Filmstill aus DIE MÖLLNER BRIEFE, Regie: Martina Priessner, D 2025, © Inselfilm Produktion
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Selbstermächtigung und Gedenken

DIE MÖLLNER BRIEFE von Martina Priessner

Am 23. November 1992 setzten Rechtsextremisten zwei Wohnhäuser im schleswig-holsteinischen Mölln in Brand, drei dort wohnende Menschen, die zehnjährige Yeliz Arslan, die vierzehnjährige Ayşe Yilmaz, und die 51-jährige Bahide Arslan, verloren ihr Leben. Die Brandanschläge reihen sich ein in ein gesamtdeutsches Phänomen rassistisch motivierter Gewalt, das in den frühen 1990er Jahren eine Hochphase erlebte und bis heute immer wieder Todesopfer fordert. DIE MÖLLNER BRIEFE ist ein Dokumentarfilm, der dieses zeithistorische Thema aufgreift, das bis heute nicht an Relevanz verloren hat, und dabei eine konsequent den Überlebenden des Anschlags zugewandte Perspektive auf das Ereignis wirft.[1]

 

 

Während die üblichen Dokumentationen zu den Gewalttaten der frühen 1990er Jahre sich auf den jeweiligen Tathergang, Tatmotive und das gesellschaftliche Umfeld der Zeit konzentrieren, verschiebt DIE MÖLLNER BRIEFE den Fokus auf den Umgang mit der Tat. Im Vordergrund steht die Handlungsmacht der Überlebenden und die Ihnen gegenüber geäußerte Solidarität, die sich in jenen hunderten an sie gerichteten Briefen ausdrückte, die dem Film den Titel geben. Es geht also auch um unser aller Möglichkeit, zu handeln, indem wir Empathie zeigen und Solidarität ausdrücken. Demgegenüber steht das Vorgehen der städtischen Verwaltung, welche die mit der Adresse des ausgebrannten Hauses versehenen Briefe einbehielt, öffnete und teilweise sogar beantwortete, um sie darauf im Stadtarchiv abzulegen. Die adressierten Überlebenden wurden nie darüber informiert, bis eine Forscherin zwanzig Jahre später zufällig im Archiv auf die Briefe stieß.

An dieser Stelle setzt der Film ein und begleitet seinen Hauptprotagonisten Ibrahim Arslan, der als Kind den Brandanschlag überlebte, und andere Überlebende in ihrem Kampf um den Zugang zu und angemessenen Verbleib von den Briefen und allgemeiner um Form und Inhalt des Gedenkens an den Anschlag. Dieser thematische Ansatz erlaubt es Priessner, sich vom gewohnten Mix aus historischen Aufnahmen, nachgestellten Szenen und Interviews mit Zeitzeug*innen und Expert*innen abzuheben und auch filmisch einen innovativen Zugang zum zeithistorischen Ereignis zu eröffnen. Über weite Strecken erinnert der Film ästhetisch an das Kino des Direct Cinema. Er folgt einfühlsam beobachtend seinen Protagonisten und dem sich entfaltenden Lauf der Ereignisse, lässt sich auf deren ungewissen Ausgang ein. Statt in Interviews Fakten und Einschätzungen abzufragen, ist die Kamera zugegen, wenn sich die Überlebenden untereinander über ihren Umgang mit dem Erfahrenen unterhalten, Forderungen an die Stadtverwaltung entwickeln oder sich mit Menschen treffen, die damals einen Solidaritätsbrief gesandt hatten.

Geschichte wird in diesem Film auf verschiedenen Ebenen verhandelt und erforscht. Zunächst thematisiert der Film die umkämpfte Produktion von Geschichte selbst. In der Geschichtswissenschaft ist längst klar, dass es nicht die eine authentische Darstellung vergangenen Geschehens – „so wie es eigentlich gewesen“ sei (Ranke) – gibt. Der Film zeigt, wie sich die unterschiedlichen Logiken des Gedenkens von Überlebenden und staatlichen Institutionen aneinander reiben. Zur offiziellen Gedenkfeier an das Attentat wurden die Überlebenden zunächst nur als Gäste eingeladen, als Objekte einer von der Stadtverwaltung orchestrierten Veranstaltung. Die Überlebenden organisierten über viele Jahre davon getrennt ihre eigene Gedenkveranstaltung. Der Film dokumentiert, wie sie nun das erste Mal und bereits im Vorfeld in die Planung der offiziellen Feier eingebunden werden. Die Geschichte der Brandanschläge von Mölln wird als Aushandlungsprozess erfahrbar. Ähnliches erleben die Überlebenden auch bei den Verhandlungen um die Herausgabe der Briefe und deren Transfer in das Kölner Dokumentationszentrum und Museum über Migration in Deutschland. Die Vertreter der Stadt und des Archivs begegnen den Überlebenden durchaus wohlmeinend. Dennoch trifft der Gestaltungswille der Überlebenden immer wieder auf Widerstand und offenbart dabei einen in den Institutionen verankerten strukturellen Rassismus.

