Filmstill aus IN DIE SONNE SCHAUEN, Regie: Mascha Schilinski, D 2025 © Studio Zentral
Bildinfo

Filmstill aus IN DIE SONNE SCHAUEN, Regie: Mascha Schilinski, D 2025 © Studio Zentral

Filmstill aus IN DIE SONNE SCHAUEN, Regie: Mascha Schilinski, D 2025 © Studio Zentral
Bildinfo

Filmstill aus IN DIE SONNE SCHAUEN, Regie: Mascha Schilinski, D 2025 © Studio Zentral

Filmstill aus IN DIE SONNE SCHAUEN, Regie: Mascha Schilinski, D 2025 © Studio Zentral
Bildinfo

Filmstill aus IN DIE SONNE SCHAUEN, Regie: Mascha Schilinski, D 2025 © Studio Zentral

Filmstill aus IN DIE SONNE SCHAUEN, Regie: Mascha Schilinski, D 2025 © Studio Zentral
Bildinfo

Filmstill aus IN DIE SONNE SCHAUEN, Regie: Mascha Schilinski, D 2025 © Studio Zentral

Ein Jahrhundert in Körpern und Gefühlen

IN DIE SONNE SCHAUEN von Mascha Schilinski

Wenn man nach den 149 Filmminuten von Mascha Schilinskis Debütfilm das Kino verlässt, nach 149 Minuten, in denen man die Zeit vergessen hat, findet man nicht sofort Worte für den Film, obwohl man ihn in jedem Moment verstanden hat. Man hat ihn mit den Augen, Ohren und Gefühlen verstanden, ganz leicht sogar. Aber weder Dramaturgie noch Dialoge haben die Erklärung mitgeliefert. IN DIE SONNE SCHAUEN erforscht mit Bildern, Tönen, Worten, wie individuelle Erfahrungen über Generationen weitergegeben werden – und liefert so einen sehr eigenständigen und genuin filmischen Beitrag zu einem Thema, das in verschiedenen Wissenschaften und Künsten von anhaltendem Interesse ist.

Der Film sorgte in diesem Sommer zuerst in Cannes für Furore, wo er den Preis der Jury bekam, und wurde nun als deutscher Oscarbeitrag ausgewählt. Jetzt wird er mit der CLIO 2025 ausgezeichnet, dem Preis für den besten historischen Film.

Die Erzählung des Films umspannt einen Zeitraum von über einhundert Jahren. Ort der Erzählung ist ein Vierseitenhof in der Altmark, Sachsen-Anhalt nahe der Grenze zu Niedersachsen. Vier Zeitebenen sind miteinander verwoben. Die Szenen beschreiben das jeweilige Leben auf dem Hof und seiner Bewohner; es ist immer Sommer. Im Mittelpunkt stehen vier Mädchen: Alma (Hanna Heckt) in den 1910er Jahren, Erika (Lea Drinda) in den 1940ern, Angelika (Lena Urzendowsky) in den 1980ern und Nelly (Zoë Baier) in der Gegenwart.

 

 

Allerdings folgt die Erzählung weder einer Chronologie, noch den üblichen narrativen Mustern. Die Regisseurin beschreibt im Interview, sie und ihre Koautorin Louise Peter hätten die Filmidee während eines Schreib-Aufenthalts auf jenem Hof entwickelt, der dann auch als Drehort fungierte. Die Frage, wer dort vorher gelebt hat, was die Personen gedacht, gefühlt haben und was von diesen Leben geblieben ist, sei der Ausgangspunkt gewesen. Eine Gleichzeitigkeit der Ebenen, ein Erinnerungskontinuum der Figuren aus den verschiedenen Jahrzehnten ins Bild zu setzen, die künstlerische Idee.

