von Jan-Hendrik Schulz

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1. Mai 2007

Die erste bekannte Begegnung eines RAF-Mitglieds mit einem Vertreter des MfS lässt sich auf das Gründungsjahr der Gruppe zurückdatieren. Am 17. August 1970 kontaktierte Ulrike Meinhof einen Mitarbeiter des MfS, kurz bevor sie mit einigen Gesinnungsgenossen der RAF nach Jordanien in ein militärisches Ausbildungscamp der palästinensischen El Fatah aufbrach. Was Meinhof mit dem Treffen beabsichtigte, lässt sich nur vermuten. Der Politikwissenschaftler Tobias Wunschik nimmt an, dass sie versucht habe, mit Vertretern des MfS darüber zu verhandeln, ob und wie Anschläge der RAF auf die Bundesrepublik vom Staatsgebiet der DDR aus hätten realisiert werden können.[2] Nach Ansicht ihres früheren Ehemannes Klaus Rainer Röhl suchte sie zudem Asyl in der DDR.[3] Während das MfS ersteres offenbar vehement ablehnte, stimmte es der Asylsuche der „Einzelperson Meinhof“ in der DDR zu. Ein kollektives Asyl für die gesamte RAF wurde hingegen nicht gewährt. Meinhof, die sich gegen ein individuelles Asylgesuch ausgesprochen habe, verließ Europa mit ihren Gesinnungsgenossen anschließend über Ost-Berlin – mit Zustimmung des MfS.
 
Im gleichen Zeitraum hatte sich das MfS wahrscheinlich schon ein detailliertes Bild über die Gruppenstrukturen und Ziele der RAF machen können: Nach seinem Aufenthalt in dem palästinensischen Ausbildungscamp traf das RAF-Mitglied Hans-Jürgen Bäcker als erster der Gruppe im August 1970 auf dem Ost-Berliner Flughafen Schönefeld ein. Dort nahmen die ostdeutschen Grenzbeamten Bäcker fest, beschlagnahmten die Schusswaffe, die er bei sich trug, und übergaben ihn an das MfS. Bäcker sagte im Folgenden ausführlich über Tatbeteiligungen, Anschlagsvorbereitungen und taktische Ziele der Gruppe aus.[4] Nach den Erkenntnissen des „Spiegel“-Redakteurs Michael Sontheimer hatte die RAF möglicherweise Anschläge auf das US-Hauptquartier in der Clayallee in Berlin sowie auf das Büro der US-Fluggesellschaft „Pan Am“ geplant. Dies habe das MfS den Aussagen Bäckers entnehmen können.[5]
 
Für den Anfang der 1970er-Jahre lässt sich eine bestimmte Haltung der DDR zu den westdeutschen „Anarcho-Terroristen“ ausmachen. Der Historiker Martin Jander meint bei der DDR-Führung ein Interesse, ja sogar eine respektvolle Würdigung der „revolutionären Opferbereitschaft“ einer Akteurin wie Ulrike Meinhof zu erkennen. Trotz dieser Sympathien lehnte die SED-Diktatur den individuellen Terrorismus klar ab; dieser widersprach dem kollektivistischen Selbstverständnis des Marxismus-Leninismus. In der Ideologie der RAF sahen die Verantwortlichen aus der DDR die Gefahr einer Entfernung vom revolutionären Subjekt der Arbeiterklasse.[6] Auch auf Seiten der RAF stand man dem real existierenden Sozialismus in der DDR skeptisch bis kritisch gegenüber. Dies wurde etwa im Jahr 1976 in der „Erklärung zur Sache“ der in Stammheim inhaftierten RAF-Mitglieder deutlich: „Der Rückzug von der Führung des internationalen Klassenkampfes und ihre Ersetzung durch die Außenpolitik der ‚friedlichen Koexistenz’ und die Instrumentalisierung der kommunistischen Parteien für diese Politik der Sowjetunion konnte auch den Antifaschismus in Europa nur ohne Orientierung vom Klassenkampf aus lassen, ihn nicht auf seinen Begriff bringen: Zerschlagung des monopolkapitalistischen Systems, die soziale Revolution.“[7]
 
In den Mittelpunkt der Kritik rückte hier die Politik der „friedlichen Koexistenz“, mit der sich speziell die DDR in den 1970er-Jahren mehr und mehr Anerkennung für den eigenen Staat und die eigenen Interessen von den Westmächten, insbesondere der Bundesrepublik, erhoffte. In der ideologischen Auseinandersetzung zwischen RAF und DDR zeigte sich – so Jander –, dass die gemeinsamen Bestrebungen durch die vorsichtige Öffnungspolitik der SED-Diktatur gehemmt wurden.
 
