von Henning Türk

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31. Januar 2023

Seit dem Beginn des Krieges Russlands gegen die Ukraine im Februar letzten Jahres ist die Energieversorgung in Europa zu einem zentralen Thema geworden. Durch die fehlenden Gaslieferungen aus Russland und den Stopp des Imports an russischem Öl kann die bisherige Struktur der Energieversorgung in Deutschland, aber auch in den anderen Ländern Europas, nicht mehr aufrechterhalten werden. Deutschland, das vor Ausbruch des Krieges ca. 55 Prozent seines Gasimports aus Russland bezog, steht damit energiepolitisch vor einem Scherbenhaufen. Die Strategie, den Weg bis zur vollständigen Energieversorgung aus erneuerbaren Energien vor allem durch den Bezug des günstigen russischen Pipelinegases zu beschreiten, hat sich als fatal erwiesen. Inwiefern ausreichend Gas in den nächsten Monaten zur Verfügung stehen wird, hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem vom Verlauf des Winters.

In der Diskussion über den Umgang mit der Energiekrise schwirrten und schwirren viele Ideen und Konzepte umher: Energiesparvorgaben, Gasumlage, Gasdeckel, Strompreisbremse, Höchstpreise für Ölimporte, Tankrabatt, Energiezuschüsse usw. Einiges ist mittlerweile bereits Gesetz geworden, andere Vorschläge haben sich als wenig durchdacht erwiesen und wurden nicht weiterverfolgt. Insgesamt sind die politischen Signale widersprüchlich und schwanken zwischen einer Subventionierung des Energieverbrauchs und Anreizen zum Energiesparen. Bei den Entscheidungen spielt auch eine Rolle, dass wir gar nicht überblicken können, wie lange die Engpässe bei der Energieversorgung anhalten werden. Lohnt es sich also, im Umgang mit der akuten Mangellage strukturelle Weichen für die Zukunft zu stellen, obwohl in ein paar Jahren vielleicht wieder ein ganz anderes Szenario vorherrschend sein kann? Historikerinnen und Historikern, die sich mit der Geschichte der Energieversorgung und der Energiepolitik beschäftigen, kommt dieses Agieren in unsicheren Situationen bekannt vor. Immerhin gab es bereits 1973 die erste große Energiekrise, damals beim Öl. Wie ging man 1973 mit der Krise um?

 

Historikerinnen und Historiker als „Besserwisser“: Von der Ölkrise zur Ölpreiskrise 1973/74

Historikerinnen und Historiker haben den Vorteil, dass sie den Verlauf der Geschichte, über die sie schreiben, in der Regel schon kennen. Sie wissen wie etwas ausgegangen ist, welche Wirkungen ein Ereignis hatte usw. Das sieht man bei der Ölkrise sehr schön. Während sich die Zeitgenoss*innen 1973/74 in einer Ölkrise wähnten, haben die Historikerinnen und Historiker sie im Nachhinein eines Besseren belehrt. Sie haben nämlich festgestellt, dass es so schlimm gar nicht war. Die Öllieferungen in die Bundesrepublik seien in eher unbedeutender Weise zurückgegangen. Viel entscheidender und in seiner Wirkung nachhaltiger als die kurzfristige Verknappung der Öllieferungen sei die Vervierfachung des Ölpreises gewesen. Deshalb sei es wesentlich angemessener von einer „Ölpreiskrise“ zu sprechen. Diese begriffliche Verschiebung hat sich in der Forschung weitgehend durchgesetzt.[1] Doch ist der Begriff der „Ölpreiskrise“ dem Gegenstand auch angemessen?

Auslöser für die Ölkrise 1973 war der Jom-Kippur-Krieg, der durch einen Angriff Syriens und Ägyptens auf Israel am 6. Oktober 1973, dem jüdischen Versöhnungsfest (Jom Kippur), begann. Zur Unterstützung Syriens und Ägyptens beschlossen die arabischen Ölförderländer ein Embargo gegen die als israelfreundlich eingestuften USA und die Niederlande, mit ihrem zentralen Ölhafen Rotterdam. Über diesen bezog auch die Bundesrepublik einen Großteil ihres Öls. Einige Länder, unter ihnen auch die Bundesrepublik, wurden von den arabischen Ölförderländern als neutral eingestuft. Diese sollten von der angekündigten Drosselung der Produktion getroffen werden, die jeden Monat um jeweils fünf Prozent zurückgefahren werden sollte.

