von Tobias Eder

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7. Mai 2024

Warnung: Dieser Text stellt viele Fragen – und beantwortet keine einzige.

 

Historiker*innen streiten gerne. Was allerdings den 8. Mai 1945 betrifft, sind sie sich weitgehend einig: Es ist ein wichtiger Tag. Der „Tag der Befreiung“, an den wir uns erinnern sollten, da Nationalsozialismus und Weltkrieg in Europa ihr Ende fanden. Jedoch liegt der 8. Mai 1945 mittlerweile einige Jahre zurück und Historiker*innen vergessen manchmal, dass abseits von Monographien und Fachtagungen tatsächlich noch Leben existiert. Es ist daher angebracht zu fragen, wie junge Menschen im Jahr 2024 auf den 8. Mai blicken. Sehen sie ihn als Befreiungstag? Als Trauertag? Wie begehen sie den Tag? Wie stehen sie zur Debatte um den 8. Mai als Feiertag? 

 

Um genau das herauszufinden, hat sich zeitgeschichte|online auf Abenteuerfahrt begeben. Ich habe Gespräche mit Menschen zwischen 17 und 22 Jahren geführt, mit Schüler*innen und Student*innen, und habe mit ihnen ganz allgemein über Feier- und Gedenktage diskutiert, um anschließend die Gretchenfrage zu stellen: „Nun sagt, was verbindet ihr mit dem Datum 8. Mai?“ Die Antwort … Überhaupt nichts. Null. Das Datum 8. Mai hat bei meinen Gesprächspartner*innen keine nennenswerten Assoziationen geweckt, schon gar keine, die mit dem Kriegsende 1945 zu tun haben. Was bedeutet das? Haben wir es hier mit einer gedenkpolitischen Totalkatastrophe zu tun? Stellen wir uns lieber erst ein paar weiterführende Fragen, bevor wir urteilen.

 

Sind junge Menschen apolitisch?

Die Befragten hatten also keine Ahnung, was der 8. Mai historisch und politisch bedeutet. Hatte ich es in meinen Gesprächen vielleicht mit apolitischen Menschen zu tun? Mitnichten. Im Gegenteil schien Politik für die meisten tatsächlich eine große Rolle zu spielen. Während der allgemeinen Diskussion um Gedenktage tauchten viele politische Tage und Anlässe auf: Pride Month und Christopher Street Day, Gedenktage für das Attentat in Hanau und die Ausschreitungen in Chemnitz sowie der Internationale Frauentag. Auf meine Frage, welche Tage sie selbst zum Feiertag erklären würden, wenn sie die Gelegenheit hätten, meinte eine der Befragten, solche mit thematischem Bezug, die sich etwa um Inklusion oder Beeinträchtigungen drehen. Eine andere antwortete auf diese Frage ohne lange nachzudenken: „Weltfrauentag“. Mit apolitischen Schüler*innen und Student*innen hatte ich es offensichtlich nicht zu tun.

 

Ist jungen Menschen die Geschichte des Nationalsozialismus egal?

Wenn die jungen Menschen, mit denen ich gesprochen habe, nicht apolitisch sind, kennen sie den 8. Mai dann vielleicht deshalb nicht, weil ihnen der Nationalsozialismus und das Gedenken daran egal sind? Wieder Fehlanzeige. In den Diskussionen um Gedenktage wurden gleichsam solche mit Bezug zum Nationalsozialismus und der Shoah genannt, etwa das Gedenken an die Novemberpogrome. Eine Studentin nannte den Internationalen Holocaustgedenktag, allerdings wusste sie nur von der Existenz eine solchen Tages, ohne dessen Datum, 27. Januar, zu kennen. Und genau das ist interessant. Denn die Gespräche erweckten immer wieder folgenden Eindruck: Der Nationalsozialismus und das Gedenken daran spielen für junge Menschen sehr wohl eine Rolle, nur konkrete Gedenktage sind dafür nicht wichtig.

Somit scheint bei den Jungen alles okay zu sein. Aber wie sieht es mit uns Historiker*innen aus?

 

Was bedeutet das alles für uns Historiker*innen?

Was bedeutet es für uns Historiker*innen, dass jungen Menschen das Datum des 8. Mai komplett egal ist? Wir könnten den Befund zum Anlass nehmen, nachzudenken und neue Fragen zu stellen – als Wissenschaftler*innen ist das ohnehin unsere Aufgabe.