Und eben dieser Idee folgt der Film erfindungsreich, virtuos die Mittel des Films nutzend. Eines der Mittel sind wiederkehrende Bild- und Erzählmotive: Schauplätze wie die Scheune, der Fluss, das Feld. Oder Fotografien: zunächst die Totenfotografien verstorbener Familienmitglieder, dann das Foto aus der Sofortbildkamera. Immer wieder Kinder, die gestorben sind oder versehrt. Und Mütter, die nicht lachen können. Mit den Motiven legt der Film Fährten, denen die Zuschauer:in folgt, um zu verstehen wie die Zeiten und die einzelnen Szenen zusammengehören.

Die Montage (Evelyn Rack) ist assoziativ, sie springt zwischen den Zeiten, folgt den verschiedenen Motiven und entwickelt dabei eine Spannungsdramaturgie, die im letzten Teil des Films zu ihrem Höhepunkt findet: Einige Geheimnisse der Familie, das Schicksal einzelner Kinder, die zuvor in Redewendungen (wie der vom s.g. „Arbeitsunfall“) oder in Traum- und Erinnerungssequenzen (etwa das Mädchen unter Wasser) angedeutet wurden, werden nun ins Bild gesetzt. Die Selbstmorde Lenkas und Erikas, das Verschwinden Angelikas und die Ursachen (Gewalt, auch sexuelle Gewalt) werden erzählt. Die historischen Umstände (Armut auf dem Land, patriarchale Verhältnisse, Beginn des Ersten, Ende des Zweiten Weltkriegs, DDR-Zeit) werden greifbar. Aber es bleiben auch Lücken. Ungeklärt bleibt zum Beispiel, woran der kleine Junge starb, von dem die Mädchen erinnern, dass ihm eine Fliege in den Mund geflogen ist. Oder was mit Erikas Schwester passierte, als die Russen kamen.

Noch lückenhafter bleibt das Wissen der weiblichen Hauptfiguren. Ihre Perspektive ist die der kindlichen Mädchen, die noch ohne Vorwissen sind, der weiblichen Jugendlichen, mit dem Erwachsenwerden konfrontiert. Sie sehen und hören Dinge, die sie nicht ganz verstehen, die mit Tod, Gewalt oder Sexualität zu tun haben, mit dem, worüber man nicht spricht oder wofür es in der Familie Anekdoten gibt, die die Wahrheit eher verbergen als sie zu erklären. Mit heimlichen Blicken, Spielen und Streichen, mit Nachahmung erkunden sie, was sie umgibt. Die Hauptdarstellerinnen und das gesamte junge Ensemble spielen so eindrücklich, dass man sich beim Zuschauen genau in das Gefühl zurückversetzen kann, als man noch alles, das Schöne und das Schreckliche, das erste Mal und mit allen Sinnen erlebte. Aus dem Off hört man die Stimmen der Mädchen, die zu deuten versuchen, was um sie herum geschieht. Dabei sprechen sie im Präteritum, im Modus des Erinnerns.

Und auch die Bildebene changiert zwischen Gegenwart (Film erzeugt immer Gegenwärtigkeit) und Erinnerung, Vision, Tagtraum. Die Kamera (Fabian Gamper) hat für diesen besonderen Erzählmodus eine ganz eigene Licht- und Farbqualität entwickelt. Zudem hat sie Bilder komponiert, die so wirken, als hätten sie sich jemandem tief eingeprägt, so dass sie erinnert werden können und sogar imstande sind, in Träumen und Visionen nachfolgender Generationen wiederzukehren, die Nachgeborenen gleichsam zu verfolgen.

 

Image
Filmstill aus IN DIE SONNE SCHAUEN, Regie: Mascha Schilinski, D 2025 © Studio Zentral

 

Schließlich interpretiert auch das Sounddesign (Billie Mind) die Verbindung der Zeiten. Es mischt Naturgeräusche wie Wasserrauschen und Grillenzirpen mit elektronischen Klängen. Ein überzeitlich und zugleich sinnlich wirkender Klangraum entsteht, der im englischen Filmtitel mit „Sound of Falling“ umschrieben ist und wohl so etwas wie die Soundqualität von (inter)subjektiver Erinnerung meint.