Welche ideologischen Gemeinsamkeiten hatten RAF und DDR-Führung? Hier nennt der Historiker drei wichtige Aspekte: Erstens verschrieben sich beide gegen den „euroamerikanischen Neofaschismus“, wobei hier vor allem die Bundesrepublik und die USA als „Klassenfeind“ verstanden wurden. Zweitens hegten beide antizionistische, teilweise antisemitische Bestrebungen gegen den Staat Israel. Drittens pflegte die DDR wie auch die RAF freundschaftliche Beziehungen zu „antiimperialistischen Bewegungen“ und „nationalen Freiheitsbewegungen“, insbesondere zu palästinensischen Gruppen.[8]
 
Trotz dieser Gemeinsamkeiten kam es nur zögerlich zu Kooperationen. Ein Grund dafür war, dass die DDR-Führung schon in den 1970er-Jahren fürchtete, selbst ein potentielles Angriffsziel der westdeutschen Stadtguerillagruppen zu werden. Zudem sah man Botschaften der DDR im In- und Ausland durch den westeuropäischen Terrorismus gefährdet. Die Befürchtungen waren für den Apparat des MfS folgenreich; mit der so genannten Hauptabteilung XXII wurde 1975 eine Einrichtung eigens zur „Abwehr, Kontrolle und Bearbeitung terroristischer Gefahren“ geschaffen. Unter der Leitung von Oberst Harry Dahl befassten sich in der Abteilung anfangs 150 Mitarbeiter mit der Ausforschung mutmaßlicher terroristischer Gruppen in der Bundesrepublik und der Erkennung von Sicherheitsproblemen aus Sicht der DDR. Das Mitglied der „Bewegung 2. Juni“ Michael „Bommi“ Baumann hatte schon 1973, nachdem er am 30. November von DDR-Behörden an der Grenze zur Bundesrepublik verhaftet wurde, dem MfS ein umfangreiches „Who is who“[9] der westdeutschen „Anarcho-Szene“ geliefert; diese und ähnliche Erkenntnisse sollten in der Abteilung XXII gezielt verwertet werden.[10]
 
Auch wenn es bis 1977 einige Kontakte der DDR-Behörden zu RAF-Mitgliedern der so genannten „ersten Generation“ gegeben hatte, bot das MfS den RAF-Mitgliedern im äußersten Falle lediglich Transitmöglichkeiten durch das Staatsgebiet der DDR an.[11] Dies änderte sich Ende der 1970er-Jahre durch Fusionsgespräche zwischen Mitgliedern der Bewegung 2. Juni – unter ihnen Inge Viett – mit der RAF. Viett wurde nach der am 27. Mai 1978 erfolgten Befreiung von Bewegung-2.-Juni-Mitglied Till Meyer aus der JVA Berlin-Moabit während einer Transitreise durch DDR-Gebiet von Harry Dahl festgehalten. Dahl und Viett handelten anschließend aus, dass der flüchtige Meyer mit anderen Gesinnungsgenossen Ost-Berlin als Rückzugsraum benutzen durfte, um den westdeutschen Strafverfolgungsbehörden zu entgehen. Meyer, Viett und drei weitere Mitglieder der Bewegung 2. Juni hatten die Durchreise über DDR-Territorium nach Bulgarien geplant – der Transit der von West-Berlin kommenden Gruppe war von der DDR-Führung ausdrücklich „gestattet“.[12] In einer Expertise des MfS hieß es dazu: „In der Planung und Ausführung dieser Befreiungsaktion war die Nutzung der Transitwege in die sozialistischen Länder fester Bestandteil.“[13]
 
Till Meyer wurde am 21. Juni 1978 von einer Sondereinheit des BKA in Bulgarien festgenommen und mit Zustimmung der bulgarischen Regierung an die Bundesrepublik ausgeliefert. Am 27. Juni wurde auch Viett in Prag verhaftet, jedoch nicht wie Meyer an die Bundesrepublik, sondern an das MfS in die DDR ausgeliefert. Über die in der DDR sich aufhaltenden Mitglieder der Bewegung 2. Juni hieß es in einer MfS-Analyse von 1978: „In der Zeit vom 28. Juni bis 12. Juli waren sie in der DDR in einem konspirativen Objekt untergebracht und wurden anschließend unter operativer Kontrolle nach Bagdad/Irak ausgeflogen, wo sich nach eigenen Angaben ihre Operationsbasis befindet.“[14]
 