Wir könnten uns beispielsweise fragen, ob wir die Bedeutung einzelner Tage für das Gedenken an den Nationalsozialismus und seine Opfer überschätzen? Meine Gesprächspartner*innen kannten zwar den 8. Mai nicht, das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus war ihnen aber dennoch präsent. Und für die Erinnerung an den Nationalsozialismus schien für sie etwas anderes wesentlich wichtiger zu sein als öffentliche Feiern und Gedenktage: das betrifft in erster Linie die sozialen Medien. Wie erwähnt nannte eine Studentin im Gespräch den Internationalen Holocaustgedenktag, ohne dessen konkretes Datum zu kennen. Jedoch würde sie in den sozialen Medien an dem Tag thematisch relevante Beiträge sehen. Der Tag und das Gedenken an die Shoah rücken ihr also durch die sozialen Medien ins Bewusstsein. Ähnlich erzählten drei andere Studentinnen, die sozialen Medien würden eine Rolle spielen, wenn es um die Erinnerung an den Nationalsozialismus geht, etwa wenn Privatpersonen Inhalte dazu posten würden. Soziale Medien dürften für junge Menschen – wenig verwunderlich – weitaus wichtiger für die Erinnerung an den Nationalsozialismus sein als konkrete Gedenkfeiern. Für Historiker*innen zeigt das: Wenn junge Menschen angesprochen werden sollen, müssen soziale Medien gezielt, professionell und zielgruppenorientiert zur Erinnerungsarbeit und Wissenschaftsvermittlung eingesetzt werden. Zwar nutzen Historiker*innen in den letzten Jahren vermehrt die sozialen Medien, sie scheinen dort jedoch häufig unter sich zu bleiben. Das könnte mitunter daran liegen, dass es mühevoll ist, Menschen außerhalb der eigenen Historiker*innenblase über die sozialen Medien zu erreichen. Ein einzelner Post ist wenig wert und verschwindet schnell unter der Vielzahl professioneller, audiovisueller Angebote auf Instagram, TikTok und co. Social-Media-Kanäle professionell zu betreiben, ist heute ein 40-Stunden-Job, den einzelne Forschende neben ihrer Arbeit kaum bewältigen können.[1] Wenn wir als Historiker*innen mit jungen Menschen in den Dialog treten möchten, liegt es deshalb an uns, an unseren Institutionen Stellen für Social-Media-Beauftragte einzufordern und uns dann gemeinsam mit diesen zu fragen: Welche Zielgruppe wollen wir mit welchen Inhalten erreichen? Gemessen an den gegenwärtigen Arbeitsbedingungen im Wissenschaftsbetrieb wohl eine Utopie – doch das sollte nicht so bleiben, sofern wir uns Kontakt zu jungen Menschen wünschen.

 

Das Nichtwissen über den 8. Mai unter jungen Menschen wirft für uns noch eine weitere Frage auf: Wie lässt sich das Gedenken an den Nationalsozialismus mit anderen Anlässen des Gedenkens verbinden, insbesondere mit Gedenktagen oder politischen Kampftagen, die für die Jüngeren eine größere Rolle spielen als solche, die den Nationalsozialismus betreffen. Anknüpfungspunkte könnten etwa Tage bieten, die sich um Themen wie Inklusion oder Anliegen der LGBTQ-Community drehen. Eine solche Verknüpfung führt keineswegs zu einer Relativierung der NS-Verbrechen und ihrer Opfer. Sie könnte dazu beitragen, jungen Menschen zu verdeutlichen, warum es wichtig ist, sich in der Gegenwart mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Sie könnte Neugierde wecken, die noch nicht vorhanden ist. Und sie könnte bedeuten, immer wieder jene essentielle Frage zu stellen, die einer Schüler*in im Gespräch so wichtig war: Welche Konsequenzen ziehen wir heute aus der Geschichte des Nationalsozialismus?

 

Auch abseits von Gedenktagen sollten Historiker*innen versuchen, Inhalte, die jungen Menschen vermittelt werden sollten, mit Themen zu verknüpfen, die diese aktuell beschäftigen. Nur – wie finden wir heraus welche Themen das sind? „Sozialwissenschaftliche Studien! Umfragen!“, ruft das Wissensschaftler*innenherz vielleicht. Aber es könnte auch einfacher und gerade im Mai vergnüglicher funktionieren, indem wir rausgehen, mit jungen Menschen sprechen und zuhören. Wir sollten ab und an das Gespräch mit Menschen außerhalb unserer geisteswissenschaftlichen Community zu suchen. Wir sollten den Mut haben, uns mit der Realität zu konfrontieren, dass einer großen Mehrheit – mit Verlaub – schnurz ist, was für uns selbstverständlich wichtig ist – etwa der 8. Mai 1945.

 

Wenn wir diesen Mut aufbringen, kann viel Produktives entstehen. Denn ausgehend von Befunden aus solchen Gesprächen, können wir uns wieder auf unser Kerngeschäft besinnen, Fragen zu stellen. Etwa jene, was es bedeutet, dass das Datum 8. Mai bei jungen Menschen keine nennenswerten Assoziationen weckt.

 

 

zeitgeschichte|online wünscht all seinen Leser*innen und Nicht-Leser*innen einen spannenden „Tag der Befreiung“ 2024!

 

 

Weiterführende Literatur:

Sophie Genske/Rebecca Wegmann (Hg.), Bilder der Befreiung. Perspektiven auf den 8. Mai und 75 Jahre Erinnerungskultur, in: Zeitgeschichte-online, Mai 2020.

Norbert Frei, 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen (Erw. Taschenbuchausgabe April 2009, München 2009).

Christoph Kleßmann, 1945 – welthistorische Zäsur und „Stunde Null“, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 15.10.2010.

Vanessa Prattes, Der 8. Mai – ein ortloser Erinnerungsort? Eine Materialsammlung zum „Tag der Befreiung“, in: Zeitgeschichte-online, Mai 2021.

 

 

[1] Ebenso im Bericht über die Ergebnisse des Projekts „Social Media History“ wird – vor anderem thematischem Hintergrund – auf den Mangel an Angeboten der Geschichtswissenschaft in sozialen Medien verwiesen. Vgl. o.A., Ergebnisse des Projekts „SociaMediaHistory“, in: idw-online.de, 25.04.2024, online (04.05.2024).