Perestroika, Glasnost, ständig neue Nachrichten aus dem östlichen Europa und die Sowjetunion als Dauerthema. Von diesem Land ging in diesen Zeiten des Umbruchs eine große Faszination aus, vielleicht besonders weil ich bis dato sehr wenig Berührungspunkte mit dem östlichen Europa gehabt hatte. Die Neugier war jedenfalls geweckt und im Herbst 1988 nahm ich an der Universität Konstanz ein Studium der Slavistik und Geschichte auf. Allerdings war es zu diesem Zeitpunkt dort noch nicht möglich, das Naheliegende, die Osteuropäische Geschichte, zu vertiefen. Dies änderte sich zwei Jahre später als Karl Schlögel auf die neu eingerichtete Professur für Osteuropäische Geschichte berufen wurde. Keine Selbstverständlichkeit, hatte der Berufene doch herausragende Bücher verfasst, aber keine klassische Hochschulkarriere durchlaufen. Sein Probevortrag „Russische Revolution und zivile Gesellschaft“ unterschied sich von dem der übrigen Kandidat:innen. Sein Zugang zur Geschichte war faszinierend anders, kultur- und alltagsgeschichtlicher und irgendwie auch von der Gegenwart geprägt. Die an den Vortrag anschließende Gesprächsrunde belegte eindrücklich den scharfen Blick auf das sich rasant veränderte Geschehen im östlichen Europa, der auf intensiver eigener Anschauung beruhte. Wir hatten den Eindruck, von ihm beides lernen zu können: die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bei gleichzeitigem Blick auf die sich im Umbruch befindende Gegenwart.
Neben den klassischen Inhalten der osteuropäischen, insbesondere russisch-sowjetischen Geschichte, unterrichtete Karl Schlögel in Konstanz immer auch Themen, die ihn aktuell umtrieben. Manche Lehrveranstaltungen hatten explorativen Charakter, wir nahmen sozusagen an etwas teil, das noch nicht fertig war. Das war im Kontext eines großangelegten Drittmittelprojekts die Russische Emigration in Deutschland, im Zusammenhang mit dem sich verändernden Geschichtsbewusstsein und der Öffnung der russischen Archive nach 1991 der Stalinismus oder eine Geschichte Russlands entlang der Wolga. Letzteres zu einem Zeitpunkt, in der Flussgeschichte noch weit davon entfernt war, ein allgemein anerkanntes Forschungsfeld zu sein.
Ein Hauptseminar zur Stachanov-Bewegung war nicht nur für mich der Impuls zur Auseinandersetzung mit dem Stalinismus, die später in meine Dissertation zur Geschichte des Gorki-Parks münden sollte. Jene Lehrveranstaltung im kleinen Kreis nahm die Geschichte der sowjetischen Industrialisierung nicht nur wirtschaftshistorisch als staatliches Großprojekt in den Blick. Wir lasen Aufsteigerbiographien und studierten die sich unter dem Druck von Landflucht und Neugestaltung rasant verändernden Städte, befassten uns mit den Lebensverhältnissen und -welten von Arbeiter:innen und Ingenieur:innen. Per Fernleihe wurden mehrere Jahrgänge der großformatigen Propaganda-Zeitschrift USSR im Bau bestellt. Anhand dieser beeindruckenden Quelle lernten wir viel über kritische Lektüre und die Macht des Visuellen, das in der sowjetischen Geschichte eine so wichtige Rolle spielt.
Karl Schlögel machte uns immer wieder auf Orte und kulturelle Formen aufmerksam, die von zentraler Bedeutung für den Soviet Way of Life waren, aber „keine Spur in der Soziologie oder in der Historigraphie hinterlassen“ haben, wie er es 1998 in seinem Aufsatz Kommunalka – oder Kommunismus als Lebensform formuliert hat. Es ging darum die „Topographie der sowjetischen Lebenswelten“ zu erschließen, und wir bekamen eine lange Liste mit zu erforschenden Themen, deren Umfang stetig wuchs. Darauf fand sich die Geschichte der Kommunalka und ihrer Bewohner, der Großbaustellen, der alltäglichen Versorgung der Menschen durch Beziehungen und Schwarzmarkt, des Geschmacks der Massen und der High Society, der Datschen- und Freizeitkultur ebenso wie die Fragen nach bäuerlichem Widerstand während der Kollektivierung oder nach der Geschichte von Städten abseits des Zentrums. Es ging dabei nicht um eine Trennung der Geschichte von „oben“ und „unten“, von Alltag und politischem Großgeschehen oder von Kultur- und Gewaltgeschichte. Es ging um einen Zugang, der das „unvereinbar Scheinende“ zusammenbringt, um zu einem besseren Verständnis des Stalinismus zu kommen. Karl Schlögels preisgekrönte Monographien Terror und Traum (2008) und Das sowjetische Jahrhundert (2017) demonstrieren diesen Zugang beispielhaft. Manche der dort abgehandelten Themen sind mittlerweile gut erforscht, für andere lesen sich seine Ausführungen wie anregende Proposals für künftige Forschungsprojekte.