Die Verbindungen zum MfS, die Inge Viett im Laufe des Jahres 1978 festigte, stellten sich in der Folgezeit für die RAF als sehr nützlich heraus. Nach der Niederlage der „Offensive 77“ und dem Tod der Gründungsmitglieder in Stammheim waren einige Mitglieder der RAF so demoralisiert, dass sie für die übrigen Gesinnungsgenossen ein Sicherheitsrisiko darstellten. Inge Viett, seit 1980 auch Mitglied der RAF, fungierte nun als maßgebliche Initiatorin eines „RAF-Aussteiger-programmes“ in Kooperation mit der DDR. Die Vorschläge einiger RAF-Mitglieder, mit Hilfe der DDR in Ländern außerhalb Europas ein Asyl zu finden, lehnte das MfS strikt ab. In Ländern wie Angola und Mosambik sei die politische Lage zu instabil, und außerdem seien die Westeuropäer aufgrund ihrer hellen Hautfarbe leicht zu enttarnen.[15] Schließlich fand MfS-Oberst Harry Dahl eine Lösung für das Problem der RAF-Aussteiger, indem er zusagte, dass sich diese in der DDR neue Identitäten zulegen könnten.[16] Im Frühjahr 1980 wurden die RAF-Mitglieder Susanne Albrecht, Werner Lotze, Christine Dümlein, Monika Helbing, Ekkehard von Seckendorff-Gudent, Sigrid Sternebeck, Ralf Baptist Friedrich und Silke-Maier Witt in die DDR eingebürgert – ausgestattet mit neuen Namen, Biographien, Unterkünften und Beschäftigungen. Inge Viett folgte den Aussteigern zwei Jahre später.[17]
 
Die Integration der RAF-Mitglieder in die DDR verlief jedoch nicht ohne Zwischenfälle: Viett, Albrecht und Maier-Witt wurden in der Folgezeit von DDR-Bürgern enttarnt, so dass das MfS ihnen wiederholt neue Identitäten konstruieren und sie innerhalb der DDR umsiedeln musste. Maier-Witt hatte sich 1987 sogar einer Gesichtsoperation zu unterziehen, da sie von einer Nachbarin, die in der Bundesrepublik Verwandte besuchte, vor dem BKA enttarnt wurde; sie hatte Maier-Witt auf einem Fahndungsfoto im Westen wiedererkannt.[18]
 
Mit einem „zivilen Aussteigerprogramm“ hatte das MfS auch das Interesse der „aktiven“ RAF-Mitglieder für eine Zusammenarbeit wecken können.[19] Zudem unterstützte die DDR die Gruppe in den Jahren 1980 bis 1982 mit paramilitärischen Trainings an diversen Schusswaffen. Bei einem der Treffen zwischen RAF-Mitgliedern und MfS-Vertretern trainierten Wolfgang Beer, Adelheid Schulz und Inge Viett auf einem Stasi-Gelände.[20] Im Verlauf eines weiteren Trainings wurde RAF-Mitglied Christian Klar mit einer sowjetischen Panzerfaust vom Typ RPG-7 ausgebildet – eine Waffe gleichen Typs wurde am 15. September 1981 bei einem RAF-Anschlag gegen den US-General Frederick Kroesen eingesetzt. Unklar ist, ob das Training mit der Panzerfaust vor oder nach dem Anschlag stattgefunden hatte und ob die Waffe aus DDR-Beständen stammte. In dieser Hinsicht wurden von ehemaligen MfS-Beamten und RAF-Mitgliedern widersprüchliche Angaben gemacht.[21]
 
Die Zusammenarbeit zwischen der „zweiten Generation“ der RAF und dem MfS endete aus bislang nicht ganz nachvollziehbaren Umständen im Jahr 1983. Das RAF-Mitglied Helmut Pohl kommentierte die Entscheidung in einem Interview mit der „Frankfurter Rundschau“ später folgendermaßen: „Mit dem realen Sozialismus hatten wir nichts am Hut. Das Aufgesetzte, Formelhafte – da gab es Reibungen an allen Ecken und Enden. Wir waren wahrscheinlich für sie manchmal so unerträglich wie sie für uns.“[22] Obwohl sich die DDR Ende der 1970er- bis Anfang der 1980er-Jahre für RAF-Aussteiger wie auch für „aktive“ RAF-Mitglieder als ein attraktiver Verhandlungspartner herausstellte und sich das MfS umfangreiche Erkenntnisse über die Entwicklungen der westdeutschen Stadtguerillagruppen aneignen konnte, so waren die MfS-Informationen über die „dritte Generation“ in den Folgejahren der RAF-Geschichte mehr als dürftig. Letztlich überwog aus Sicht der DDR die Befürchtung vor terroristischen Aktivitäten auf eigenem Staatsgebiet. Diese Befürchtungen, gepaart mit dem Ringen nach Anerkennung durch die Politik der „friedlichen Koexistenz“, veranlassten die SED-Diktatur, äußerst penibel mit den Stadtguerillagruppen umzugehen und besonders die RAF nur partiell zu unterstützen.
 