Auf diese Situation musste die Politik reagieren. Aber vieles war unklar: Wieviel Öl würde tatsächlich in der Bundesrepublik ankommen? Wie könnte sich die monatliche Reduzierung auswirken? Was würde passieren, wenn die Bundesregierung Gegenmaßnahmen ergreifen würde? Bestand die Gefahr, dass die Bundesrepublik dann nicht mehr als neutrales Land eingestuft, sondern womöglich auch boykottiert würde? Das waren wichtige Fragen, denn der Anteil des Öls am Energiemix in der Bundesrepublik betrug 1972 55% Prozent, das zum Großteil importiert wurde.[2] Zentrale industrielle Branchen, wie etwa die chemische Industrie, aber auch der Verkehr und die Wärmeversorgung der Haushalte hingen vom Öl ab.

In dieser offenen, kontingenten Situation mussten die Politiker handeln. Sie hatten das Gefühl, ebenso wie weite Teile der Bevölkerung, sich in einer Krisensituation zu befinden. Sie mussten entscheiden, obwohl sie die Lage nicht genau kannten und bisherige etablierte Muster zur Interpretation der Situation aufgrund ihrer Neuartigkeit nicht zur Verfügung standen. Dieses Agieren in Unsicherheit wird von dem Begriff der Ölpreiskrise nicht erfasst.

 

Entscheidungen in Unsicherheit: Die politischen Maßnahmen der Bundesregierung 1973/74

Die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) vollführte in ihren politischen Entscheidungen und Verlautbarungen eine Gratwanderung. Auf der einen Seite wollte sie eine übertriebene Panik, die zu Hamsterkäufen führen würde, vermeiden, und auf der anderen Seite musste sie der Bevölkerung die Gefahr deutlich vor Augen führen, um die Menschen zum Energiesparen zu bewegen.[3] Ein zentraler Beschluss der Bundesregierung war das „Gesetz zur Sicherung der Energieversorgung bei Gefährdung oder Störung der Einfuhren von Mineralöl oder Erdgas“ (Energiesicherungsgesetz), das zügig durch den Bundestag gebracht wurde und bereits am 10. November 1973 in Kraft trat. Seine überarbeitete Version bildet auch heute noch die Grundlage für viele Entscheidungen von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Die Grünen) und wurde im Laufe dieses Jahres aufgrund des drastischen Rückgangs beim Gasimport mehrfach angepasst.

Auf der Basis des Energiesicherungsgesetzes erließ die Bundesregierung am 19. November 1973 ein Fahrverbot für die nächsten vier Sonntage. Zudem galt für Autobahnen eine Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h und für alle anderen Straßen von 80 km/h. Die Verordnung war für sechs Monate befristet. Die autofreien Sonntage waren eher Symbolpolitik als dass sie tatsächlich für eine große Einsparung sorgten. Sie machten aber deutlich, dass die bisherige, auf hohem Energiekonsum basierende Lebensweise der Menschen hinterfragt werden musste. Die Geschwindigkeitsbeschränkungen wurden nach Ablauf der sechs Monate nicht erneuert, obwohl es von Seiten der SPD den Versuch gab, diese langfristig gesetzlich festzuschreiben. Die CDU/CSU-Mehrheit im Bundesrat beschloss dann jedoch eine entscheidende Änderung an der Gesetzesvorlage: Das Tempolimit wurde in eine Richtgeschwindigkeit umgewandelt.[4] Auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten gelang es aufgrund der einflussreichen Autoindustrie in der Bundesrepublik nicht, ein Tempolimit in der Bundesrepublik durchzusetzen. Und auch heute diskutieren wir immer noch über diese an sich simple, aber effektive Maßnahme, die in Anbetracht des Klimawandels längst überfällig gewesen wäre.

Auch die weiteren Verlautbarungen und Maßnahmen der Bundesregierung von 1973/74 kommen uns sehr vertraut vor. Die Bundesregierung setzte in der Hochphase der Ölkrise vor allem auf Sparappelle an die Verbraucher*innen. Diese sollten zum Beispiel einen sparsamen Fahrstil praktizieren oder die Heizung im Haushalt niedriger einstellen. Der Bund ging dabei, etwa in den Kasernen oder in öffentlichen Gebäuden, mit gutem Beispiel voran.