An einer Stelle spricht Ibrahim Arslan im Film davon, dass Menschen, die den alltäglichen Rassismus nicht selbst erleben, seine Erfahrungen niemals verstehen werden. Das mag sein. Der Film bringt jedenfalls auch jene, die diesen Erfahrungshorizont nicht haben, ein Stück näher an ein Verständnis heran. Dies liegt auch an der filmischen Haltung Priessners. Die beobachtende Kamera lässt Raum für Schweigen, Blicke, Gesten und gibt den Überlebenden so nicht nur symbolisch Entscheidungsgewalt über ihre Repräsentation im Film. Und auch als Zuschauende erhalten wir die Möglichkeit, unsere eigene Wahrnehmung zu schärfen und Empathie zu entwickeln. So dokumentiert der Film auf einer zweiten Ebene, wie sich das vergangene Ereignis in die Körper und Handlungen der Überlebenden eingeschrieben hat, ihr Leben bis heute prägt. Etwa durch Gewichtsproblemen in Folge der psychischen Verarbeitung des Erlebten oder dem Druck, den die nach dem Anschlag geborene Tochter verspürt, die nach ihrer ermordeten Schwester benannt wurde und sich nun immer an dieser gemessen sieht.

 

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Filmstill aus DIE MÖLLNER BRIEFE, Regie: Martina Priessner, D 2025 © Inselfilm Produktion

 

Auf einer weiteren Ebene findet der Film gewissermaßen seine historische Erdung im Quellenmaterial. In die Erzählung eingeflochten sehen wir immer wieder abgefilmte Briefe und Objekte aus der Sammlung der jahrelang vorenthaltenen Post als historische Dokumente, die Zeugnis von der einstigen Anteilnahme ablegen. Auch hier betont der Film den Kontext der Überlieferung: Nur wenn die Dokumente bewahrt und zugänglich sind, können sie eine Wirkmacht für die Geschichtserzählung entfalten. Ergänzt werden die Dokumente durch Elemente der Oral History, wenn Ibrahim Arslan sich mit ausgewählten Autor*innen der Briefe trifft und über das Erlebte und die damaligen Gefühle spricht. Eine Ebene der Reflexion, in der abermals deutlich wird, wie sehr das Vergangene in die Gegenwart hineinwirkt, und zugleich eine Aufforderung zum eigenen Handeln.

Der Film führt vor Augen, wie wichtig auch kleine Gesten sein können, dass wir alle etwas bewirken können. Er ruft dazu auf, sich aktiv in die Produktion von Geschichte einzubringen und das Gegebene nicht als unveränderlich hinzunehmen. Und vor allem: den Überlebenden, den Angehörigen und allen von rassistischer Gewalt Betroffenen zugewandt zuzuhören. Auf das sich das Geschehene nicht wiederholt und die Verhältnisse sich ändern, die das Attentat von Mölln mit ermöglicht haben. Diese Kombination aus thematischer Aktualität und innovativem Zugang zum historischen Ereignis sichert dem Film einen Platz auf der Shortlist für die CLIO 2025.

 

Die Möllner Briefe

Regie: Martina Priessner
Deutschland 2025
96‘

 


[1] Für eine umfangreiche Inhaltsbeschreibung des Films siehe auch die Filmrezension: Roman Woopen, Archivierte Solidarität. Die Möllner Briefe erzählt vom Überleben und Erinnern nach dem rechtsterroristischen Brandanschlag, in: Zeitgeschichte-online, 12. März 2025.

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Zitation

Olaf Berg, Selbstermächtigung und Gedenken. DIE MÖLLNER BRIEFE von Martina Priessner, in: Zeitgeschichte-online, , URL: https://www.zeitgeschichte-online.de/themen/selbstermaechtigung-und-gedenken