[1] Für diese thematische Zusammenstellung wurde folgende Literatur benutzt: Willi Winkler, Die Geschichte der RAF, Berlin 2007, S. 380-392; Martin Jander, Differenzen im antiimperialistischen Kampf. Zu den Verbindungen des Ministeriums für Staatssicherheit mit der RAF und dem bundesdeutschen Linksterrorismus, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 1, Hamburg 2006, S. 696-714; Tobias Wunschik, Baader-Meinhof international?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 57 (2007) 40-41, S. 23-29, auch online unter URL:
[2] Vgl. Tobias Wunschik, „Abwehr“ und Unterstützung des internationalen Terrorismus – Die Hauptabteilung XXII, in: Hubertus Knabe (Hg.), Westarbeit des MfS. Das Zusammenspiel von „Aufklärung“ und „Abwehr“, Berlin 1999, S. 263-273, hier S. 267.
[3] Vgl. Klaus Rainer Röhl, Fünf Finger sind keine Faust, Köln 1974, S. 395.
[4] Vgl. Wunschik, Baader-Meinhof international? (Anm. 1), S. 27.
[5] Vgl. Michael Sontheimer, „Wir wollen an die Front“, in: Spiegel, 1.10.2007, S. 74-87, hier S. 75.
[6] Vgl. Jander, Differenzen (Anm. 1), S. 689.
[7] Vgl. ID-Verlag (Hg.), Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, Berlin 1997, S. 203f.
[8] Vgl. Jander, Differenzen (Anm. 1), S. 698.
[9] Baumann hatte zu über 90 Personen, die sich in der Bundesrepublik am „bewaffneten Kampf“ beteiligt hatten, umfangreiche biographische Angaben gemacht. So gab Baumann u.a. an, welche Überfälle und Anschläge verübt worden waren, welche Waffenkaliber dabei benutzt worden waren und welche sexuellen Präferenzen die genannten Akteure hatten. Vgl. hierzu Wolfgang Kraushaar, Unsere unterwanderten Jahre, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.4.1998, S. 45.
[10] Vgl. Jander, Differenzen (Anm. 1), S. 700.
[11] Ein anschauliches Beispiel bietet hier die Festnahme des RAF-Mitglieds Willy-Peter Stoll an der DDR-Grenze im Jahr 1978: Nach Feststellung seiner wahren Identität ließen ihn die DDR-Behörden passieren. Vgl. Wunschik, Baader-Meinhof international? (Anm. 1), S. 27.
[12] Vgl. Jander, Differenzen (Anm. 1), S. 711.
[13] Information 285/79 über Aktivitäten von Vertretern der palästinensischen Befreiungsbewegung in Verbindung mit internationalen Terroristen zur Einbeziehung der DDR bei der Vorbereitung von Gewaltakten in Ländern Westeuropas, Berlin, 8. Mai 1979, S. 10f. (BStU MfS Z 3021, Kopie in HIS-Archiv, MfS 79/041); Zitat nach Jander, Differenzen (Anm. 1), S. 711.
[14] Ebd., S. 11; Zitat nach Jander, ebd.
[15] Vgl. Jander, Differenzen (Anm. 1), S. 712.
[16] Vgl. Winkler, Geschichte (Anm. 1), S. 381.
[17] Vgl. z.B. Klaus Pflieger, Die Rote Armee Fraktion – RAF –. 14.5.1970 bis 20.4.1998, Baden-Baden 2004, S. 122ff.
[18] Vgl. Winkler, Geschichte (Anm. 1), S. 385f.
[19] Vgl. Inge Viett, Wahr bleibt…, in: Konkret Nr. 3/1992, S. 28f.
[20] Vgl. Jander, Differenzen (Anm. 1), S. 712.
[21] Vgl. ebd.
[22] Vgl. Helmut Pohl im Interview mit der „Frankfurter Rundschau“, 2.7.1991, S. 7; hier Zitat nach Butz Peters, Der letzte Mythos der RAF. Das Desaster von Bad Kleinen – Wer erschoss Wolfgang Grams, Berlin 2006, S. 95.