Entscheidender war, dass sich die Bundesregierung mit ihrem liberalen Wirtschaftsminister Hans Friderichs trotz heftiger interner Diskussion in der SPD entschloss, die hohen Ölpreise nicht zu subventionieren. Auch von einer staatlichen Festlegung niedriger Ölpreise sah man ab. Hier dominierte, ähnlich wie bei den heutigen Diskussionen über einen Gaspreisdeckel beim Gaseinkauf, die Sorge, dass die Ölfirmen dann nicht mehr in die Bundesrepublik liefern würden. Zudem erhoffte man sich von den hohen Ölpreisen auch Sparanreize für die privaten und industriellen Verbraucher. Um die hohen Energiepreise etwas abzufedern, erhielten Wohngeldempfänger*innen im Dezember 1973 einen einmaligen Heizkostenzuschuss von 300 DM.

Der Bundesregierung kam zugute, dass sich bereits im Januar 1974 positive Entwicklungen andeuteten. Die Kriegshandlungen waren beendet, und man konnte jetzt genauer erkennen, dass die Ölausfälle nicht so stark waren wie befürchtet. Insofern dauerte die Krisensituation nicht sehr lange an. Im April 1974 wurden das Embargo und die anderen Maßnahmen der arabischen Ölförderländer dann endgültig aufgehoben.

Diese kurzfristige Erfahrung einer vermeintlichen Ölknappheit, das Gefühl, den arabischen Ölförderländern ausgeliefert zu sein, hallte jedoch nach. Mit der Ölkrise veränderte sich der Blick auf das Erdöl in der Bundesrepublik. Jetzt rückte die Diskussion über die Abhängigkeit, die zuvor nur unter Experten stattgefunden hatte, ins Zentrum der politischen Debatte. Über Energie zu reden, bedeutete über Energiesicherheit und vor allem über Versorgungssicherheit zu sprechen. Damit begann eine „Dekade der Energiepolitik“[5], die von staatlichen Versuchen geprägt war, die Dominanz des Energieträgers Erdöl abzuschwächen und die Bezugsquellen des Öls zu diversifizieren.[6] Dieses vorrangige Ziel produzierte auch „blind spots“. So versprachen die erneuerbaren Energien keine zügige Reduzierung der Ölabhängigkeit und wurden daher von der Bundesregierung über viele Jahre vernachlässigt.
Wir sollten daher auch bei den heutigen Debatten über das Gas und die Versorgungssicherheit darüber nachdenken, welcher Preis die Fokussierung auf dieses Thema mit sich bringt. Die Kunst liegt offensichtlich darin, die kurzfristige Sicherung der Energieversorgung mit dem mittelfristigen Ziel einer „Dekarbonisierung“ unseres Energiesystems in Einklang zu bringen. Damit haben die gegenwärtigen Herausforderungen eine völlig andere Dimension als die Ölkrise von 1973 angenommen. Die Mittel von 1973/74 werden daher zur Bewältigung dieser doppelten Aufgabe nicht ausreichen.

 


[1] Siehe vor allem Jens Hohensee: Der erste Ölpreisschock 1973/74. Die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der arabischen Erdölpolitik auf die Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa, Stuttgart 1996.
[2] Deutscher Bundestag, 7. Wahlperiode, Drucksache 7/1057 vom 3.10.1973, Unterrichtung durch die Bundesregierung: Die Energiepolitik der Bundesregierung, S. 3.
[3] Zu den Reaktionen der Bundesregierung siehe vor allem Rüdiger Graf: Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepolitik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren, Berlin u.a. 2014, S. 209–216.
[4] Sina Fabian: Boom in der Krise. Konsum, Tourismus, Autofahren in Westdeutschland und Großbritannien 1970–1990, Göttingen 2016, S. 402–405.
[5] Wolfgang Fischer/Erwin Häckel: Internationale Energieversorgung und politische Zukunftssicherung. Das europäische Energiesystem nach der Jahrtausendwende: Außenpolitik, Wirtschaft, Ökologie, München 1987, S. 1.
[6] Zur Einordnung der „Dekade der Energiepolitik“ in die Energiepolitik der Bundesregierung seit 1949 siehe Henning Türk: Zwischen langfristigen Weichenstellungen und kurzfristigem Krisenmanagement Kleine Geschichte der Energiepolitik in der Bundesrepublik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 42 (2022), Heft 46-47, S. 17–24, online abrufbar.