baukosten; das museumspädagogische Programm wird mit weiteren 3,2 Mio. Euro aus dem norwegischen Ausgleichsfonds für die Teilnahme des Nicht-EU-Mitglieds Norwegen am Europäischen Binnenmarkt bezuschusst. – Alle Zahlen nach eigenen Angaben der Museen.
[14] Vgl. Guido Hausmann/Tanja Penter: Der Gebrauch der Geschichte. Ukraine 2014: Ideologie vs. Historiographie. In: Osteuropa 64 (2014), Nr. 9/10, S. 35-50.