Obwohl IN DIE SONNE SCHAUEN von deutscher Geschichte handelt, ist er offensichtlich dennoch kein Film, der primär die Kaiser- NS- und DDR-Zeit darstellt. Wovon der Film erzählt, lässt sich vielmehr auf Fragen beziehen, die Gegenstand der Forschung in ganz unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen sind. Man denke an die Geschichtswissenschaft, die sich z.B. mit dem Familien- und Generationengedächtnis und mit individuellen, subjektiven Erfahrungen (Stichwort Erfahrungsgeschichte) befasst. Oder an die Psychologie und deren Forschung zu Trauma und transgenerationaler Weitergabe. Das relativ neue Feld der Epigenetik, die von einer quasi-genetischen Weitergabe von Erfahrungen ausgeht, ließe sich ebenfalls anführen. Die Kulturwissenschaften wiederum haben das Konzept des Körpergedächtnisses entwickelt. Während die Psychologie mit ihrem Konzept des sozialen Lernens und des Nachahmungslernens wieder andere Ansätze liefert.

Ebenso umfangreich, wenn nicht noch umfangreicher sind die künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Thema Erinnerung und Generationenzusammenhang in Film und Literatur. Sie reichen von den klassischen Generationenromanen des 19. und 20. Jahrhunderts bis zu der unüberschaubaren Zahl an aktuellen Dokumentarfilmen, in denen Regisseur:innen die Geschichte der eigenen Familie recherchieren und vor dem Hintergrund der Ereignisse des 20. Jahrhunderts erzählen.

Warum IN DIE SONNE SCHAUEN gerade eine so große Aufmerksamkeit und breite Rezeption erfährt, hat möglicherweise damit zu tun, dass der Film genau dieses so breit interessierende Thema aufgreift, es aber anders behandelt als zum Beispiel viele der aktuellen Filme es tun. Zunächst einmal, weil er von der Provinz, einem Hof auf dem Land erzählt. Alltagsgeschichte (Mundart: Plattdeutsch, Missernten, die Schicksalsgemeinschaft eines Hofes) steht hier im Zentrum, nicht bedeutende Figuren und Ereignisse der großen Geschichte. Dann aber auch, weil er den Fokus auf das Erinnern selbst legt.

Während der klassische Generationenroman mithilfe des allwissenden Erzählers die Vergangenheit scheinbar vollständig und voraussetzungslos darstellt, gehen viele aktuellen Filme zwar von den subjektiven Fragen und Erinnerungen der Regisseur:innen aus und reflektieren dann die Verfahren ihrer Recherche, die Quellen, aus denen sie die Geschichte rekonstruieren. Aus dem Puzzle der Fundstücke und Interviews ergibt sich jedoch wieder ein oft vollständiges und objektiviertes Bild der Vergangenheit.

IN DIE SONNE SCHAUEN entwirft dagegen ein Bild für das subjektive Erinnern. Das Erinnern, das lückenhaft bleibt und mit Bildern, Tönen und anderen Sinneswahrnehmungen verbunden ist. Ein Bild für die Art von Zugang zur Generationengeschichte, den wir für gewöhnlich haben, wenn wir keine Ahnengeschichte betreiben, sondern mit Fragmenten, ein paar Fotos und Briefen auskommen und die Ursachen der eigenen Gefühle und Körperempfindungen im Helldunkel einer immer nur unvollständigen Selbstaufklärung bleiben. IN DIE SONNE SCHAUEN erfindet so seine eigene, filmische Idee von Erinnerung und Generationenzusammenhang, an die das Publikum, unmittelbar anknüpfen kann.

 

In die Sonne schauen

Regie: Mascha Schilinski
Deutschland 2025
149‘

 

 

 

von

zurück

Zitation

Ilka Brombach, Ein Jahrhundert in Körpern und Gefühlen . IN DIE SONNE SCHAUEN von Mascha Schilinski , in: Zeitgeschichte-online, , URL: https://www.zeitgeschichte-online.de/ein-jahrhundert-koerpern-und-gefuehlen