Karl Schlögel bot uns aber nicht nur interessante Vorlesungen und Forschungsvorhaben. Er hielt uns immer an, die Augen aufzuhalten – nicht nur im östlichen Europa, sondern auch in Deutschland nach dem Mauerfall. Reisen, in Augenschein nehmen, vor Ort sein, ungewöhnlich Routen einschlagen, genau hinsehen, das scheinbar Belanglose beobachten, hinterfragen und historisch einordnen – das bekamen wir vermittelt. Es ging um eine Landeskunde im besten Sinn. Unerlässlich dafür war die „Augenarbeit“, die er in seinem Buch Im Raume lesen wir die Zeit beschrieben und in Moskau lesen bereits 1984 eindrucksvoll umgesetzt hatte. Diese Inspiration nahmen wir mit zu unseren Studienaufenthalten in Russland und auf unsere Reisen durch den postsowjetischen Raum, sei es auf der Wolga oder dem Jenissei, in Norilsk oder Slawutytsch.
In Frankfurt an der Oder, wo Karl Schlögel seit 1994 an der neugegründeten Viadrina lehrte, rückten weitere Themen in den Fokus: die Stadt Frankfurt selbst, die gesamte (Grenz-) Region, die ostelbischen Herrenhäuser, die Geschichte der Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen Europa (bevor das Thema in der Forschung Konjunktur hatte), die polnische Geschichte und natürlich die Auswirkungen des politisch-gesellschaftlichen Wandels, der in vollem Gang war. Dabei ging es nicht um theorielastige Transformationsforschung, sondern um das Ausmachen und Verstehen von Zeugnissen und Protagonisten des Umbruchs. Dazu zählte die karierte Polypropylen-Tasche gleichermaßen wie Lkw-Fahrer und Gebrauchtwagenhändler.
Unermüdlich organisierte er an der Viadrina Vorträge, Lesungen, Podiumsdiskussionen, Workshops oder Exkursionen. Die Nähe zum Osten, Polen nur ein Spaziergang über die Stadtbrücke entfernt, das faszinierte. Für diejenigen, die ihm vom Bodensee an die Oder gefolgt waren, stellte dies ein Kontrastprogramm dar. Nicht mehr weit weg, sondern ganz nah dran. Die Aktivitäten im Umfeld des Lehrstuhls waren entsprechend vielfältig: Rudern auf der Oder, Tagesausflüge nach Eisenhüttenstadt, um die nach sowjetischem Vorbild geplante Stahlstadt zu erkunden oder mehrtägige Exkursionen gen (Nord-)Osten – im universitätseigenen VW-Bus nach Kaliningrad oder mit dem Zug nach Lublin und Umgebung.
Karl Schlögel hat Themen, die ihn seit jeher beschäftigen, die sich wie ein roter Faden durch seine Arbeit ziehen. Doch dabei ist es nie geblieben, es kommt immer Neues hinzu – jüngst hat er mit American Matrix ein Buch über Amerika vorgelegt.
Die Annexion der Krim 2014 und der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine seit 2022 bedeuteten auch für ihn Schock und einschneidende Zäsur, immense Herausforderung und wieder etwas Neues, dem er sich schonungslos stellt. Kein Rückzug, sondern abermals mit voller Kraft ins Geschehen. Er hat öffentlich die eigene Russlandfixierung eingestanden und setzt sich – „Gestrandet auf der Sandbank der Zeit“ – nun seit Jahren systematisch und intensiv mit der Ukraine auseinander. Das Ergebnis sind einerseits Publikationen und Vorträge. Zum andern hat er es konsequent auf sich genommen, seine Stimme als hochangesehener und bekannter Intellektueller öffentlich für die Ukraine, gegen ahnungslose Russlandversteher:innen und für die Freiheit Europas zu erheben.
Herzliche Gratulation an Karl Schlögel und großen Dank für Jahrzehnte der Inspiration und unermüdliches Engagement.
Zitation
Katharina Kucher, Vermittler von Welten und Zeiten. Karl Schlögel zur Verleihung des Friedenpreises des deutschen Buchhandels, in: Zeitgeschichte-online, , URL: https://www.zeitgeschichte-online.de/themen/vermittler-von-welten-und-zeiten